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Die Sprengkraft der Stille

Björn Kuhligk ist Buchhändler und Dichter. "Die Stille zwischen null und eins" ist sein fünfter Lyrikband. Nüchtern und ohne attributive Ausschmückungen stellt er die Dinge ins Zentrum der Betrachtung. Seine Strenge in der Sprache besitzt allerdings einen eigenen Glanz.

Von Michael Opitz | 26.06.2013
    "Ohne Notizbuch gehe ich überhaupt nicht aus dem Haus","

    sagt Björn Kuhligk, der seinem neuen Gedichtband "Die Stille zwischen null und eins" ein Zitat aus Volker Brauns Gedicht "Durchgearbeitete Landschaft" als Motto vorangestellt hat. Es lautet: "Hier sind wir durchgegangen / mit unsern verschiedenen Werkzeugen." Interessant ist, dass Kuhligk im ersten Gedicht des Bandes "Die Stille zwischen null und eins" – mit dem Titel "Grüße aus dem Hochmoor" – auch einen Ton anschlägt, der an den jungen Volker Braun erinnert:

    ""Der Tau der Wiesen rann herab /auf die Erde, der wir zugetan, über /dem Hang lag Nebel, ein aufgelöster Brühwürfel."

    Diese Gedichtzeilen und das Motto machen auf eine Diskrepanz aufmerksam. Die Landschaft hat durch die Werkzeuge, mit denen sie bearbeitet wurde, ihr Gesicht verändert. Unbestritten scheint, dass wir der Erde zugetan sind, aber Kuhligk fragt sich und indirekt auch die Leser: Wie vereinbart sich das mit den Wunden, die der Erde zugefügt wurden und weiterhin zugefügt werden?

    "Erst einmal verehre ich das Schreiben von Volker Braun, seine Lyrik hat in gewisser Weise auch Vorbildfunktion für mich gehabt, und ich lasse mich von den Texten immer wieder auch gern beeinflussen Und zweitens hat mir das Motto sehr gut gefallen, weil es einerseits die Natur gleich thematisiert – ‚Hier sind wir durchgegangen / Mit unsern verschiedenen Werkzeugen’ – und andererseits, wenn man es anders liest, kann man die Werkzeuge auch als literarische Stilmittel nehmen und ich bin sozusagen durch diesen Gedichtband mit verschiedenen Werkzeugen durchgegangen."

    Björn Kuhligk legt mit "Die Stille zwischen null und eins" bereits seinen fünften Gedichtband vor. Die Gedichte des Bandes können als besonders gelungene Beispiele dafür angesehen werden, wie viel Sprengkraft von der Stille auszugehen vermag. Darüber hinaus schärft Kuhligk in seinen Gedichten den Blick für Gegenden, in denen eigentlich nichts zu passieren scheint: "Das Wasser weiter hinten erduldet / den Mond, es springt, es kommt an Land", wie es in dem Gedicht "Kilometer hinterm Deich" heißt. Das klingt zunächst durchaus verdächtig nach romantisierender Naturlyrik, die in einem zu arkadisch ausgefallenen Versegewand daherkommt. Kuhligks Blick aber wendet sich nicht wehmütig zurück, sondern in seinen Gedichten haben die Brüche einen festen Platz, wie etwa in dem Gedicht "Die Räumung des Zimmers", in dem es heißt: "Die Anmut ging hinkend / mit der Sanftmut auf ein Zimmer / gestern Nacht vor Mitternacht hingen die Zweige, vom Regen / schwer, im Fernsehen wurde was abgerissen /darüber der Himmelskübel, die Trauerbuche tropfte". Das Gedicht setzt zwar an, als würde über einen guten Beginn zu sprechen sein, doch dann macht eine Wende deutlich, dass davon nicht die Rede sein kann.

    "In den Naturgedichten, die ich geschrieben habe, tauchen immer wieder auch Menschen auf, das heißt, diese Natur ist von Menschen geformt oder verändert worden. Dadurch breche ich auch eine Idylle, die es in der Romantik gab. Ich bin ein Mensch, ich befinde mich in der Natur und insofern hat sie an Idylle verloren. Indem ich mich in der Landschaft bewege, verändere ich die Landschaft, verändere ich die Natur. Das ist meine Weltwahrnehmung. Idylle, schön und gut, die kann ich auf Postkarten wahrnehmen oder mir erträumen, aber die gibt es nicht. Ich arbeite viel mit Brüchen. Mich interessiert keine Eins-zu-eins-Wiedergabe von dem, was ich wahrnehme oder empfinde. Mich interessieren Gegensätze, wenn ich Dinge gegeneinander schneide und wenn ich anfangen würde, Dinge detailliert zu beschreiben, befände ich mich eigentlich in der Prosa."

    Stille fängt Kuhligk in seinen Gedichten immer wieder ein. Er hält sie in den Momenten fest, wenn sie durch ein Geräusch aufgehoben wird, wobei sein Interesse den Ruhestörern gilt, die eigentlich zu den Vorstellungen von Stille gehören "In der Dämmerung treten Rehe / aus dem Wald", so beginnt das Gedicht "Mit leisen Tieren". Er wendet sich aber auch den weniger behutsam in Erscheinung Tretenden zu, von denen es in dem Gedicht "In den Raunächten" heißt: "ein Geräusch schwillt an, jemand / öffnet die Tür, Schnee, das Auto / das Auto zieht vorüber, keine Spur, fällt auf den Schnee."

