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Die Schlafwandler
Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog

Das Buch "Die Schlafwandler" des Australiers Christopher Clark liegt jetzt auch auf Deutsch vor, hat hymnische Besprechungen geerntet, aber auch Widerspruch. Das Deutsche Kaiserreich, so Clark, hat nicht mehr zum Ausbruch des Weltkrieges beigetragen als die anderen vier Großmächte Frankreich, England, Russland und Österreich-Ungarn.

Von Martin Ebel | 01.12.2013
    Ein Porträt des Schriftstellers Christopher Clark. Er trägt einen dunklen Anzug und eine rote Krawatte.
    Christopher Clark´s "The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914" erscheint jetzt auch auf Deutsch. (Picture Alliance / dpa / Arno Burgi)
    Der Historiker, nach Leopold von Rankes berühmter Anweisung, solle erforschen und beschreiben, "wie es eigentlich gewesen"sei. Kein Historiker wird heute bestreiten, genau das anzustreben. Und doch betrachten viele, unbewusst oder bewusst, das Gewesene durch die Brille der eigenen Gegenwart, deuten oder verbiegen die Vergangenheit im Lichte aktueller Interessen. Ganz extrem so war es nach dem Ersten Weltkrieg, als die Schuld der Deutschen explizit im Versailler Vertrag festgehalten wurde und deutsche Historiker alles daran setzten, dies zu widerlegen, während die Historiker der Alliierten das entgegengesetzte Ziel verfolgten. Später beherrschte eine Weile die These das Feld, alle Beteiligten seien in den Krieg "geschlittert", bis sich in den 1960er-Jahren nach der sogenannten Fischer-Kontroverse auch in Deutschland die Position durchsetzte, Hauptverursacher sei der deutsche Militarismus mit seinem Streben nach der Weltmacht gewesen.
    Jetzt steht womöglich ein neuer Paradigmenwechsel an.
    Das Buch "Die Schlafwandler" des Australiers Christopher Clark, der in Cambridge lehrt, hat schon bei Erscheinen der Originalausgabe für Furore gesorgt, jetzt, kurz bevor sich der Kriegsausbruch zum 100. Mal jährt, liegt es auch auf Deutsch vor, hat hymnische Besprechungen geerntet ("Das Buch des Jahres"), aber auch Widerspruch. Denn wenn man wollte, könnte man daraus eine Relativierung der deutschen Kriegsschuld lesen: Das Deutsche Kaiserreich, so Clark, hat nicht mehr zum Ausbruch des Weltkrieges beigetragen als die anderen vier Großmächte Frankreich, England, Russland und Österreich-Ungarn.
    Diese Lesart wäre keine falsche, aber eben eine verkürzte. Denn um Schuldfragen geht es Christopher Clark gerade nicht. Ihn interessiert, welche Kräfte beteiligt waren, ein Ereignis von nie da gewesener Zerstörungskraft zustande zu bringen, mit 20 Millionen Toten, ebenso viel Verwundeten und drei untergegangenen Imperien – und das so kein Beteiligter gewollt hatte. Dafür hat er nicht nur die vorhandene Forschungsliteratur ausgewertet, sondern auch ein schier unüberschaubares Quellenmaterial – ein, wie er betont, dennoch lückenhaftes und vielfach tendenziöses Quellenmaterial. Clark gelingt es, die Jahre vor 1914 gleichsam multiperspektivisch in den Blick zu nehmen. Betrachtet man nämlich nur einen Player, ordnen sich alle Ereignisse nur in Bezug auf dessen Ziele, Interessen und Ängste. Erst die Gegenüberstellung von mindestens fünf Sichtweisen bringt den Betrachter der Wahrheit näher – auch wenn diese Wahrheit ungeheuer kompliziert ist.
    "Julikrise ist das komplexeste Ereignis der heutigen Zeit"
    Der multiperspektivische Zugang ist eine der großen Qualitäten dieses Buches, eine weitere die Fähigkeit, wie eine Kamera mal mit dem Weitwinkelobjektiv das Geschehen zu betrachten, mal ganz nah heranzuzoomen, in die Parlamentssäle und die Hinterzimmer der Macht, in die Intrigenstadel der Kabinette, wo Mehrheiten und Entscheidungen nach manchmal recht unpolitischen Motiven zustande kamen. Je näher der Autor den Beteiligten kommt, desto detaillierter wird das Bild, aber auch desto verwirrender. Clark selbst vergleicht das Spiel der Großmächte mit einem Billardspiel, wo die Bahn jeder Kugel die Lage der anderen beeinflusst. Ein treffender und doch viel zu einfacher Vergleich: Denn hier ist jede Kugel "unrund", keine Bahn berechenbar, da im Innern jeder Kugel antagonistische Kräfte miteinander ringen.
