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Die Schriftstellerin Anne-Laure Bondoux
Suchende zwischen Realität und Traum, Lüge und Wahrheit

Ob im Wilden Westen, im Kaukasus der frühen 90er-Jahre oder im modernen Märchen über die Liebe: Was die Jugendbuch-Autorin Anne-Laure Bondoux interessiert, ist die Suche der Heranwachsenden nach Identität. Obwohl reichlich Tränen fließen, sind ihre Geschichten nie kitschig.

Von Maria Riederer | 15.07.2017
    Die französische Autorin Anne-Laure Bondoux posiert am 14.03.2014 im Rahmen des Literaturfestivals lit.Cologne in Köln, wo sie aus ihrem Buch "Der Mörder weinte" in der Reihe Lit.Kid.Cologne las.
    "Modeerscheinungen in der Jugendliteratur kümmern mich wenig", sagt die Schriftstellerin Anne-Laure Bondoux (dpa / Rolf Vennenbernd)
    Anne-Laure Bondoux' lebhaftes Temperament füllt den kühlen Konferenzraum ihres Kölner Hotels sofort mit Wärme und Gelächter. Die 1971 geborene, französische Jugendbuchautorin ist in Deutschland schon lange bekannt und ihre Bücher wurden vielfach ausgezeichnet. Auf die Frage, warum wohl fast alle ihre Jugendromane ins Deutsche übersetzt worden sind, antwortet sie lakonisch.
    "Ja - warum? Wahrscheinlich, weil meine Bücher gut sind (lacht) Oder vielleicht sind sie auch einfach nur universell. Das hoffe ich jedenfalls: Sie berühren Dinge, die allgemeingültig sind. Oft haben meine Protagonisten große, existenzielle Fragen. Sie vollziehen eine metaphysische Suche: Was machen wir hier? Wofür ist unser Leben auf der Erde gut? Was ist wichtig? Und das ist berührt eben alle, die sich ähnlich Gedanken machen.
    "In 'Mein erstes Baby' steht, dass Babys kein Gefühl für die Endlichkeit der Dinge haben. Jede Sekunde ihres kurzen Lebens bedeutet für sie die Ewigkeit. Wenn ein Baby seine Mutter sieht, ist es für immer mit ihr vereint. Wenn es sie nicht sieht, ist es für immer allein. Der absolute Wahnsinn!
    Heute kommt es mir so vor, als wäre ich wieder ein Baby. Als Sander mich geküsst hat, habe ich an die Ewigkeit geglaubt. Auch wenn es blöd klingt, ich habe es wirklich so empfunden. Deshalb schien es mir unerträglich, als sich seine Lippen von meinen lösten." (Anne-Laure Bondoux: "Das Glück ist nicht immer gerecht", dtv Junior, S. 76)
    Ungemein mitreißend und zum Verzweifeln komisch
    Mado hat allen Grund, sich - selbst im Moment einer schwerelosen Sommerferienliebe - mit den Fragen nach Zeit und Ewigkeit zu beschäftigen. Sie ist 15 Jahre alt, ihre Eltern sind seit einem knappen Jahr tot, sie lebt mit ihrer flippigen, zwanzigjährigen Schwester Patty zusammen, die in wenigen Wochen ein gänzlich unerwünschtes Kind heimlich zur Welt bringen will.
    Das Buch ist ungemein mitreißend geschrieben und zum Verzweifeln komisch. So erzählt Anne-Laure Bondoux in "Das Glück ist nicht immer gerecht" - und auch in ihren anderen Büchern - die Lebensreise ihrer Helden: Oft am Rand des Abgrundes, getragen von einer großen inneren Kraft, nie kitschig, obwohl reichlich Tränen fließen. Die Protagonisten sind Suchende zwischen Realität und Traum, Lüge und Wahrheit. Anne-Laure Bondouxs Fundus an Szenarien scheint unerschöpflich. Mal führt sie ihre Leser in den Kaukasus der frühen 90er Jahre, mal in den Wilden Westen, mal in ein modernes Märchen über die Liebe inmitten wirtschaftlicher Krisen. Dann wieder finden sich die Leser im Paris der Gegenwart.
