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Die schlimmsten Bücher seit Rezensentengedenken

Die Krimi-Kolumne im Büchermarkt: Prügelnde, korrupte Polizisten und verkommene, versoffene Journalisten bei David Peace, der Zukunft des Krimis. Max Bronski besucht München, wo es wirklich ein wenig stinkt. Ganz groß, aber auch gediegen: Arne Dahl aus Norwegen.

Von Andreas Ammer | 18.04.2006
    " Huch! "

    Ja, ja, aufgepasst!

    Die Krimi-Kolumne!

    " ... heute mit den ohne alle Übertreibung schlimmsten Büchern seit Rezensentengedenken, aber auch beschlagen in Theorie und Praxis - oder wie Hamlet es ausdrückt: "

    "... Mord, hat er schon keine Zunge, spricht mit wundervollen Stimmen."

    " Hamlet kannte unseren Rezensenten nicht, der aber kennt ihn und meint: "

    Weiter nach der Erkennungsmelodie.

    " Zum Höhepunkt! Alles hat er abgeräumt. Alle sind sich einig. Deutscher Krimi-Preis, Krimi des Jahres, wochenlang Erster der "Krimiwelt"-Bestenliste, überall der Sieger. Die Krimi-Szene hat einen neuen Star, und er heißt: "

    David Peace. Der beste Krimiautor seit James Ellroy. Oder seit Anbeginn der Zeiten.

    Halt, stopp mit der Ironie! Das ist jetzt ernst.

    " Mit seinem bis an die Ekelgrenze harten Debüt "1974" fegte der Brite David Peace alles hinweg, was bislang in diesem Jahrtausend Krimi hieß. Blut, Sperma und Schläge in einen heißen Wort-Rap gegossen. Peace kennt Objekte nicht als Satzteile, sondern nur als etwas, auf das eingeprügelt werden kann. Nur in Ausnahmefällen braucht Peace mehr als Substantiv und Verb, letzteres nicht unbedingt, aber beides am ehesten böse geflucht. "

    "1977" heißt der zweite Band des "Red Riding Quartetts", der gerade im kleinen und feinen Liebeskind-Verlag erschienen ist und mit dem David Peace in England nicht nur zum Krimi-Star, sondern zu einem der wichtigsten Literaten der Gegenwart wurde.

    " Mit einer geradezu unvorstellbaren Wut und Genauigkeit erzählt David Peace aus dem England der siebziger und frühen achtziger Jahre, als Yorkshire fünf Jahre lang vom gleichnamigen "Ripper" heimgesucht wurde. Einem Lastwagenfahrer, der in diesem Zeitraum insgesamt 13 Prostituierte auf grausamste Weise ermordete und - obwohl gesichtslos - zum Symbol der Verkommenheit einer ganzen Gesellschaft wird. David Peace war damals ein kleiner Junge. Er schreibt darüber: "

    "Ich denke, der einzige wichtige Einfluss für mich war, wann und wo ich aufwuchs. Ich war zehn Jahre alt, als Jayne McDonald am 26. Juni 1977 in Leeds ermordet wurde. Von diesem Tag an, bis der Yorkshire Ripper am Freitag den 2. Januar 1981 festgenommen wurde, war ich besessen davon, den Fall aufzuklären. Ich fürchtete wirklich, dass mein Vater der Ripper sein könnte - der Gedanke, dass er ‚irgendjemandes Ehemann, irgendjemandes Sohn' und vielleicht auch irgendjemandes Vater war."

    ... und weil David Peace dem Leser keine Erlösung lässt, gönnen wir auch unserem Hörer keine

    " "1977", der aktuelle, zweite Band des Peace-Großprojekts, behandelt das nämliche Jahr in der britischen Kleinstadt Wakefield. Die Geschichte hat 2 Ich-Erzähler: einen Polizisten und einen Journalisten. Beide sind mit Leben und Moral am Ende, sind in ihre Obsessionen und ihr verlogenes Leben so verstrickt, dass es noch beim Lesen weh tut. "

    Prügelnde, korrupte Polizisten und verkommene, versoffene Journalisten, die nicht unbedingt überleben werden, sind eigentlich noch die "Guten" in einer Geschichte, die dem Leser keine Hoffnung lässt.

    " In und um die Gestalten, die die Geschichte erzählen, gibt es nur Hass, Hurerei und nie eine Hoffnung. "

    Sie merken - geneigter Hörer - diesmal meint es unser Rezensent ernst mit der Empfehlung des Autors David Peace.