    In jedem Staat gab es Kriegshetzer und Pazifisten im Machtzentrum, kämpften Militärs, Diplomaten, Parlamentarier, Minister und Monarchen um die richtige Politik. Viele Staaten hatten keine konsistente Strategie oder wechselten diese plötzlich. Dabei sandten sie missverständliche oder widersprüchliche Signale nach außen. Auch die öffentliche Meinung war ein Faktor in diesem Kräftespiel, die Massenpresse trat als Akteur erstmals entscheidend in Aktion.
    "Die meisten Konflikte, welche die Welt im Laufe der letzten Jahrzehnte gesehen hat, sind nicht hervorgerufen worden durch fürstliche Ambitionen oder ministerielle Umtriebe, sondern durch leidenschaftliche Erregung der öffentlichen Meinung, die durch Presse und Parlament die Exekutive mit sich fortriss."
    Der deutsche Reichskanzler Bernhard von Bülow, der dies 1909 vor dem deutschen Parlament sagte, unterschlug dabei, dass die genannte Presse oft von der Regierung gefüttert, gelenkt und instrumentalisiert wurde – auch in den Ländern, wo sie mehr oder weniger frei war, war sie ein Instrument der Politik. Selbst Affären konnten die Weltpolitik beeinflussen; der österreichische Generalstabschef Conrad war auf zwanghafte Weise in eine verheiratete Frau verliebt, ein gewichtiges Motiv für seine Kriegstreiberei gegen Serbien:
    "Nur als siegreicher Kriegsheld wäre er, so glaubte Conrad, imstande, die gesellschaftlichen Hindernisse aus dem Weg zu räumen und den Skandal zu überstehen, der mit der Heirat einer prominenten, geschiedenen Frau verbunden war. In einem Brief an Gina fantasierte er von der Rückkehr von einem "Balkankrieg", den Lorbeerkranz des Siegers auf dem Haupt, wie er alle Warnungen in den Wind schlägt und sie zu seiner Frau macht."
    Die Aufmerksamkeit der Franzosen wiederum war noch im Juli 1914, als es schon Spitz auf Knopf stand, viel stärker als vom drohenden Krieg gefesselt vom Prozess gegen Madame Caillaux, die Frau des ehemaligen französischen Ministerpräsidenten, die den Chefredakteur des "Figaro"erschossen hatte, weil dieser ihren Mann durch die Veröffentlichung von Liebesbriefen diskreditieren wollte. Kurz: Kein Detail ist zu gering, um nicht von Christopher Clark in seinem Buch "Die Schlafwandler"auf seine Bedeutung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges geprüft und letztlich für wichtig befunden zu werden.
    So ist es auch mit der ungemein farbigen Galerie von Persönlichkeiten, bei deren Betrachtung man den Eindruck gewinnt, dass, wenn eine einzige gefehlt hätte, die Geschichte anders verlaufen wäre – insofern stellt Clarks Buch die Anwendung des "Schmetterlingseffekts"auf die Geschichtswissenschaft dar. Ein Unternehmen, das zu lähmender Langeweile führen könnte – wenn der Autor nicht ein so brillanter Disponent seines Materials und ein so glänzender Stilist wäre. Wer sich auf die fast 900 Seiten einlässt, der wird über Tage oder Wochen, je nach Lesetempo, in eine Story von ungeheurer Dramatik verwickelt. Natürlich weiss jeder Leser, wie die Geschichte ausgehen wird; aber spannend bleibt sie, weil in Clarks Darstellung bis zuletzt die Möglichkeit eines anderen, eines friedlichen Ausgangs erhalten bleibt. Und das ist kein literarischer Kunstgriff; noch in den letzten Tagen hätte sich dieser Krieg vermeiden lassen.
    Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand
    Die Wochen zwischen dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dem Kriegsausbruch nehmen einen großen Teil der "Schlafwandler"ein, zu Recht, weil sich hier zuspitzte und radikalisierte, was in den Jahren zuvor angelegt war. Aber auch, weil eben auch jetzt noch eine Alternative zum großen Morden bestand. Es hätte nicht dazu kommen müssen.
