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Die Schriftsteller und die Proteste

In Parati, einer Küstenstadt 300 Kilometer südlich von Rio de Janeiro, hat jetzt das internationale Literaturfestival Flip stattgefunden. Und auch das wurde von Politik beherrscht. Die Schriftsteller dort blicken oft skeptisch in die Zukunft.

Von Ruthard Stäblein | 09.07.2013
    Brasilien ist ein Land in Bewegung. Die Demonstranten ziehen weiter durch die Straßen, wie hier beunruhigte Rentner in Rio de Janeiro. Die Regierung hat erste Zugeständnisse gemacht, aber ein Referendum wurde verhindert, durch das Grundsätzliches geändert werden könnte.

    Und die Schriftsteller und Intellektuellen des Landes treffen sich in Parati. Luis Ruffato klagt an:

    "Wir stehen an siebter Stelle in der Welt, was den Mord an Frauen betrifft. Wir haben das zweitschlechteste Bildungssystem der Welt. Wir haben ein Gesundheitssystem, das bankrott ist. Die öffentliche Sicherheit ist desaströs: für die Mittelklasse, aber noch schlechter für die Peripherie, die Außenbezirke. Wir sind eines der Länder mit den meisten Millionären in der Welt."

    Luis Ruffato zählt zu den renommiertesten Schriftstellern von Brasilien. Er wird auf der Frankfurter Buchmesse die Eröffnungsrede des diesjährigen Gastlandes halten. Ruffatos Biografie ist aber kein Vorbild für Brasilien. Die Eltern Analphabeten, als Zwölfjähriger ging er schon kellnern, um die Familie mit zu ernähren. Er lernte Mechaniker, dann Journalist, traute sich lange nicht, etwas zu veröffentlichen. Dann aber Bücher, die einschlagen. Wie der Titel "Es waren viele Pferde". Ruffato bleibt aber skeptisch, was den Erfolg der Demonstrationen betrifft. Nicht die aktuelle Regierung ist schuld, sondern die Struktur, die Geschichte von Brasilien:

    "Wir sind eine Gesellschaft, die sich noch im Aufbau befindet, noch neu ist, die aber mit einem Geburtsfehler verhaftet ist. Sie trägt noch immer die Makel der Kolonialzeit. Bei der Entdeckung von Brasilien gab es fünf Millionen Indianer, heute sind es nur noch 600.000. Als die Sklaven aus Schwarzafrika hierher gebracht wurden, sind ungefähr fünf Millionen hierhergekommen, dabei sind schon beim Transport 800.000 umgekommen."

    Über diesen Geburtsfehler aber wollen selbst die Demonstranten nicht diskutieren, findet Ruffato. Sie kratzen nur an der Oberfläche.

    "Wir haben in Brasilien eine extrem ungerechte Gesellschaft. Wir leben mit einer Rassentrennung. Es gibt Indianer und Schwarze. Es gibt eine Elite in der Gesellschaft ohne jegliche Verantwortung für das Land, in dem sie leben und aus dem sie ihren Reichtum ziehen."

    Auch der Schriftsteller Paulo Scott kümmert sich wie Ruffato in seinen Büchern um die Schattenseite des reichen Brasiliens. In seinem Roman "Unwirkliche Bewohner" ist die Heldin eine Indianerin aus der Ethnie der Guarini. In Parati sitzen Indianer dieser fast ausgestorbenen Guarini zusammengekauert am Rand der Straße und bieten Flechtwerk an. Paulo Scott erhält bei den Diskussionen in Parati viel Beifall für sein Urteil:

    "Die Brasilianer arbeiten wie Sklaven und werden zu gering bezahlt, um genug für Ernährung und Kleidung zu sorgen. Sie leben unter miserablen Bedingungen, haben zu wenig Aussichten im Bildungssystem. Wir studieren, aber wir lernen nichts. In einigen Regionen von Brasilien ist es zwar wichtig, eine höhere Schulbildung formell vorzuweisen, aber wir lernen nicht richtig. Es ist einfach, ein Volk zu regieren, das zwar Bildung formal als wichtig erachtet, aber nicht lernt, die richtigen Fragen zu stellen."

    Die viel beschworene Dynamik von Brasilien stottert, findet Paulo Scott. Das brasilianische Volk glaubt nicht mehr an das Wunder des Wirtschaftswachstums. Und selbst vom Wunder des brasilianischen Fußballs lässt sich Paulo Scott nicht beeindrucken:

    "Die Äußerung des Fußballers Ronaldinho, dass man eine WM nicht mit Krankenhäusern bestreitet, sondern mit Stadien, zeigt doch, dass das Gesundheitssystem nicht ernst genommen wird. Sicher, Brasilien braucht diese internationale Herausforderung durch die WM und durch die Olympischen Spiele, aber durch diesen Einsatz von Geldern wird das Problem zu Hause nicht gelöst. Die einzelnen gesellschaftlichen Einrichtungen sind noch nicht stark genug ausgebaut. Wir haben zwar mache Einrichtungen, aber wir haben noch keine wirkliche Emanzipation Brasiliens."

    Deshalb schaut Paulo Scott trotzdem Fußball. Auch Luis Ruffato ist ein Fußballfan, wie fast alle in diesem fußballbegeisterten Land. Und dennoch:

    "Das Endspiel zwischen Brasilien und Spanien im Maracana bietet das beste Beispiel, um Brasilien zu verstehen: Oben auf den Rängen sitzen die Weißen und Reichen. Und unten auf dem Feld spielen die Schwarzen. Die Schwarzen und Armen schwitzen, um für die Weißen und Reichen ein Spektakel zu liefern."

    Nur, die Spieler gehören doch heute zu den Reichen.

    "Sobald sie viel verdienen, sind sie keine Schwarzen mehr. Die beste Definition hat der Soziologe Ronaldinho Gauscho gegeben. Er hat auf die Frage, ob es in Brasilien Rassismus gibt, genial geantwortet: Wenn du kein Geld hast, dann leidest du sehr unter dem Rassismus, da war ich Neger."