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Die Schlacht von Verdun
Von Mythos und Realität

Die Kämpfe von Verdun zwischen deutschen und französischen Truppen gingen als erste große Materialschlacht in die Geschichte ein. Zum 100. Jahrestag des Beginns veröffentlicht der amerikanische Historiker Paul Jankowski eine Analyse - er ging der Frage nach, was von den Erzählungen über Verdun Realität und was Mythos ist.

Von Michael Kuhlmann | 22.02.2016
    Französische Infanterie auf dem Schlachtfeld von Verdun im 1. Weltkrieg (1914-1918).
    Französische Infanterie auf dem Schlachtfeld von Verdun im 1. Weltkrieg. (picture alliance / AFP)
    Der 21. Februar 1916 begann mit dem bis dahin größten Feuerschlag aller Zeiten. 1.200 deutsche Geschütze belegten die französischen Stellungen mit Trommelfeuer, zehn Stunden lang. Dann kam die Infanterie und überrollte das, was noch übrig war. Am Abend hatte die 5. Armee soviel Gelände gewonnen wie lange nicht mehr. Die französischen Truppen waren schwer getroffen; und so schien das deutsche Kalkül aufzugehen, wie es Erich von Falkenhayn, der Oberbefehlshaber des kaiserlichen Heeres, erdacht hatte. Dieser General allerdings hatte einen besonderen Plan, erklärt Paul Jankowski:
    "Falkenhayn betonte nachdrücklich, dass sie nur im Westen siegen könnten, aber nicht durch eine große Durchbruchsschlacht. Sie würden Verdun mit vergleichsweise bescheidenen Kräften angreifen. Die Hauptsache sei, die Franzosen zu der Ansicht zu zwingen, dass ihnen hier ein schwerer Schlag drohe. Sie würden andere Teile der Front schwächen, um Verdun zu verteidigen. Und dann wäre der Zeitpunkt für einen eigenen Angriff. Verdun war eine vorbereitende Operation."
    Aber Falkenhayns Gegenspieler waren kühle Strategen: die Generäle Philippe Pétain und Joseph Joffre. Sie durchschauten die deutsche Taktik und verlegten nun nur so viele Truppen nach Verdun wie nötig. Schon am zweiten Tag konnten sie die Deutschen aufhalten. "Ils ne passeront pas" – sie werden nicht durchkommen, so lautete die französische Parole.
    "Mit einem gewissen Abstand betrachtet, lässt die kontrollierte Antwort der Franzosen auf eine nüchterne Einschätzung des Gebots der Stunde schließen. Allein die Moral der Nation verlangte bereits, dass sie Verdun hielten. Aber hinter der politischen Notwendigkeit verbarg sich eine stille Strategie der Beharrlichkeit. Sie konnten den Gegner an der Maas binden, während sie gemeinsam mit ihren Verbündeten die Schlacht an der Somme vorbereiteten. Ich warte, sagte Pétain einmal, auf Panzer und die Amerikaner."
    Kurze Schilderung der Kämpfe
    Den Verlauf der 300-tägigen Kämpfe schildert Paul Jankowski relativ knapp, sehr viel kürzer, als es etwa Gerd Krumeich und Antoine Prost in ihrem gleichfalls neuen Buch über Verdun tun. Es war die letzte große Schlacht, in der französische Truppen ihren Gegner ohne angloamerikanische Hilfe zurückschlugen.
    Die Truppen von General Joffre hätten damit den entscheidenden Durchbruch verhindert, schrieb die französische Presse – und beförderte so den französischen Mythos von Verdun. Dass Falkenhayn gar nicht hatte durchbrechen wollen, verschwieg sie.
    Der General selbst tischte den Deutschen nach dem Krieg seine Version auf: Es sei ihm von vornherein darum gegangen, Frankreich bei Verdun so lange zu zermürben, bis es nicht länger standhalten könne. Damit trug Falkenhayn wiederum zum deutschen Mythos von Verdun bei.