    Zwar war Europa durch zwei Bündnisse geteilt, die auf eine Konfrontation hinausliefen: Hier die Entente mit England und Frankreich sowie dem verbündeten Russland, dort der Dreibund Deutsches Reich, Österreich-Ungarn und Italien. Es gab aber zwischen England und Russland erheblich größere Interessenkonflikte als zwischen England und Deutschland. Die Aufrüstung der deutschen Flotte, die oft als ein Kriegsgrund genannt wird, war laut Clark nicht so wichtig; England konnte sich seiner bleibenden maritimen Übermacht sicher sein. Viel beunruhigender war für das Empire das aggressive Vorgehen der Russen in Persien und in China, Weltgegenden, die weit von Europa entfernt waren, die aber die Kolonialmächte, als ihre vitalen Interessen ansahen. England hätte also eine andere, an Deutschland angelehnte und gegen Russland gerichtete Außenpolitik betreiben können. Indes beschreibt Clark dezidiert, wie Deutschland mit seiner unablässig wachsenden Wirtschaft als gefährlicher Konkurrent auf dem Kontinent von einer Fraktion im Außenministerium regelrecht inszeniert wurde. Bei Kriegsausbruch hatte diese Fraktion die Übermacht.
    "Die britische Außenpolitik hatte sich – genau wie die amerikanische Außenpolitik des 20. Jahrhunderts – stets auf Szenarien der Bedrohung und Invasion gestützt. Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Ängste vor einer französischen Invasion regelmäßig die politischen Eliten gelähmt; in den neunziger Jahren hatte Russland, dessen Kosakenhorden jeden Moment in Indien und Essex einmarschieren konnten, in der britischen politischen und öffentlichen Vorstellung Frankreich verdrängt. Jetzt war Deutschland an der Reihe."
    Die treibende Kraft dieser Politik war Edward Grey, von 1905 bis 1916 Außenminister des britischen Königreichs. Clark widmet ihm eines seiner hinreißenden Porträts, die, ohne zu menscheln, die Kabinettspolitik jener Jahre anschaulich machen.
    Grey war ein großer Naturliebhaber
    "Grey war ein Außenminister, der kaum etwas über die Welt außerhalb Großbritanniens wusste, niemals großes Interesse an Reisen gezeigt hatte, keine einzige Fremdsprache sprach und sich in Gesellschaft von Ausländern unwohl fühlte. Als junger Mann hatte er kaum Anzeichen für Wissensdurst, politische Ambitionen oder Ehrgeiz gezeigt. Er vertrödelte seine Jahre am Balliol Kollegs in Oxford, wo er den größten Teil seiner Zeit darauf verwendete, Tennis-Champion zu werden, bevor er mit einer Drei in Jura sein Examen machte. Das Fach hatte er gewählt, weil es dem Vernehmen nach einfach war. Als Erwachsener pflegte er stets das Bild eines Mannes, für den Politik eine lästige Pflicht war, nicht eine Berufung. Grey war ein großer Naturliebhaber, Vogelbeobachter und Angler. Um die Jahrhundertwende war er bereits weithin bekannt als Autor eines zur Recht gefeierten Aufsatzes über das Angeln mit Fliegen. Sogar als Außenminister neigte er dazu, seinen Schreibtisch für einen Ausflug aufs Land zu verlassen, und mochte es überhaupt nicht, wenn er früher als absolut notwendig nach London gerufen wurde. Dennoch entwickelte Grey einen starken Machthunger und eine Bereitschaft, konspirative Methoden einzusetzen, um an die Macht zu gelangen und sie zu behalten. Verschwiegenheit und eine Vorliebe für diskrete Machenschaften hinter den Kulissen blieben ein Wahrzeichen seiner Arbeit als Außenminister. Er sorgte dafür, dass sich die britische Politik in erster Linie auf die "deutsche Gefahr"konzentrierte."
    Natürlich waren dann die Schüsse in Sarajevo am 28. Juni 1914 das entscheidende, kriegsauslösende Ereignis. Aber selbst sie waren vermeidbar; die serbische Regierung wusste, dass sich eine Gruppe von Attentätern über die Grenze nach Bosnien-Herzegowina aufgemacht hatte, sie hatte auch eine Warnung nach Wien geschickt, aber so vage, dass sie keine Reaktionen auslöste (wäre sie konkreter gewesen, hätte sich die Regierung als Mitwisser kompromittiert). Aber das Attentat war nur das letzte Element einer fatalen Folge von Ereignissen, Missverständnissen, Fehlern und aktiver Kriegstreiberei. Deshalb beginnt Christopher Clark seine "Schlafwandler"mit einem anderen Attentat: Am 11. Juni 1903 stürzte eine Gruppe Offiziere den unbeliebten serbischen König Alexander. Es war mehr als ein Putsch, es war ein Massaker. Der König und seine Königin hatten sich in einer Geheimkammer hinter dem Schlafzimmer versteckt, kamen aber, als der dazu gezwungene Adjutant Petrovic ihn rief, heraus, nachdem er sich des Ehrenworts der Offiziere versichert hatte.
