Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Die Spaltung

Dreyer, der mit seiner Familie am Ende des Zweiten Weltkriegs aus dem heute polnischen Sichelberg ins thüringische Ilmenau geflohen war und von 1952 bis 1957 in Weimar, Jena und Leipzig Musikwissenschaften, Kunstgeschichte und Philosophie studiert hatte, verlässt eine DDR, deren Intelligenz durch die Formalismusdiskussion, durch die Prozesse gegen Harich, Janka und andere kritische Geister diszipliniert worden war. Ironie der Geschichte: Ausgerechnet ein linientreuer Parteigenosse rät Dreyer, in den Westen zu gehen.

Nils Kahlefeldt | 20.09.2002
    Also, das Leipzig dieser Zeit, das war ja das Leipzig der großen Fluchtbewegungen: Jeder spielte mit dem Gedanken, besonders weil man schon ahnte: Es wird immer schlimmer. Die Öffnungen nach dem Westen werden zugemacht. Es kam dann irgendwann mal der Punkt, wo man Ernst machen musste. Also, hätte sich irgendeine Chance noch ergeben - eine Berufschance oder irgendeine Aufstiegschance, dann wäre ich geblieben. Ich hab mich dann auch mal unterhalten mit diesem Musikwissenschaftler, Harry Goldschmidt, der in Berlin war... Dieser Mann war einer der wenigen Leute mit dem Parteiabzeichen, die ich sehr schätzte, die mir großen Eindruck machten... also, den hab' ich mal gefragt, ob nicht die DDR einen Advocatus diaboli gebrauchen könnte? Und er sagte: Davon hätten sie schon genug. Ja, wenn ich ihm versprechen könnte, ein positives Verhältnis zum Marxismus-Leninismus zu gewinnen, dann würde er seine Beziehungen spielen lassen... Er hat das Gott sei dank selber sehr schnell zurückgezogen (lacht), sonst wäre ich wahrscheinlich korrumpiert worden. Und er sagte dann: Nee, also, Sie sind typologisch nicht der Richtige für die DDR - und er hat mir direkt geraten, nach dem Westen zu gehen. Das war eigentlich ein staatsverräterischer Rat, er hätte das gar nicht dürfen - aber ich bin ihm dankbar...

    Dreyer vertauscht die realsozialistische Planquadratlandschaft mit dem Dschungel der Bankenmetropole Frankfurt - doch der Weg in die Freiheit scheint sich zunächst als Weg in die Falle zu erweisen. Der Verlust der Heimat stürzt den 24jährigen in eine schwere Identitätskrise. Er versucht, sich aus dem Sumpf der Irritationen herauszuschreiben. Schemenhaft nimmt ein Projekt Gestalt an, das ihn die nächsten 20 Jahre in Atem halten wird. Dreyers Thema: Die Spaltung Deutschlands, die Spaltung einer Liebesbeziehung, die Spaltung einer Persönlichkeit. Noch 1959 wird Dreyer zur Tagung der Gruppe 47 auf Schloss Elmau geladen, sein Text allerdings gnadenlos verrissen. Piper schließt dennoch einen Optionsvertrag mit dem jungen Autor ab; er beauftragt ihn mit einem Roman-Exposé und 100 Probeseiten. In dem Maß, wie der Verlag das Interesse an dem wuchernden, immer inkommensurabler werdenden Projekt verliert, schlägt es seinen Autor in Bann. Ein Münchhausen-Akt: Während Dreyer seinen Protagonisten bis zur Selbstzerstörung gegen die deutsch-deutsche Grenze anrennen und schließlich im metaphorischen Sumpf des Niemandslands untergehen lässt, rettet er sich selbst "auf die Fußbreit Land der ersten Sätze eines Romans".

    Im Westen, da war ich in einen Sumpf geraten, in dem ich auch irgendwie nach Luft schnappte - also irgendwie waren die Dinge zu groß, zu hoch, zu unübersichtlich. Und diese Unübersichtlichkeit, die hat mich offenbar immer gereizt. Es ist ein unüber-sichtliches Buch, in dem das Subjekt in den Objekten ertrinkt... Es kann die Objekte auch gar nicht benennen, es sieht also die Häuser nicht als Konstruktion oder als Fassaden, sondern das ist irgendwas, was über einen hinwegragt, oder was gar taumelt oder schief steht - wie man selber eben schief dazu steht. Wie eben auch, wenn man im Sumpf steckt, die Grashalme ringsum die Größe von Bäumen annehmen.