    "Nach einem oder zwei Jahren hab' ich dann auch Lust auf einen Luftwechsel"
    "Ich begebe mich sehr gerne vom Universum eines Romans in das eines anderen. Ich brauche ungefähr ein Jahr, manchmal sogar zwei, um einen Roman zu schreiben. Das ist ziemlich lang. Und nach einem oder zwei Jahren hab' ich dann auch Lust auf einen Luftwechsel, wenn man so will. Wenn ich sehr viel Zeit im Wilden Westen verbracht habe, so wie in Bella Rossa, habe ich Lust, wieder etwas Zeitgenössisches zu schreiben. Und umgekehrt: Wenn ich eine Geschichte erzähle, die heute spielt, mit sehr alltäglichen Figuren, dann wünsche ich mir vielleicht, als nächstes auf den Mond zu fliegen. Es ist aber auch eine Herausforderung für mich, immer wieder meine Stimme zu finden, meinen Schreibstil, innerhalb der ganz neuen Umstände."
    "Wir gehen durch Dörfer mit schlammigen Straßen, gesäumt von Telefonmasten, deren abgerissene Kabel sich im Wind wiegen wie Gehängte. An überschwemmten Wiesen entlang, über Straßen, die nirgendwohin führen, und durch weite Ebenen, wo nichts wächst. Die Menschen, denen wir begegnen, haben abgemagerte Hunde und feindselige Gesichter. Sie verriegeln ihre Türen, wenn sie uns erblicken. Wissen sie, dass wir aus der 'Gefahrenzone' von Souma-Soula kommen? Sieht man uns das an? 'Achte nicht darauf', rät mir Gloria. 'Geh einfach vorbei, als wärst du ein Geist.'" (Anne-Laure Bondoux: "Zeit der Wunder", Carlsen, S. 72)
    "Modeerscheinungen in der Jugendliteratur kümmern mich wenig"
    Autorin Gloria und ihr Schützling Koumaïl sind die Protagonisten in Anne-Laure Bondouxs' in Deutschland erfolgreichstem Titel "Die Zeit der Wunder", einem Roman über eine lange Odyssee nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Sie erhielt dafür den Gustav-Heinemann-Friedenspreis, den Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis und wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Das Setting - eine Flucht aus dem Kaukasus - war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, im Jahr 2009, nicht gerade in Mode.
    "Modeerscheinungen in der Jugendliteratur kümmern mich wenig, obwohl sie bei den Jugendlichen ja eine riesige Rolle spielen. Da gab es die Mode der Vampirbücher, die Mode der Zauberer wie Harry Potter, und da bin ich natürlich außen vor. Meine Stoffe fügen sich nicht so leicht in vertraute Muster ein."
    Was sie interessiert, ist die Suche der Heranwachsenden nach Identität - egal in welchem Land, zu welcher Zeit oder in welcher sozialen Schicht.
    Wie setzt sich die eigene Identität zusammen?
    " Diese Mythologie, die wir uns alle in unserer Kindheit zusammenbauen, wenn wir fragen: Wie war das damals, als du Papa getroffen hast oder: Wie war ich, als ich klein war? Da entstehen Geschichten. Und dann die Konfrontation mit der Wahrheit - das interessiert mich: Wie sich die eigene Identität aus halb wahren Geschichten und der - wie man sagt - reinen Wahrheit zusammensetzt. Die reine Wahrheit."