    "Der König erschien, vor Angst zitternd, die Brille auf der Nase und notdürftig mit dem roten Hemd bekleidet, in seinen Armen die Königin. Das Paar wurde in einem Kugelhagel aus nächster Nähe niedergeschossen. Petrovic, der einen versteckten Revolver in einem aussichtslosen Versuch zog, seinen Herrn zu schützen, wurde ebenfalls getötet. Es folgte eine Orgie sinnloser Gewalt. Die Leichen wurden, laut der späteren Aussage des traumatisierten italienischen Barbiers des Königs, dem man den Befehl erteilte, die Körper abzuholen und sie für das Begräbnis einzukleiden, mit Säbeln zerstochen, mit einem Bajonett aufgerissen, teilweise ausgenommen und mit einer Axt zerhackt, bis sie zur Unkenntlichkeit verstümmelt waren. Der Leichnam der Königin wurde zum Geländer des Schlafzimmerfensters geschleppt und, so gut wie nackt und völlig blutverschmiert, in den Garten geworfen. "
    Beinahe gab es schon 1913 Krieg
    Unter der neuen Monarchie behielten die Attentäter ihr Netzwerk bei, die Regierung war zu schwach, ihre Aktivitäten zu unterbinden, und das Nebeneinander von offizieller Beschwichtigungspolitik und andauernden Provokationen durch Freischärler war ein Grund für die verschlechterten Beziehungen zu Österreich-Ungarn. Wenn es überhaupt einen Bösewicht gibt, in Clarks Vorweltkriegsszenario, dann ist das Serbien. Dem Leser kommt manches aus unguter Erinnerung an die 1990er-Balkankriege bekannt vor: Das Großmachtstreben ("wo ein Serbe lebt, ist Serbien"), die Missachtung anderer Ethnien bis hin zu Gräueln und Massakern in eroberten Gebieten, der Opfer- und Todeskult, aber auch die ständige Irreführung der Nachbarn. Serbien hatte 1912 mit Bulgarien Krieg gegen die Türkei geführt, 1913 dann mit Bulgarien um die Beute gestritten; dabei waren auch Teile Albaniens besetzt worden, das nach dem Willen der Großmächte ein unabhängiger Staat werden sollte. Weil die Serben ihre Besatzungstruppen nicht abzogen, wäre es beinahe schon 1913 zum Krieg gekommen, erst ein Ultimatum Österreichs zwang die Serben zum Einlenken.
    Aus dieser Erfahrung – die Serben verstehen nur eindeutige Drohungen – resultiert auch das Ultimatum nach dem Attentat am 28. Juni 1914. Österreich verlangte, mit eigenen Beamten an der Untersuchung einer serbischen Beteiligung mitzuwirken (tatsächlich stammten die Waffen aus serbischen Staatsbeständen). Kurz überlegte Serbien, sich den österreichischen Forderungen zu beugen, wurde aber von seinem Verbündeten Russland gedrängt, hart zu bleiben. Russlands eigenes Szenario sah nämlich einen Balkankrieg vor, um seinem eigentlichen Ziel, die Meerengen am Bosporus zu kontrollieren, näherzukommen, ein Ziel, das im Frieden unerreichbar war.
    Und hinter den Kulissen zogen die Franzosen die Fäden. Sie hatten das größte Interesse einer Revision der europäischen Landkarte: Sie wollten Elsass-Lothringen zurück, das sie 1870 verloren hatten. Das war aber nur möglich, wenn man Deutschland in einen Zweifrontenkrieg verwickelte. Dazu hatte Frankreich das Zarenreich infrastrukturell aufgerüstet: mit hohen Krediten und mit Eisenbahntrassen, die einen schnellen Truppentransport an die deutsche Grenze ermöglichten. Im Balkan war ein "Zündmechanismus", wie Clark es nennt, installiert, der dann allerdings ganz Europa zur Explosion brachte. Österreich wollte nur gegen Serbien kämpfen, Russland nur gegen Österreich, Frankreich mit Russland gegen Deutschland – und mit England, das zwar mit Frankreich einen engen Bund geschlossen hatte, aber nur eingreifen würde, wenn Deutschland als Angreifer in Aktion trat (was dann auch geschah). So entstand aus Bündnissen ein Zwangssystem der Mobilmachung und Kriegserklärung, aus dem keiner mehr hinausfand, obwohl es bis zum Schluss möglich gewesen war und vielen Beteiligten auch möglich schien.
