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Die Sicht der Nazis

In Deutschland traut die Literaturkritik dem jüngsten französischen Erfolgsroman "Die Wohlgesinnten" von Jonathan Littell nicht so ganz. Als "monströses Werk" über die Verbrechenskarriere eines SS-Mannes im nationalsozialistischen Vernichtungszugs durch die Welt wurde es bezeichnet. Im Berliner Ensemble hatte der Autor seinen ersten und einzigen öffentlichen Auftritt in Deutschland.

Von Arno Orzessek | 29.02.2008
    "Ihr Menschenbrüder, lasst mich euch erzählen, wie es gewesen ist. Wir sind nicht deine Brüder, werdet ihr antworten, und wir wollen es gar nicht wissen. Gewiss, die Geschichte ist düster, aber auch erbaulich, sie ist eine wahrhaft moralische Erzählung, glaubt mir."

    Zu Beginn trägt der Schauspieler Christian Berkel die ersten, womöglich besten Seiten aus "Die Wohlgesinnten" vor, dem Roman, den der Buchenwald-Überlebende Jorge Semprun auf der roten Einband-Binde als "das Ereignis unserer Jahrhunderthälfte" feiert.

    Sodann Auftritt Jonathan Littell, sekundiert von Daniel Cohn-Bendit. Und sofort eine rhetorische Ausweichbewegung.

    "Bonsoir - 'Guten Abend' - Mesdames et Messieurs - 'Meine Damen und Herren. Wir sprachen gerade über Afghanistan, Tschetschenien dort hinten. Und er fragte mich, ob wir nicht darüber sprechen könnten, das sei interessanter.' - D'accord."

    Es ist, als wollte Cohn-Bendit überzogene Erwartungen abwehren, die man tatsächlich hegen könnte, wenn der Erfinder des Übernazis Dr. Max Aue in die ehemalige Reichshauptstadt reist, in dessen Zoo das 1400-Seiten-Epos 1945 endet.

    Der dürre Jonathan Littell erfüllt einige genieästhetische Klischees, die man mit der Performance deutscher Popliteraten der 90er Jahre verbindet: Exquisiter Anzug über heroisch ausgeklapptem, weißem Hemdkragen; tief inhalierter, kraftvoll ausgestoßener Zigarettenqualm; am Mund ein Glas, dessen goldener Inhalt eher Whisky als Apfelsaft sein dürfte.

    Und nonchalante Auskünfte, inhaltlich diplomatisch, distanziert im Ton, latent gelangweilt auch noch dann, als Cohn-Bendit die oft abfällige Kritik des hiesigen Feuilletons bündelt.

    "'Die Deuteschen sehen nicht immer mit freundlichen Augen, wenn ein anglo-amerikanischer Eindringling kommt und ihnen Geschichten erzählt, die sie selbst besser kennen.'" - [Darauf Littell:] "'Ich denke nicht, das ist der Grund des Problems, die Tiefe, sondern die deutsche Erinnerungsarbeit, die in ständiger Entwicklung ist. Wir habe es mit Günter Grass gesehen, mit dem Untergang davor... Das ist eine Art, über die gleichen Fragen sich zu beugen, nicht so sehr, weil es aus Frankreich kommt."

    Die Barockmusik Bachs und Aischylos' Orestie liefern die Tiefenstrukturen von Die Wohlgesinnten - was dem Autor ermöglicht, leichter Hand weltgeschichtliche Bögen zu schlagen.

    "Da ich denke, dass der Nazismus eine perverse Ableitung aus der deutschen Romantik ist, hat es auch eine innere Logik in diesem Sinne, es ist kein Zufall, wenn der nazistisches Philosoph Deutschlands, Heidegger, sich so tief in die griechische Philosophie eingetaucht hat. Es gibt eine Beziehung zwischen Romantik, Nazismus und Griechentum."

    Schon bevor einige, vielleicht auf Skandalöses hoffende Zuschauer abzuwandern beginnen, wird klar, dass die gedämpfte Veranstaltung geplant oder ungeplant auf Deeskalation hinausläuft. Niemand wird verpflichtet, in dem grellen Roman das ultimative Erweckungserlebnis der deutschen Seele zu sehen - was bewährte Agenda-Setter und Hype-Mogule wie Frank Schirrmacher im Parkett-Publikum vielleicht betrübt.

    In Die Wohlgesinnten äußert sich der homophile Hinrichtungs- und KZ-Tourist Max Aue gern in modisch-abgewichsten Sentenzen - "Und so entschloss ich mich, den Arsch noch voller Sperma, in den Sicherheitsdienst einzutreten". Im Reigen der Exekutionen spritzen Blut, Scheiße und Hirnmasse in Splatter-Movie-Dichte. Der ganze Roman orientiert sich passagenweise an trivialen Erzählformen, die pornografisch reizen oder anekeln.

    Als Cohn-Bendit auf diese Elemente kommt, bietet er die rasche Ausflucht gleich mit an.

    "'Eine kurze Frage an Sie - brauchen sie nicht zu antworten. Als Leser ist es grauenhaft...' - 'Keine Antwort.'"

    Jonathan Littell - das ist sein gutes Recht - hat ersichtlich keine Lust, eine politisch korrekte, ethisch konsistente Gesamtdeutung der exorbitanten Erzählungen Dr. Max Aues zu formulieren. Denn merke:

    "'Wenn man schreibt, denkt man an das Komma, den Konjunktiv, den Imperfekt, nicht die Leiche. Die Leiche ist eine grammatikalische Form, wenn man schreibt [...]. Ich war heute Nachmittag in der Nationalgalerie [...], in Eurer deutschen. Man sieht im 16. Jahrhundert Menschen, die zerstückelt werden, abgeschnittene Brüste, grauenhafte Dinge. Und der Maler, wenn das malt, denkt: Hier brauch ich etwas Grün, da etwas rot [...] Ein Maler arbeitet so und ein Schriftsteller ebenso."

    Am Ende ist es ein ruhiger Abend, an dem sich Fleißarbeiter Jonathan Littell als Artist kaum sichtbar gemacht hat. Aber vielleicht ist das nur konsequent. Die Wohlgesinnten ist ein bemerkenswerter Wurf, aber kein überragendes Kunstwerk.
    Der SS-Intellektuelle Dr. Max Aue leidet an Verstopfung und ist auf Einläufe angewiesen, die er zu Beginn seines Berichts als sehr wirksam anpreist. Man darf Verstopfung und Einlauf auch als Gleichnisse nehmen, in denen sich Aues beunruhigendes Textmonster selbst reflektiert.

    "Ich bereue nichts: Ich habe meine Arbeit getan, mehr nicht."