    " Kein Witz, "

    ... keine schlüpfrige Bemerkung stört die Betroffenheit.

    " Zu sehr treffen die Bücher des David Peace mit einer existentiellen Wucht, die man der Literatur im 21. Jahrhundert gar nicht mehr zugetraut hätte. "

    ... und das Schlimmste ist: Alles, was David Peace geschrieben hat, ist die Wahrheit,

    " ... und nichts als die furchtbare Wahrheit. Peace selber schreibt darüber: "

    : " ... um ehrlich zu sein, es wird viel Mist veröffentlicht. Ich will keine Bücher über eingebildete Serienmörder oder großkotzige Drogendealer oder ehemalige Vietnam-Veteranen oder Fernsehbullen lesen. Ich will Literatur, die aus Fakten herausgerissen wurde und die diese Literatur nutzt, um die Wahrheit zu beleuchten."

    " Und weil sich Peace streng an den äußeren Rahmen der wahren Geschichte des Yorkshire Rippers hält, und weil er seine Bücher wirklich "aus den Fakten herausgerissen" hat, liegt es auf der Hand, dass sein Fall "

    - allein darin schon ziemlich singulär in der Krimiwelt -

    " ... im vorliegenden Band "1977" nicht aufgeklärt werden kann, weil der wirkliche Yorkshire Ripper noch 4 Jahre sein Morden fortführen wird. Und es werden noch 2 weitere Bände dieses grauenhaft schönen Roman-Quartetts erscheinen. "

    Herr Rezensent, halten Sie ein, genug der Schlechtigkeit in dieser Welt, schreiten Sie einfach zum höchsten Lob, das in den über 15 Jahren seit Bestehen dieser Kolumne jemals ausgesprochen wurde.

    Ich habe die Zukunft des Krimis gelesen.

    " Mehr! "

    Besser kann Literatur nicht mehr sein.

    Noch mehr!

    Noch nie haben mich zwei Bücher derart verunsichert, gepackt, nicht mehr los gelassen ... und abgestoßen.

    " Dieses seltene Urteilt fällt unser unbestechlicher Rezensent über "1977", den zweiten Band des "Red Riding Quartetts" von David Peace, erschienen im Liebeskind-Verlag. "

    Und für Nachzügler empfiehlt er obendrein den ersten Band des Quartetts "1974", der gerade als Heyne Taschenbuch erschienen ist, aber keine Voraussetzung für die zutiefst verunsichernde Lektüre von "1977" darstellt.

    " Große Literatur, ohne Frage. "


    Ich stehe immer noch ganz unter dem Schock.

    " ... meint unser Rezensent. Und da kann es helfen, sich nicht gleich ins nächste Abenteuer zu stürzen, sondern etwas bei der theoretischen Nachbetrachtung zu verharren. "

    Zwei Bücher bieten sich dazu geradezu an; denn beide enthalten wichtige Hinweise zu David Peace.

    " Zum einen ist da das gerade im NordPark Verlag erschienene "Krimijahrbuch 2006", das neben unzähligen Rezensionen und einigen überaus klugen Artikeln auch jenen wichtigen, autobiographischen Artikel von David Peace enthält, aus dem gerade zweimal zitiert wurde. "

    Zum anderen gibt es das in seinem Faktenwissen unübertreffliche Bändchen "Killer, Krimis, Kommissare" von Jörg von Uthmann, das im Untertitel eine "Kleine Kulturgeschichte des Mordes" verspricht, im Beck-Verlag erschienen und insofern einzigartig ist, als es literarische und reale Morde gleichberechtigt nebeneinander behandelt. So enthält es - neben anderen "großen" Verbrechen - auch das Wichtigste über den wirklichen Yorkshire Ripper.

    " Es beinhaltet aber auch - nur wenige Seiten davon entfernt - die unumstößlichen Regeln, die der Londoner "Detection Club" für das Verfassen von Detektivgeschichten einstmals verzeichnete. "

    " Danach sind im Kriminalroman unter anderem laut Regel 2: "

    "Übernatürliche Kräfte selbstverständlich ausgeschlossen".

    " Was sich ja in einer aufgeklärten Gesellschaft von selbst versteht, aber es darf auch laut Regel 5: "

    "Kein Chinese in der Geschichte vorkommen"

    Noch heute hält sich Peace an diese Regeln.

