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Die Spur der schwarzen Diamanten

Lencois ist einer jener stets besonderen Orte, an denen die Welt mit Brettern zugenagelt ist, wo es einfach nicht mehr weiter geht. Die kleine Kolonialstadt liegt am Ende einer Stichstraße, die ins Herz der Chapada Diamantina führt. Hier gab es jahrzehntelang die kostbarsten Steine der Welt.

Von Jürgen Hanefeld | 24.07.2011
    Jasiel spielt nicht auf Bestellung und für Geld schon gar nicht. Der sanftmütige Musiker mit kakaofarbener Haut und schwarzem Lederhütchen spielt für sich, und – falls der gerade vorbeikommt - mit Heraldo, seinem Freund.

    Die beiden Gitarristen treffen sich, wenn die Zikaden zirpen, vor Sonnenuntergang, im lichten Laubwald von Lencois. Das ist einer jener stets besonderen Orte, wo die Welt mit Brettern zugenagelt ist und es einfach nicht mehr weiter geht.

    Lencois ist einer jener stets besonderen Orte, an denen die Welt mit Brettern zugenagelt ist, wo es einfach nicht mehr weiter geht. Die kleine Kolonialstadt liegt am Ende einer Stichstraße, die ins Herz der Chapada Diamantina führt. Das Gebirge erhebt sich gut 400 Straßenkilometer querab von der Küstenmetropole Salvador da Bahia mitten im menschenleeren Nordosten Brasiliens. Wer in flirrendem Licht aus der Weite der scheinbar endlosen Grassteppe des Sertao kommt, könnte den lang gestreckten Höhenzug für die Fata Morgana eines gestrandeten Wals halten. Doch aus der Nähe erweist sich die Chapada als zerklüftetes Gewirr aus Tafelbergen und Felsspitzen, zerfurcht von Schluchten, umspült von wilden Wasserläufen und durchlöchert von Höhlen, die teils von der Natur geschaffen sind, teils von Menschenhand. Die Chapada ist nicht nur eine Landschaft von ganz besonderem Reiz, sie dokumentiert auch ein bedeutendes Kapitel brasilianischer Geschichte, erzählt Heraldo, der zweite Gitarrist im Wald – und ehemalige Direktor des Fremdenverkehrsamtes:

    "Die Natur ist üppig, es gibt Wasserfälle und natürliche Schwimmbäder, Berge und Täler, die ihres gleichen in der ganzen Welt suchen. Aber das touristische Interesse an der Region entwickelte sich erst, als die Stadt Lencois 1973 unter Denkmalschutz gestellt wurde. Damit wollten wir die Kultur der Garimpeiros , der Diamantenwäscher und –schürfer, für künftige Generationen bewahren."

    Der Ausbruch des Diamantenfiebers in der Chapada datiert auf das Jahr 1844 und verwandelte das Bergnest selbst in einen urbanen Edelstein -mit gepflasterten Straßen, mehrstöckigen Häusern mit verschnörkelten Fassaden, mit Kirchen und Banken. Die neureichen Bewohner – darunter auch Deutsche, Franzosen, Türken - leisteten sich Mode und Möbel aus Europa und Extravaganzen aller Art. Die Republique Francaise unterhielt hier, auf der Rückseite des Mondes, sogar ein Konsulat!

    Von ein paar Autos abgesehen hat sich die kolonialzeitliche Anmutung bis heute nicht geändert. Mit seinen gerade mal 8000 Einwohnern ist Lencois inzwischen vor allem Ausgangspunkt für Streifzüge durch die spektakuläre Bergwelt ringsumher, die mancherorts an fernseh-schöne Wildwest-Kulissen der USA erinnert, aber weit weniger überlaufen ist. Ein Beispiel ist der Morro do Pai Inácio: Von dem 1200 Meter hohen Monolithen hat man nicht nur einen atemberaubenden Panorama-Blick über die Tafelberge der Chapada, hier spielt auch eine rührende Geschichte aus der Zeit der Bandeirantes, militärisch organisierter Marodeure, die das unabsehbar weite Hinterland Brasiliens in großen Gruppen durchstreiften – auf der Suche nach Gold und Edelsteinen. Der Brigadista Leo Santo Sena, einer der Hüter des Nationalparks, erzählt :

    "In der Diamantenzeit kamen viele Glücksritter mit ihren Familien und ihren Sklaven hierher. Einer von ihnen, ein Schwarzer namens Inácio, verliebte sich in die Frau seines 'Colonels' (Offiziers). Als der das erfuhr, musste Inácio fliehen. Er hielt sich hier auf dem Gipfel versteckt, bis ihn sein Lagerfeuer verriet. Als die Soldaten den Berg stürmten, spannte Inácio den Sonnenschirm seiner Geliebten auf und sprang ins Nichts. Alle hielten ihn für tot, er aber hatte sich nur auf einen Felsvorsprung gerettet, kletterte unbemerkt hinunter und ritt zurück ins Sklavendorf. Dort fand er seine Geliebte, die man an einen Baumstamm gefesselt hatte. Er befreite sie, die beiden flohen, und blieben glücklich bis an ihr Lebensende. Zur Erinnerung daran heißt der Berg Pai Inacio."

