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Die School-Prison-Pipeline in Amerika
Erschreckende Normalisierung der Gewalt

Anna Deavere Smith ist für das US-amerikanische Theater, was Michael Moore für den Dokumentarfilm des Landes ist: eine mahnende Stimme voller Wut und Leidenschaft. Die amerikanische Schauspielerin und Aktivistin rechnet in "Notes from the Field" mit dem institutionellen Rassismus im amerikanischen Bildungs- und Justizvollzugssystems ab.

Von Andreas Robertz | 16.11.2016
    Die US-Schauspielerin, Aktivistin und Professorin Anna Deavere Smith wurde 2012 von Präsident Barack Obama mit der National Humanities Medal ausgezeichnelt.
    Die US-Schauspielerin, Aktivistin und Professorin Anna Deavere Smith (dpa / picture alliance / Ron Sachs)
    Ein vor Schmerzen schreiender junger schwarzer Mann in Hand- und Fußfesseln wird von vier Polizisten in einen Gefangenentransporter gelegt. Als der Wagen zwölf Minuten später beim Polizeirevier ankommt, ist der Mann bewusstlos und hat ein gebrochenes Rückgrat. Er stirbt wenige Tage später. Das Video von Freddy Greys Inhaftierung in Baltimore ging um die Welt. Nun sieht man es wieder auf der großen Videoleinwand hinter der sonst leeren Bühne. Anna Deavere Smith tritt als die Ladenverkäuferin Kevin Moore auf, die das Video damals gemacht hat. Ihr Gesicht ist nun groß auf der Leinwand zu sehen: "Wie viel können wir noch ertragen?", fragt sie aufgewühlt. Im nächsten Moment spricht sie als Reverend Jamal Bryant in Freddy Greys Totenrede von den Rassismus- und Angst-Schubladen, in denen viele Afroamerikaner stecken.
    Normalisierung der Gewalt
    Die aufgeheizte Atmosphäre dient Anna Deavere Smith als Hintergrund für eine ganz andere Debatte: In "Notes from the Field" verkörpert sie 19 verschiedene Zeitzeugen, die sie zu den Themen Schule und Gefängnis interviewt hat: Bildungspolitiker, Gefängnisinsassen, Mütter, Schüler, Lehrer und Psychologen. Sie alle zeichnen das verheerende Bild eines schier hoffnungslosen Teufelskreises, in den vor allem die aus Minderheiten stammenden Schüler hineingeboren werden: die sogenannnte "School-Prison-Pipeline Amerikas".
    Schüler, die aus schwierigen und oft verarmten Familien stammen – 30 Prozent von ihnen wachsen auf, während mindestens ein Elternteil im Gefängnis sitzt – werden wegen schlechten Benehmens oder auffälligem Verhalten vom Unterricht ausgeschlossenen und enden dann später unweigerlich in Jugendvollzugsanstalten oder Zuchthäusern. Videos, die das brutale Vorgehen von Sicherheitspersonal gegen Schüler zeigen, erzählen von einer erschreckenden Normalisierung der Gewalt. Zum Beispiel, wie ein Achtjähriger in Handschellen aus der Schule geführt wird, weil er sich geweigert hatte, sein Handy abzugeben.
    Doch Anna Deavere Smith findet auch Beispiele der Hoffnung, zum Beispiel wenn sie als Kongressabgeordneter David Lewis von der Versöhnung mit weißen Polizisten spricht.
    Amerika braucht starke Stimmen
    Anna Deavere Smith ist für das US-amerikanische Theater, was Michael Moore für den Dokumentarfilm des Landes ist: eine mahnende Stimme voller Wut und Leidenschaft. Und Amerika braucht diese Stimmen. Acht Jahre Obama haben weder in der Justiz noch in der Bildungspolitik neue Akzente setzen können und es ist zweifelhaft, ob die Republikaner dafür ein offeneres Ohr haben werden. Besonders für viele Afroamerikaner ist die Situation noch hoffnungsloser geworden. Doch wer keine Hoffnung hat, der geht auch nicht wählen. Das bewies die Wahl in der vergangenen Woche: mit der niedrigsten Wahlbeteiligung seit 35 Jahren.
    "Notes from the Field" ist ein eindrücklicher Aufschrei nach einem grundsätzlichen Wandel zu einer menschlicheren Gesellschaft. Ein bewegtes Publikum zeigt mit Standing Ovation und lauten Rufen, dass es diesen Aufschrei gehört hat.