    Die Spaltung ist zunächst eine Liebesgeschichte im Kontext des geteilten Deutschlands; lesbar auch als dunkles Gegenstück zu Christa Wolfs "Geteiltem Himmel". Der Student Lutz Landmann lebt in der DDR, in Leipzig, seine Freundin in Westdeutschland. Schon bald wird klar, dass die Schwierigkeiten der beiden Liebenden nicht nur äußerer Art sind. Die Spaltung geht mitten durch Hirn und Bewusstsein des Romanhelden Landmann - einer, der sich immer dichter im Gestrüpp von Bildern, Geschichten, Alp- und Tagträumen verfängt. Als loser Handlungsstrang dienen Dreyer Landmanns vergebliche Versuche, zu seiner Freundin in den Westen zu kommen, für sie wenigstens eine Aufenthaltsgenehmigung zu erwirken. Ob alptraumhafte Behörden-Gänge, die den Geruch vergeblichen Wartens ausdünsten, quietschende Straßenbahnen, verräucherte Kneipen, hellhörige Studentenbuden, muffige Schlafzimmer - die konservierte DDR-Wirklichkeit der "Spaltung" ist mit Händen zu greifen. Das Leipzig der späten fünfziger Jahre ist es, das Dreyer bis in tausend Einzelheiten auch topografisch erlebbar macht - von Engelsdorf nach Lindenau, vom legendären Carola-Casino bis zum Ring-Café, das der Volksmund spöttisch "Gaffee Bismarck" nennt, weil dort "jeder Bissenne Mahrgosded".

    Nun kann man sagen, dieses ganze Buch ist eigentlich ein Hörbuch. Die akustische Sphäre ist sehr viel präsenter als die optische... Die Figuren sprechen sich immer wieder selber aus. Wenn die sich selber aussprechen, dann kommt erstens schon mal der Dialekt. Dann kommen die Wendungen, die damals gesagt wurden - also auch die ziemlich unreflektierte Übernahme des Vokabulars des Dritten Reichs. Man konnte da vom "Vergasen" reden - "Früher hätte man so was glatt vergast", das hätte man hier gar nicht sagen können, das hätte sehr unangenehme Assoziationen überall erregt. Drüben nicht. Und dann eben auch... besonders hatten die Funktionäre eine eigene Art zu sprechen; die waren zum Beispiel in Rußland aufgewachsen, oder das russische Vokabular hatte sie sehr geprägt. Und sie sprachen ein besonders weiches "Sche" wie das russische "Schenschtschina"; das haben die alles ins Deutsche transportiert. Das musste ich dann phonetisch aufschreiben, da kam auch so eine Art Originalton... Mich hat nie die Ideologie interessiert. Ich habe dem Sozialismus nie irgendwelche Sympatien entgegengebracht; weder im Osten noch hier bei der 68er-Revolution. Aber es hat mich immer interessiert, wie die Leute reden - was rauskommt, wenn sie den Mund auftun. Rein formal: Wie sind die Sätze? Wie sind die Laute? Und da kommt dann schließlich auch was dabei raus: Nichts vom idealen Sozialismus... aber doch vom, wie sagt man? - realexistierenden.

    Dreyer macht Leipzig und seine Menschen in musikalisch genau notierten Mundarten kenntlich - das Sächsisch von Landmanns Zimmerwirtin klingt anders als das des Partei-Funktionärs; im Gezeter hochnäsig-kleinkarrierter Kellner oder autoritärer Behördenpförtner ist das untergründige Fortwirken der LTI in die Alltagssprache des "antifaschistischen" Arbeiter- und Bauern-Staats seismografisch genau erfasst.

    Die Spaltung ist nicht nur ein Hör-Buch, eine bis in den Romanaufbau streng durchkomponierte Sprachsymphonie mit Allegro-Kopfsatz, Menuett, Adagio und tragischem Finale - sie ist, bis in die Typografie hinein, das Buch eines Sprach- und Buchstabenspielers. Ein Buch, das es seinen Lesern nicht leicht macht: Es gilt, Spiegelschrift zu dechifrieren, über die Seiten schneiende Fetzen von Fragebogen oder ein Hölderlin-Zitat, das nach Art der Konkreten Poesie in Buchstabenform vertropft. "Innenansichten, ob einer Gaststättenatmosphäre, eines Staatswesens oder einer Seele, sind nur durch eine experimentelle Darstellungsart zu schaffen", meint Dreyer, und so liest sich der Roman gelegentlich, als würde sich sein Autor durch den gesamten Fundus der literarischen Moderne samplen. Ein Autor, der sich auf die Traditionen nicht-diskusiven Erzählens, auf Arno Holz, Conrad Ferdinand Meyers Balladen und Fischarts "Geschichtsklitterung", auf die sprachberauschten Romantiker oder Klopstock beruft und die deutsche Teilung zum Thema macht, sitzt in der Bundesrepublik der späten sechziger, frühen siebziger Jahre zwischen allen Stühlen.

    Also, die ganze 68er-Revolution, das hat mich eigentlich auch nur gelangweilt. Das hab' ich vollkommen unverständlich gefunden. Warum gehe ich aus dem Osten weg, wenn sie jetzt plötzlich alle diese Parolen wieder schreien? Da drüben hatten sie mir gesagt: Du bist noch nicht so weit, dein Bewusstseinsspiegel muss gehoben werden. Und jetzt schreien das hier wieder alle auf der Straße? Nee, das war (lacht) nichts für mich. Außerdem, wenn wirklich alle auf der Straße schreien, dann hab' ich immer das Gefühl, daß sie sich irgendwann nach mir umdrehen und sagen: DU MUSST GRUNDSÄTZLICH NEU ÜBERDACHT WERDEN! -- Nö, da gehe ich weg.