    Paul Jankowski hingegen konstatiert schlicht den Fehlschlag des Falkenhaynschen Vorbereitungskalküls: Es war ihm nicht gelungen, die Westfront wieder in Bewegung zu versetzen. Deutsche und Franzosen befanden sich damit, so urteilt Jankowski, in einer dreifachen Falle. In einer Offensivfalle, denn die alten Konzepte des Bewegungskrieges aus dem 19. Jahrhundert verfingen in der Materialschlacht nicht mehr. In der Prestigefalle, denn bei Verdun ging es den Generälen bald nurmehr darum, das Gesicht zu wahren. Und in der Zermürbungsfalle, denn der monatelange Stellungskrieg ließ die Männer alle Hoffnung auf einen baldigen Sieg verlieren. So gruben sie sich ein in Unterständen und Bunkern. Die täglichen Leiden dieser Soldaten, sie sind ein weiteres Kernthema des Buches, gestützt vor allem auf umfangreiche Zitate aus der Feldpost. Es waren Männer von 20, 30 Jahren, anfangs vielleicht noch manipuliert von der nationalistischen Propaganda aus Vorkriegszeiten. Aber nach Jankowskis Beobachtung spielten chauvinistische Hassgefühle bei Verdun bald keine wesentliche Rolle mehr.
    "Auf der Skala von Wertschätzung bis zu Abscheu schwebte der Feind bei Verdun irgendwo in der Mitte. Da er mal als Urheber, dann als Opfer des Bösen angesehen wurde, löste er durch seine aufgezwungene Nähe gemischte Gefühle aus. Das Töten nahm ein beispielloses Ausmaß an, war aber in seiner Grausamkeit nicht einzigartig. Die Männer mochten ihren Gegner verwünschen, aber es trieb sie kein Vernichtungswahn an."
    Warum meuterten die Soldaten nicht?
    Warum aber machten die Soldaten das monatelange Massaker mit, ertrugen die immer neuen Todesängste, ohne zu meutern? Aus Heldenpathos wohl nicht. Und auch nicht aus Angst vor Strafen.
    "Kein repressives System hätte von sich aus mehrere Hunderttausend widerspenstige Männer dazu gebracht, Tag für Tag ihr Leben zu riskieren. Und allein das Fehlen einer massenhaften Insubordination bestätigt noch lange nicht die Legende eines erhabenen Selbstopfers. Vor Verdun, an der Somme oder auf dem Chemin des Dames war die Moral schwankend und uneinheitlich, aber sie reichte aus. Zwischen der fröhlichen Bejahung des Kampfes im Leid und dessen scharfer Ablehnung im Zorn lag die riesige Terra Incognita eines mehr oder weniger widerwilligen Mitmachens."
    Eines Mitmachens wohl aus Pflichtgefühl und Gruppendynamik heraus. Erst später gab es Meutereien; diejenige im deutschen Militär 1918 trug dazu bei, dem Krieg ein Ende zu machen.
    Paul Jankowskis Buch über Verdun erzählt von Dingen, die in groben Zügen bekannt sind. Doch es leistet einen Beitrag, den Mythos Verdun zu entzaubern. So schrecklich diese 300 Tage waren – an anderen Orten der Westfront war es nicht weniger schlimm. Verdun ist hundert Jahre her, aber in einer Zeit, in der eine Renaissance des Nationalismus in Europa droht, ist solch ein Buch wichtig wie lange nicht mehr. Denn die Menschen, die einander vor Verdun zu Hunderttausenden abschlachteten, waren keine blutrünstigen Fanatiker, sondern ganz normale Deutsche und Franzosen. Jankowski schließt:
    "Bei Verdun kämpften französische und deutsche Männer und ihre Maschinen nach der Logik und den damaligen Konventionen gegeneinander, ohne einen finsteren Plan oder edelmütige Absicht. Männer, die von Nationalstaaten geprägt worden waren, die eine bis dahin ungeahnte Macht über sie hatten. Die meisten waren weder Chauvinisten noch Pazifisten. Sie waren Handlanger, die ohne sonderliche Begeisterung ihren Job erledigten. Und zwar so gut und so hartnäckig, dass sie ein dauerhaftes Zeugnis für die zerstörerischen Fähigkeiten von zwei der kreativsten nationalen Kulturen der Geschichte hinterließen."
    Buchinfos:
    Paul Jankowski: "Verdun. Die Jahrhundertschlacht", S. Fischer Verlag, Übersetzung: Norbert Juraschitz, 427 Seiten, Preis: 26,99 Euro