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Die schöne Anna

Als Jüdin und Kommunistin reiste Anna Seghers 1933 nach Mexiko aus, wo sie unter anderem ihren bedeutenden Roman "Das siebte Kreuz" schrieb. Nach ihrer Rückkehr 1947 entschied sich die Schriftstellerin bewusst, beim Aufbau in der sowjetischen Besatzungszone mitzuarbeiten. In ihrer Rolle als langjährige Präsidentin des DDR-Schriftstellerverbands versuchte sie jedoch, mäßigend auf die Parteiführung einzuwirken - was ihr den Ruf eintrug, die "schöne Anna" schweige und lächle.

Von Manfred Jäger | 01.06.2008
    Netty Reiling, die Tochter des angesehenen jüdischen Kunsthändlers Isidor Reiling, legte sich ein Pseudonym zu, als sie begann, Prosa zu schreiben. Sie wählte den Namen eines niederländischen Malers und wurde als Anna Seghers zu einer der bedeutendsten Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts.

    Am 19. November 1900 in Mainz geboren, studierte sie nach glücklicher Kindheit in Köln und Heidelberg und promovierte in Kunstgeschichte. Als sie 1928 in Berlin der KPD beitrat, verließ sie die durch Herkunft und Bildungsweg vorgegebene Bahn.

    War es Bescheidenheit oder Vorsicht, dass sie kaum je über sich selbst, ihre Motive und Zerrissenheiten sprechen mochte? Nur in der Erzählung "Der Ausflug der toten Mädchen" imaginiert sie in kunstvoller Rückschau ein verlorenes Idyll:

    "Mich zog es zuerst dichter ans Ufer, damit ich die unbegrenzte sonnige Weite des Landes in mich einatmen konnte (. . .). Je mehr und je länger ich um mich sah, desto freier konnte ich atmen, desto rascher füllte sich mein Herz mit Heiterkeit. Denn fast unmerklich verflüchtigte sich der schwere Druck von Trübsinn, der auf jedem Atemzug gelegen hatte."

    Sie schrieb das 1943/44 im fernen mexikanischen Exil nach einem schweren Autounfall während der Zeit der langwierigen Genesung. Sie hört, dass eine Stimme sie "Netty" ruft. Auf dem Krankenlager hatte sie gehofft, der alte frühe Name könnte das rettende Zauberwort sein. Aber die schmerzlichen Erfahrungen kann sie nicht auslöschen. Die Gespielinnen sind tot, Opfer des Bombenkriegs und des Naziterrors. Manche hatten moralisch versagt und schwere Schuld auf sich geladen.

    1933 war Anna Seghers mit ihrem Mann, dem ungarischen Kommunisten Laszlo Radvanyi, und den beiden Kindern ins französische Exil geflohen, wo sie lange in Marseille festsaß. Davon erzählt der wegen seines kafkaesken Stils hochgerühmte Roman "Transit". Im Frühjahr 1941 gelang der Familie endlich die Überfahrt nach Mexiko, wo "Das siebte Kreuz" entstand, ihr erfolgreichster Roman. Sieben Häftlinge fliehen aus einem KZ, aber nur einer kommt durch. Der Artist Belloni, einer der Gejagten, stürzt von einem Frankfurter Hoteldach in den Tod.

    "Sollte er einen Abstieg versuchen? Sollte er einfach warten? Sinnlos war beides, die Bewegung der Furcht ebenso sinnlos wie die des Muts. Aber er wäre nicht Belloni gewesen, wenn er nicht von den beiden Sinnlosigkeiten die letzte gewählt hätte."

    Anna Seghers schrieb meist über Niederlagen, angefangen bei der Erzählung über den "Aufstand der Fischer von St. Barbara" (1928) bis zu späteren Märtyerchroniken. Die Erfüllung der kommunistischen Verheißung lag in ferner Zukunft. Bis dahin war das Leben "hart und schwer", auch in der DDR, wo sie selbstverständlich leben wollte.

    Über Jahrzehnte, von 1952 bis 1978, versuchte sie als Präsidentin des Schriftstellerverbands, auf die Partei- und Staatsführung mäßigend zu wirken. So polemisierte sie 1961 gegen das Lob der proletarischen Abstammung:

    "Zu Beginn unserer revolutionären Literatur entstand in Deutschland der Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Wir debattierten damals viel über diese Benennung, Worte waren für uns Junge noch nicht so entwertet, wie es heute manchmal der Fall ist durch Inflation oder Deflation, das heißt durch allzu häufigen Gebrauch oder durch Vermeiden oder Misstrauen. Nicht allein die proletarische Herkunft gab den Ausschlag, sondern das revolutionäre Bewusstsein."

    Politisch blieb sie "staatstragend" und enttäuschte so manche Erwartung. In der DDR hieß es ironisch, die "schöne Anna" schweige und lächle. Nur intern trat sie für den verhafteten Freund Walter Janka ein. Am 1. Juni 1983 ist Anna Seghers in Berlin gestorben, ihr Grab liegt auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.