    Als Dreyer sich nach mehr als 10 Jahren Arbeit am Roman um einen Verlag für die "Spaltung" bemüht, findet er sich in ähnlich surreale Ringkämpfe verstrickt wie sein Held Landmann. Der Vertröstungen und Ausflüchte müde, kauft er 1977 eine IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine und tippt mühsam die offsetdruckreife Vorlage. Ein befreundeter Drucker bringt die "Spaltung" schließlich 1979 als Typoskriptausgabe in 400 Exemplaren heraus; 50 Rezensionsexemplare schleppen der Autor und seine Frau in Einkaufstaschen zur Post. Zugleich erhält Dreyer eine Einladung zum Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb. Dort wird er, 20 Jahre nach seinem Auftritt auf Schloß Elmau, "wohlwollend übersehen". Trotz einiger hymnischer Besprechungen bleiben Großkritik und Medien reserviert - zu augenfällig sperrt sich das im Eigenverlag erschienene Buch mit seinen fast 500 engbedruckten Seiten den gängigen Verwertungsprinzipien des Literaturbetriebs. 1980 erhält Dreyer den Hermann-Hesse-Preis, immerhin 10 000 Mark steuerfrei. Hans F. Erb, der das Unterhaltungshaus Ullstein gern um eine literarische Abteilung bereichern möchte, sichert sich die Rechte. Geschieht am Ende doch ein Wunder? Kein halbes Jahr, nachdem der Roman bei Ullstein neu herauskommt, verlässt Erb den Verlag. Den nachrückenden Managern liegt die "Spaltung" wie Blei in den Regalen. Das Buch tritt seinen vorerst letzten Weg an - in die Grabbelkisten des Modernen Antiquariats.

    Dass Dreyers aus der Zeit gefallener Deutschland-Roman heute in einer mustergültigen Neuedition vorliegt, mag man - über zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung und dreizehn Jahre nach dem Untergang der DDR - getrost ein verspätetes Wunder nennen. Es war kein primär philologisches Interesse, das die Herausgeberin Bettina Clausen und die Studenten ihres germanistischen Oberseminars an der Universität Hamburg auf Dreyers Spuren brachte, sondern "das Anziehende und Abweisende der Lektüre selber". In viersemestriger Arbeit entstand so neben dem vollständig neu gesetzten Romantext ein Materialienband mit Stellenkommentar, zeitgenössischen Fotografien, Stadtplänen, Rezeptionszeugnissen und Register; die wohl wichtigste Zugabe ist eine Audio-CD, die dem Leser hilft, den kruden Dialekt-Verhau zu durchdringen. Ist "Die Spaltung", wie ein Kritiker schon Anfang der achtziger Jahre monierte, der Versuch, Leipzig und die frühe DDR im Originalformat, aber aus Streichhölzern nachzubauen? Ist der für leichte Nachttisch-Lektüre so denkbar ungeeignete Drei-Kilo-Schuber am Ende nur ein Fall für Philologen, Mundartspezialisten und Psychater? Keineswegs! Wer bereit ist, in Dreyers surreal anmutende Welt einzutauchen, wird mit einem Lese-Abenteuer belohnt, dass trotz der zahllosen "Jahrhundertromane", die uns eifrige Klappentext-Schreiber Saison für Saison schmackhaft machen wollen, so nicht allzu oft zu haben ist. "Die Spaltung" ist nicht nur von hohem historisch-dokumentarischem Wert. Ästhetisch kann sie es mit einem Mammutwerk wie "Zettels Traum" durchaus aufnehmen. Mit den Mitteln der Sprache gelingt es Dreyer, noch die verborgensten Bewusstseinszustände seines Helden auszuleuchten. Die Persönlichkeitsspaltung Lutz Landmanns, seine Ausbruchsversuche und sein Festklammern an längst haltlos gewordenen Zuständen, lässt sich nach der Implosion der DDR 1989 als Kollektiverfahrung einer ganzen Generation beobachten.

    In der Diktatur brauchen wir unsere Form gar nicht aus uns selber hervorzubringen. Wir sagen eben: Wir sind dagegen - und schon haben wir eine Form. Also sozusagen, der Druck von allen Seiten, der formt uns, wie der Wasserdruck den Tiefseefisch. Und dann hat man so das trügerische Gefühl: Du bist ja schon jemand. Indem du dagegen bist. Aber dagegen sein ist gar nix! Wenn nun dieser Druck wegfällt - wer ist man dann? Den armen Tiefseefisch - wenn man den an die Oberfläche holt, der zerplatzt, weg... Das Formproblem, das haben glaube ich jetzt viele; das hatte ich natürlich sehr stark auch, als ich nach dem Westen ging. WER BIN ICH EIGENTLICH? Denn ich hatte mich eigentlich schon immer dadurch definiert gefühlt, dass ich anders war. Dass ich dagegen war. Dass ich die Herren da oben ablehnte.