    Autor erzählt lehrhafte Vorgeschichte
    Lässt sich aus dieser Vorgeschichte, des Ersten Weltkriegs, die Christopher Clark in seinem Buch "Die Schlafwandler"erzählt, etwas lernen? Ja – nämlich dass jedes Land gut fährt, jedem anderen seine legitimen Interessen zuzugestehen. Also im Grunde jene multiperspektivische Sicht zur Grundlage seines Handelns zu machen, die der Historiker Clark auf die Geschichte anwendet. Österreich-Ungarn etwa galt als todgeweihtes Reich, deshalb stand für die Alliierten gar nicht zur Debatte, dass es überhaupt ein Recht auf Genugtuung hatte. Ein Fehler meint Clark, bei dem das Habsburgerreich überhaupt viel besser wegkommt als im allgemeinen Bewusstsein. Es war wirtschaftlich im Aufschwung, institutionell auf dem Reformweg, und die vielen Völker lebten dort relativ gut, besser jedenfalls als die Minderheiten in Russland und viel besser, als es den Minderheiten in den nach 1918 gebildeten Nationalstaaten erging. Allerdings war es unstreitig ein verkrustetes, schwer manövrierbares Konstrukt mit teilweise absurden Erscheinungen. So schreibt Christopher Clark über die Sitzungen des cisleithanischen Parlaments, also des österreichischen Teils der Doppelmonarchie:
    "Da es in Cisleithanien keine Amtssprache gab, gab es auch keine offizielle Sprache für die Parlamentssitzungen. Deutsch, Tschechisch, Polnisch, Ruthenisch, Kroatisch, Serbisch, Slowenisch, Italienisch, Rumänisch und Russisch waren allesamt zugelassen. Es wurden jedoch keine Dolmetscher zur Verfügung gestellt, und es gab keine Möglichkeit, den Inhalt der Reden, die nicht auf Deutsch gehalten wurden, aufzuzeichnen oder zu überwachen, sofern der fragliche Abgeordnete nicht von sich aus beschloss, dem Parlament eine übersetzte Fassung seiner Rede vorzulegen. Abgeordnete selbst aus den kleinsten Fraktionen konnten so unerwünschte Initiativen blockieren, indem sie lange Reden in einer Sprache hielten, die nur eine Handvoll ihrer Kollegen verstanden. Ob sie tatsächlich auf die Punkte eingingen, die in dem aktuellen Antrag angesprochen wurden, oder einfach lange Gedichte in ihrer eigenen Nationalsprache vortrugen, ließ sich kaum überprüfen."
    Das absurde Theater zog vergnügungssüchtige Wiener und sogar Touristen an, und auch der junge Adolf Hitler saß öfter auf der Besuchergalerie und gab später an, hier seine Abneigung gegen den Parlamentarismus empfangen zu haben. Der Zweite Weltkrieg, den Hitler in gar nicht so ferner Zeit auslösen sollte, war ja nichts anderes als der Versuch, die Ergebnisse des Ersten zu revidieren. Schon deshalb ist die Frage, warum dieser Erste Weltkrieg ausbrach, von mehr als bloß historischem Interesse, und deshalb riskiert Clark auch immer wieder Ausblicke auf jüngere zeithistorische Ereignisse. Nicht zuletzt stellt er heraus, warum heutige Weltkrisen anders verlaufen. 1914 gab es keine funktionierenden internationalen Organisationen, weder UNO noch NATO oder G-20. Außerdem ist heute den Beteiligten eher bewusst, was auf dem Spiel steht. Deshalb ist der Kalte Krieg kalt geblieben, und deshalb hat sich auch die Finanzkrise halbwegs und vorübergehend beherrschen lassen. Die Beteiligten hatten, nach einem Wort des damaligen Finanzministers Steinbrück, "in den Abgrund"geblickt. Das war 1914 anders. Da schlossen die führenden Politiker und Militärs am Ende die Augen und marschierten los. Eben wie Schlafwandler.