    Bei der Stille, die von den beiden Zahlen null und eins in die Mitte genommen wird, könnte man an das Dualsystem denken, das die Grundlage der Digitaltechnik bildet. Nur diese beiden Zahlen sind für die Darstellung aller anderen Zahlen nötig. Leibniz, der bedeutende Philosoph, geniale Mathematiker und ambitionierte Gartengestalter, war der Überzeugung, dass sich die Vollkommenheit der Genesis mit den Zahlen des Dualsystems ausdrücken ließe. Wollte man den siebten Tag, den Tag, an dem der Herr ruhte, weil alles vollbracht war und also Stille herrschte, mit Hilfe von Zahlen beschreiben, dann ginge das nur in der Zahlenkombination 111.

    "Den Titel wollte ich so weit gefasst wie möglich halten. Ich bin eigentlich von der Idee ausgegangen, dass die Null erst einmal die einzige reelle Zahl ist, die weder positiv noch negativ ist. Die Null hat ja an sich den Wert von nichts. Und davon ausgehend ins Positive zu gehen und zu behaupten, da sei Stille, das hat mir gut gefallen. Dann gibt es natürlich das duale System, das spielt mit rein, dann auch die Uhrzeit, schlichtweg die Stille zwischen 0:00 und 01:00 Uhr nachts. Ich bin davon ausgegangen, die Null als einen Nullpunkt zu haben oder eine Stelle zu verlassen und zur nächsten zu gehen und dazwischen ist Stille."

    Die Zeile, die titelgebend für den Gedichtband wurde, findet sich in dem Gedicht "Ideologien, meine Herren"

    "Ideologien, meine Herren

    Was die erlebt, gesehen haben
    Da fliegen die Plätze hoch, zwei Fäuste
    Und Liebe, ein Gefühlsbastard
    Was macht man damit, und Kinder, ja
    Kinder, jetzt wird die Stille zwischen
    null und eins geschlossen, der Gärtner
    stößt den Spaten tief, die Baumaschinen
    zwitschern, ich sah den Krokus Krokus
    sein, die Dachdecker voll Sternhagel
    die Dompteure verzögert, die UNO
    eine im Kühlschrank vergammelte, ansonsten
    interessante Frucht, die Weltgemeinschaft
    Gesundheit, ein blinkendes Schwein,
    das Kind behauptet, dass jeder Reißverschluß
    Zwei Prellböcke hat, verkleidet als
    Desolater Traktor geht man mit sich und
    Dem, der nichts dafür kann, ins Aquarium
    Und streichelt den Koi, what a pity"

    Kuhligks Gedichte zeichnet eine fast verstörend wirkende Lakonie aus. Man ist geneigt, von einer Reserviertheit gegenüber der Landschaft zu sprechen, denn nüchtern und ohne attributive Ausschmückungen stellt er die Dinge ins Zentrum der Betrachtung, die ihm wesentlich sind. Diese Strenge in der Sprache besitzt allerdings einen eigenen Glanz und ist alles andere als arm. Kuhligk, der als ein veritabler Cutter angesehen werden darf, fügt Bildsequenzen mit manchmal harten Schnitten aneinander: "die Silhouette des Waldes, schön, nichts / Neues, ein Scherenschnitt darüber / kommt die Sonne nicht durch". Die Landschaft meldet sich in seinen Gedichten über Bilder zu Wort. Solche gefundenen Bilder hat Kuhligk zu einer Bildersammlung zusammengefügt, die die Grundlage seiner Gedichte bildet. In seinen Gedichten lädt er seine Leser dazu ein, gemeinsam mit dem lyrischen Subjekt in eine bestimmte Richtung zu schauen. Was dabei gesehen wird, hat im Gedicht zu einer Form gefunden.

    "Wenn ich an einem Stadtgedicht schreibe, dann ist das auch wie eine Inventur, eine Inventur von dem, wovon ich umgeben bin, was mich anspringt, ja, was ich mit den Augen fotografiere, was ich annehme. Es ist das Sammeln von Material und im Arbeitsprozess, also beim Schreiben des Gedichtes, sichte ich das Material, führe also auch eine Inventur durch und schaue: Was kann ich von diesem Inventar nutzen, um daraus ein Gedicht zu formen, was in eine Richtung geht, die ich mir vorgenommen habe. Zum Teil versuche ich, mit kleinen Kamerafahrten zu arbeiten, aber eigentlich in erster Linie mit Fotos. Also, ich fotografiere mit den Augen und wünsche mir eigentlich manchmal, Fotograf zu sein und das tatsächlich zu fotografieren, abzuschießen. Aber das tue ich mit den Augen und versuche dann bei dieser Bildlichkeit zu bleiben. Gedichte brauchen Bewegung, wie ich finde, und die versuche ich dann durch kleine Kamerafahrten herzustellen und so anzuordnen, dass es für mich ein interessanter Film wird."

    Björn Kuhligks Gedichte überzeugen durch ihre Radikalität. Er ist dem zugetan, was ihn als Natur umgibt. In der Natur findet er, was ihn fasziniert, und zugleich sieht er, was die Natur bedroht. Seine Gedichte halten Distanz, oder: Distanz stellt er nach erlebter Nähe beim Schreiben wieder her. Kuhligk feiert nicht die "alles umfassende" Natur, indem er ins Schwärmen gerät. Er schlägt nachdenklichere Töne angesichts der Vorgänge an, die sich bedrohlich am Horizont zeigen. Durch den lakonischen Ton bekommen seine Gedichte eine Weite, in der sich der Leser bewegen kann. Er ist zwar nicht aufgehoben, aber er geht auch nicht verloren.

    Björn Kuhligk: Die Stille zwischen null und eins.
    Gedichte
    Hanser Berlin, Berlin 2013, 75 Seiten, 14,90 Euro