    " ... weiß unser Rezensent "

    Nur schade, dass unser Rezensent kein Chinese ist.

    " Aber er empfiehlt als theoretisches Rüstzeug für das Jahr "

    ... aktuell das "Krimijahrbuch 2006" aus dem NordPark Verlag und für alle Zeiten das faktenreiche, als Nachschlagewerk fortan unerlässliche "Killer, Krimis, Kommissare" von Jörg von Uthmann, erschienen als Taschenbuch in der Beck'schen Reihe.


    Wie wär's mit was aus der heimischen Produktion?

    " Gerne knallhart, unverblümt, schnell und dreckig? "

    Zum Beispiel "Sister Sox" eines gewissen Max Bronski, das in der einzigen Ecke von München spielt, wo es wirklich ein wenig stinkt ... dort unfern des Schlachthofes, wo auch unser Rezensent einmal wohnte.

    " "Sister Sox" ist die deutsche Fassung all dessen, was bei Peace wirklich, unmittelbar und unerträglich wirkt. Auch hier wird erst geprügelt und dann gesprochen, ins Prostituiertenmilieu abgetaucht und unlauter ermittelt, aber irgendwie ist alles, was bei Peace blutigster Ernst ist, hier ironisches Spiel. Unernst; augenzwinkernd; abgeklärt. "

    Das muss nicht schlecht sein und hat auch einen gewissen vorstädtischen Reiz. Das knallt sogar ein paar Mal richtig, vor allem weil der Autor, jener vermeintliche Max Bronski, sein Buch selbst nicht allzu ernst genommen hat und sich deshalb einige schöne Trash-Effekte einstellen.

    In einem normalen Monat ein grandioses Buch.

    " ... meint unser Rezensent zu "Sister Sox" von Max - so heißt der nie wirklich - Bronski, erschienen bei Kunstmann. Allerdings: "

    Bronski verhält sich zu Peace wie "Der kleine Eisbär" zum "Weißen Hai".

    " Beides hat seine Zeit. "

    Zeit für Musik.

    Noch ein Buch!

    Noch etwas Normales.

    " Gegenüber Peace und Bronski, diesen Extremen der Krimiproduktion, fällt einer der handwerklich perfektesten Krimis des Frühjahrs beinahe bescheiden bieder aus. "

    Dabei ist dem Norweger Arne Dahl mit "Rosenrot", erschienen bei Piper, ebenfalls ein hypnotischer Krimi gelungen, der bei abendlicher Lektüre durchaus ein äußerst unbehagliches Gefühl für die Nacht vermittelt.

    " Dahl setzt auf psychologische Verfeinerung. Seine Serien-Helden Paul Hjelm und Kerstin Holm, dieses eigenartig verklemmte Liebespaar aus zwei eifrigen Kriminal-Kommissaren, das sich nicht zu lieben wagt, muss diesmal gegeneinander ermitteln. "

    " Denn der Fall eines bei einer Razzia von der Polizei erschossenen Schwarzen, lässt nicht nur - wie wir das von den nordischen Krimis her kennen - die Ermittler an der Güte der Weltordnung verzweifeln, "

    ... sondern Kerstin Holm ist plötzlich mit dem größten Trauma ihres Lebens konfrontiert und selbst tief in den Fall verstrickt. Sie muss sozusagen am eigenen Leib ermitteln. Das geht unter die Haut und ist mit Abstand das spannendste der hier vorgestellten Bücher.

    Ganz groß! Aber auch: Gediegen.

    " ... meint unser Rezensent zu "Rosenrot" von Arne Dahl, erschienen im Piper-Verlag, ein Buch, das nur einen Makel hat, "

    ... es gibt ein größeren Krimi in diesem Frühjahr! Wir wiederholen uns.

    Wenn Sie wirklich wissen wollen, wie sehr Ihnen geschriebene Worte an die Nieren gehen können, dann lesen Sie David Peace.

    " Und wenn Sie das nicht tun oder Sie anderer Meinung sein sollten als unser Rezensent, so gilt auch dieses Mal wieder wie von alters her: "

    Besprochene Bücher:
    Max Bronski, Sister Sox, Kunstmann
    Arne Dahl, Rosenrot, Piper
    David Peace, 1977, Liebeskind
    ders., 1974, Heyne Taschenbuch
    Jörg von Uthmann, Killer, Krimis, Kommissare, beck'sche reihe 1695 Krimijahrbuch 2006, NordPark Verlag