Freitag, 29. März 2024

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Die Spaltung

Man kann dieses Buch anschauen und man kann es hören, man - laut - versuchen es zu lesen. Jede stille Lektüre aber ist unmöglich. Die Schrift vertreibt den Sinn, sie codiert und notiert den Klang der Worte, malt eine Lautgestalt, die ohne Stimme nur Ruine bleibt. Ihre Konturen sind die Bruchlinien einer deutschen Biographie des 20. Jahrhunderts.

Guido Graf | 13.05.2002
    "Denn sie haben ja noch gar nichts ge-

    Gäßnär Landmann: na sowas seh ich doch, da schteedoch noch alles wie gesdern: der Rätschunnes Broundunch … hap da nochn gleen Rest Subbe die is von Diensdaach also von vorgesdern isdi nochich woldse heidenich schonwidder esn, aber länger waagichmir dienich äaufeebm bei den Wedder, sIs mir grad wie ennsege Widdergibd. Riechnsedochema nein in den Dopfier ob Sie das noch äaufesn woln. Na daasis rechda machichse Ihn glei warm dasse weggis, dassenich säauerwerd (flupp: das Gas). Also heid morgng ich ruufung truuf: nacher habch einfachde Dier äaufgemachd nawwas soldchn machen. Da seech dasser gornichder heimis undes bedde is äauch noch zugedeggd, - Sie sindeidsou schdummaberch weeßes schon, weeß schon was Ihn fähld. Na morgng gommde gans digger. - Sou. Jetze esnse erstemal was. Wenn ich nich immer mal un däde bisl mährgochn, na Sie dädn gladd verhungern: da dädse aber Äauren machen wense gomm dnda liechdernd sja schou souwiesounischt wie Häaudung Gnochn. - Wenn sie kommt, wiederholte Landmann, den Ellbogen auf den Küchentisch gestützt, den Löffel in der gegens Haar gelehnten Hand, trüb, halb verächtlich, aus entzündeten Augen aufsehend: wie sollte sie denn kommen. Wie denn."

    Sie kann nicht kommen. Denn zwischen Lutz Landmann, einem Leipziger Musikstudenten, und seiner Freundin, die im Westen, in Frankfurt am Main lebt, liegt eine Grenze. Diese deutsch-deutsche Grenze trennt die Menschen voneinander, gräbt sich als Spaltung tief in ihr Bewusstsein und gibt den Titel für Ernst-Jürgen Dreyers Roman "Die Spaltung", der nun - nach seiner ersten Veröffentlichung 1979 als Typoskript - erstmals gesetzt und mit umfangreichem Material zu Entstehungsgeschichte und Rezeption erschienen ist. Bereits 1959 hat der heute 67jährige Dreyer mit der Arbeit an "Der Spaltung" begonnen. Im selben Jahr ist er aus der DDR, wo er Musikwissenschaft studiert hat, nach Frankfurt übergesiedelt und er las 1959 auf der Tagung der Gruppe 47 auf Schloß Elmau. Der Unmut über seine Lesung eines Textes, der später auch Eingang in "Die Spaltung" gefunden hat, war so groß, dass er abbrechen musste. Zwanzig Jahre später las Dreyer aus dem nun fertigen Buch in Klagenfurt. Resonanz bleibt erst aus, dann kommt 1980 der Hermann-Hesse-Preis. Ein wenig Aufmerksamkeit hat das gebracht, die Rezeption des außerordentlich umfangreichen, großformatigen Romanwerks aber blieb auf einen kleinen Kreis beschränkt. Niemand, kaum auch der Autor, wird je etwas anderes erwartet haben. Wenn, durch das ganze Buch hindurch, immer wieder seitenweise die sächsische Mundart Leipziger Prägung getreu und in überaus genauem Rhythmus wiedergegeben wird, fühlt sich der Leser als der gleiche Hamster im Rad wie Dreyers Alter Ego Landmann bei seinen ewigen und vergeblichen Anläufen, in der DDR-Bürokratie der fünfziger Jahre zu einer Ausreisegenehmigung zu kommen. Bei der Verleihung des Hesse-Preises berichtet Dreyer, dass er von der Typoskriptfassung seines Romans eigenhändig vierzig Rezensionsexemplare verschickt habe, ohne dass eine einzige Rezension darauf erschienen ist. Man kann das Ausbleiben angemessener Resonanz auf einen in der Gegenwartsliteratur selten vielstimmigen und reich instrumentierten Resonanzkörper beklagen. Vor allem die Reaktionen aber auf die Übersetzung des "Canzoniere" von Franscesco Petrarca, die Dreyer in den achtziger Jahren gemeinsam mit seiner Frau Geraldine Gabor besorgte, hat ihm Erfolg und neuen Ruhm eingetragen. In den letzten Jahren hat sich Dreyer vor allem mit dem Muskauer Dichter und Komponisten Leopold Schefer befasst.

    Vergleiche der "Spaltung" zu Büchern wie "Zettel's Traum" von Arno Schmidt, "Herzgewächse" von Hans Wollschläger oder "Kinderblitz Jambudvipa" von Wolfgang Rohner-Radegast wiegen nur nach Gramm und Kilo, nicht nach Bedeutung. Diesseits aller Symptomzuschreibung lässt sich mit "Die Spaltung" aber auch, wenigstens heutzutage, ein eigener, von fern wie eine Wüste scheinender literarischer Kontinent entdecken. Hier herrscht quälende Langsamkeit. Derbe Witze aus Küchen und Behördenfluren klingen wie aus Packpapier. Alles ist an seinem Platz, Leipzig wie unter einem sprachlichen Mikroskop, dessen Blick alles zerstäubt. Mit dem Werkzeug der Konkreten und der Lautpoesie hat Dreyer ein Epos geschaffen, Partitur und Libretto zugleich - doch niemand sonst weiß die Instrumente zu bedienen. Landmanns Irrfahrt singt nur von sich selbst, eine Odyssee ins Ich.. Aufschub und Versagung, Angst und Demütigung dienen in diesem Buch nicht zuletzt dem Zweck, massiv Gestalt zu gewinnen. Die Spaltung reicht ins Innere. Landmann hört, was die ferne Barbara in Frankfurt sagt, und ist doch längst woanders, seine Seele, schreibt Dreyer später einmal, wandert "ihre eigenen Wege, die dem Mädchen so abgewandt sind wie die erdabgewandte Seite des Mondes, ja die er vielleicht nicht einmal selbst verfolgt."

    Der schöne Irrsinn, in den Dreyer seine Leser zu Landmann schickt, die Aufspaltung seines Protagonisten in zwei Brüder, das miniaturistische Schreibverfahren: vieles an diesem Roman erweist Jean Paul Referenz. Und in den besten Momenten läßt der Roman vergessen, mit welcher Akribie, mit welchem Detailreichtum er geschrieben wurde, was für ein Intertextualitätmonster da auf uns lauert. Dann treten wir ein in Musik:

    So, und nu wollmer uns wieder vertragen, sagt Schorschs näselnder Bass und die Augen sitzen grau-schief überm schief lächelnden Mund: zum Wohl, zum Wehe, zum Andenken, zur Erinnerung, aber woran, woran. Was ist das für ein Getränk, fragt Landmann nach einiger Zeit den zerbrechenden Kopf mit den Händen zusammenhaltend. Was steigt aus ihm. Ich habe noch keine zwei Gläser getrunken und es dreht sich um mich wie Papierschlangen, Licht und lärm. Helle wechselt mit Dunkelheit.