Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


"Die sind entweder tot oder geflohen"

Kirgisen und Angehörige der usbekischstämmigen Minderheit bekämpfen sich erbittert - in Kirgistan herrscht nach dem Machtwechsel vor zwei Monaten Chaos. "Die humanitäre Lage ist katastrophal" bringt es Andrea Berg auf den Punkt.

14.06.2010
    Gerwald Herter: Vor zwei Monaten hat die neue Regierung in Kirgistan die Macht übernommen. Blutige Unruhen bringen sie immer stärker unter Druck. Schießbefehle und eine Teilmobilmachung des Militärs können in diesem zentralasiatischen Land nicht verhindern, dass Straßenschlachten anhalten, dass immer mehr Menschen sterben. Der deutsche Außenminister, Guido Westerwelle, zeigt sich besorgt, ebenso UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon.

    Ich bin nun mit Andrea Berg telefonisch verbunden. Sie beobachtet die Unruhen für die Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch". Frau Berg, haben sich die Unruhen wenigstens in dieser Nacht gelegt, oder gehen die Ausschreitungen immer noch weiter?

    Andrea Berg: Leider muss ich sagen, dass die Ausschreitungen immer noch weitergehen, und zwar ziehen sie jetzt von einer Stadt zur nächsten. In Osch hat sich die Lage insofern beruhigt, dass fast keine Usbeken mehr in der Stadt übrig sind. Die sind entweder tot oder geflohen. Wir haben jetzt schwere Ausschreitungen in benachbarten Städten, in Basarkorgon und auch in Dschalalabat, und wir befürchten, dass das Ganze auch übergreift auf noch weitere Siedlungen, zum Beispiel Arawan und Usgenn.

    Herter: Zehntausende Menschen sollen geflohen sein nach Usbekistan. Können Sie das bestätigen?

    Berg: Es ist unheimlich schwierig im Moment, Informationen, korrekte Zahlen zu bekommen. Die usbekische Regierung, das usbekische Außenministerium spricht offiziell von 75.000 Flüchtlingen, die bereits nach Usbekistan reingekommen sind. Die kirgisische Interimsregierung spricht derzeit von 6000 Flüchtlingen. Ich selber bin im Kontakt mit Leuten an der Grenze, die von mehreren Tausend Flüchtlingen auf beiden Seiten der Grenze ausgehen. Also es ist irgendwas zwischen Sechs- und 75.000.

    Herter: Wie ist denn die humanitäre Lage? Gehen Lebensmittel zur Neige, gibt es noch Wasser?

    Berg: Die humanitäre Lage ist katastrophal. In der Stadt Osch selbst ist die komplette Infrastruktur zerstört. Das Gas wurde ja schon abgestellt, gleich am Anfang, als die Unruhen ausgebrochen sind, weil so viele Nachbarschaften in Brand gesetzt wurden, um dort quasi weitere Explosionen zu verhindern, und in manchen Stadtteilen gibt es auch keine Elektrizität. Die Geschäfte und Basare wurden alle abgebrannt und geplündert. Das heißt, es gibt dort keinen Nachschub. Und dazu kommt, dass viele Usbeken, die noch überlebt haben, sich nicht aus ihren Häusern raustrauen, weil draußen weiter geschossen wird, oder weil die Nachbarschaften von kirgisischen Gangs belagert werden und sie quasi mit dem auskommen müssen, was im Haus jetzt vorhanden ist.
    An der Grenze gibt es gar nichts. Dorthin haben sich eben die Leute, die Usbeken, geflüchtet und es wird jetzt versucht, dort Waren hinzubringen, aber aufgrund der angespannten Sicherheitslage geht das halt nicht so schnell voran, wie die Hilfe eigentlich benötigt würde.

    Herter: Wir hören, dass Verletzte ausgeflogen werden. Ist das derzeit noch möglich nach Ihren Kenntnissen?

    Berg: Der Flughafen ist offen. Ich bin selber ja gestern mit einem Flugzeug von Osch nach Bischkek geflogen gestern Abend.

    Herter: In die Hauptstadt!

    Berg: In die Hauptstadt Kirgistans, genau. Also es ist sicher möglich. Wenn man es einmal zum Flughafen geschafft hat, ist es sicher möglich, Leute auszufliegen. Das Problem in den letzten Tagen war, dass der Flughafen von der Stadt aus nicht erreichbar war, weil er von Straßensperren blockiert war und das Militär nicht die Lage unter Kontrolle hatte.

    Herter: Frau Berg, meine letzte Frage. Russland hat gestern Fallschirmjäger in Marsch gesetzt. Angeblich geht es nur darum, eine russische Basis zu sichern. Ist das auch Ihr Eindruck?

    Berg: Ja. Was ich so weit gehört habe, ist das auch mein Eindruck, und "Human Rights Watch" plädiert ganz stark dafür, dass jetzt so schnell wie möglich ein UN-Mandat erstellt wird, um hierher zusätzliche internationale entweder Polizei- oder Militärkräfte zu schicken, weil die Regierung, die Übergangsregierung nicht in der Lage ist, das hier unter Kontrolle zu bekommen, und wir einfach befürchten, dass die Totenzahlen noch weiter steigen. Inoffiziell sind die Totenzahlen bereits bei 500 und darüber und ich denke, dass das eher realistisch ist als die Zahl 114, die jetzt im Moment von der Regierung offiziell bestätigt wird.

    Herter: Andrea Berg war das von der Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch". Frau Berg, vielen Dank und alles Gute.

    Berg: Danke schön. Auf Wiederhören!