    "Ornellas Blick flackerte im Schein der Lampe. Sie sah ihre Tochter an, diese Frau, die gleichzeitig so schön und so hart war und empfand ein Staunen, das an Bewunderung grenzte. Sie erinnerte sich an das kleine, wilde Mädchen mit den roten Haaren, das sie vor langer Zeit verlassen hatte. Fünfzehn Jahre hatte sie sich mit dem Gedanken gequält, ihre Tochter könnte tot sein. Dabei war genau das Gegenteil der Fall. 'Es ist ein Wunder', stellte sie mit tränenerstickter Stimme fest. 'Ab und zu braucht man 'n Wunder.' Bella Rossa seufzte. 'Sonst wär das Leben nur 'n Haufen Dreck.'" (Anne-Laure Bondoux: "Bella Rossas anderes Glück", Carlsen, S. 317)
    Liebe zum Detail
    Wer Anne-Laure Bondouxs Bücher liest, wird ihre Liebe zum Detail kennenlernen, ihre Kenntnis über fremde Länder und historische Ereignisse und ihre Lust an tiefen Emotionen. Bondoux beschreibt sich selbst als eine Heranwachsende voller Zorn und Liebe, Verzweiflung und Stolz. Emotionen, die sie schon früh in Gedichten und kurzen Geschichten niederschrieb.
    "Mit 17 Jahren habe ich das erste Mal etwas veröffentlicht, aber geschrieben habe ich auch schon vorher. Also, ich schreibe praktisch seit 30 Jahren. Nach meinem Studium habe ich als Journalistin und Lektorin für junge Leser gearbeitet. Vom Verlag Bayard bekam ich den Auftrag, eine Zeitschrift für Kinder zu schaffen, die nicht gerne lesen. Man wollte ihnen spannende Geschichten anbieten, die einen mitreißenden Erzählrhythmus hatten, um ihnen das Lesen schmackhaft zu machen - und das in einem Alter, in dem besonders die Jungs lieber Videospiele machen oder Fußball spielen."
    Sich in die Welt der Kinder und Jugendlichen hineinzuarbeiten, fiel der Autorin nicht schwer. Sie selbst hat eine Kindheit voller Geschichten erlebt.
    "Meine Eltern waren glücklicherweise große Leser, die liebend gerne Geschichten erzählt haben: Märchen, Gedichte, Sagen und Legenden - beide haben das geliebt. Und sie haben uns beiden - meiner Schwester und mir - sehr viel vorgelesen. Meine Schwester ist Märchenerzählerin geworden und ich Schriftstellerin."
    Bondoux' Geschichten verkaufen sich gut
    Die Bücher von Anne-Laure Bondoux verkaufen sich gut, die jungen Leser lassen sich gerne von ihren Geschichten mitreißen. Wenn die Autorin in Deutschland vor einer Schulklasse steht, sind ihre Bücher den Schülern trotzdem meist unbekannt. Anders als in Frankreich sind die Schüler hierzulande kaum auf Lesungen vorbereitet, und jeder Auftritt ist eine Überraschung. Sie nimmt es gelassen.
    "Lesungen laufen in Deutschland tatsächlich anders ab als in Frankreich. Dort wird verlangt, dass die Schüler das Buch ganz gelesen haben. Dann kann man richtig eintauchen, die jungen Leser können mir ganz präzise Fragen stellen: Warum sagt oder tut diese Person in jenem Kapitel dies und das? Das ist dann doch eine ganz andere Art von Zusammentreffen. Aber auch die deutschen Schüler haben sich spontan zu Wort gemeldet, haben gefragt, wo ich schreibe, ob ich beim Schreiben einer Geschichte das Ende schon kenne oder erst beim Schreiben erfinde. Ob alles erfunden ist oder auch Autobiografisches dabei ist. Das alles haben sie mich gefragt, und das war auch sehr schön."
    Anne-Laure Bondoux: "Das Glück ist nicht immer gerecht", Roman, ab 14 Jahren, dtv Junior, 240 Seiten, 9,95 Euro

    Anne-Laure Bondoux: "Zeit der Wunder", Roman, ab 12 Jahren, Carlsen, 192 Seiten, 12,90 Euro

    Anne-Laure Bondoux: "Bella Rossas anderes Glück", Roman, ab 14 Jahren, Carlsen, 336 Seiten, 17,99 Euro