    Ob wahr oder Märchen, das Happy End der Geschichte verweist auf ein brasilianisches Phänomen: Die Vielfarbigkeit seiner Menschen zeigt, dass es einen Rassendünkel wie in Nordamerika nie gegeben hat. Wohl aber soziale Ausgrenzung. Jorge Schnittmann, Enkel deutscher Juden aus Odessa und passionierter Schnapsbrenner, erzählt in seiner Kneipe in Lencois, dass Brasiliens Nationalgetränk ursprünglich nur den Sklaven zugedacht war:

    "Cachaca galt lange als wertloser Fusel, weil er den Sklaven vorgesetzt wurde, die damit ihre Sorgen, den Hunger, die Schmerzen vertreiben sollten. Der billige Schnaps aus dem Trester des Zuckerohrs war dazu da, ihre Arbeitskraft zu erhalten. Dass er sich als Caipirinha zum weltweit beliebten Cocktail mausern würde, konnte niemand ahnen. Ich denke es wird Zeit, die Geschichte des Cachaca neu zu schreiben und ihm Ehre zu erweisen."

    Tatsächlich dürften den wenigsten Gästen, die in Jorges Lokal allabendlich von den 50 verschiedenen Hausbränden probieren, die Herkunft ihres Modegetränks bekannt sein. Als letztes Land der westlichen Hemisphäre hat Brasilien erst 1888 die Sklaverei abgeschafft, das heißt: Mehr als 40 Jahre lang waren es auch in Ketten gelegte Afrikaner, die die Flussbetten der Chapada nach Edelsteinen durchwühlten. Handschellen, Peitschen und eine 30 Kilo schwere Eisenkugel sind im Freilichtmuseum von Xique-Xique zu besichtigen, einer halb verfallenen Garimpeiro-Siedlung in den Bergen, die nur über abenteuerlich steile Pisten aus Lehm und Feldsteinen zu erreichen ist.

    Am Eingang des hoch über den Quellflüssen des Rio Paraguassú gelegenen Museums schaukelt einsam ein Glöckchen im Wind. Der Ort scheint vollkommen verlassen, bis plötzlich Cozmi auftaucht.

    Der 27-Jährige bewacht die kümmerlichen Fundstücke aus der Diamantenzeit: nicht nur Folterwerkzeuge, auch Gerätschaften zum Graben, Wiegen und Verstauen der Edelsteine, Haushaltsutensilien wie Geschirr und Karbidlampen, eine Schreibmaschine von Triumph, ein verbeultes Stück einer Posaune und ein paar schwarze Brösel, unansehnlich wie Rollsplitt – und doch die Triebfeder hinter allem: schwarze Diamanten.

    "Die Ruinen, in denen wir heute stehen, gehören zum bekanntesten Viertel der Stadt. Da gab es Spielhöllen, Tanzpaläste, Karnevalsvereine. Wir haben Fotos gefunden, auf denen Kinos zu sehen sind, Geschäfte mit importierten Luxusartikeln, eine Telegrafenstation. Xique-Xique hatte sogar eine eigene elektrische Versorgung! – All das nur wegen des Booms der schwarzen Diamanten, die wir Carbonado nennen. Sie taugen zwar nicht für die Herstellung von Schmuck, aber sie sind die härtesten Steine der Welt und wurden von der Industrie erst dann nicht mehr gebraucht, als es gelungen war, Diamanten synthetisch herzustellen."

    Doch das war nicht der einzige Grund für das Ende des Diamantenfiebers in Brasilien. Auch in Südafrika hatte man inzwischen Edelsteine gefunden, die leichter zu fördern und deshalb billiger waren. Ein Kreuz hoch über dem Ort erinnert noch an einen Sensationsfund aus dem Jahre 1941, aber auch der konnte den Niedergang nicht mehr aufhalten.

    "Das Kreuz da oben wurde 1941 errichtet, aus Dankbarkeit für den Fund eines schwarzen Diamanten, der dem glücklichen Garimpeiro nach heutigen Preisen 500.000 Euro einbrachte. 205 Gramm wog der Stein von 1025 Karat."

    Bis 1930 lebten 9000 Menschen in Xique-Xique, 1970 aber war der Ort total verlassen. Heute haben sich wieder 350 Menschen in dieser kolonialen Bergidylle angesiedelt, leben von Gartenfrüchten, Kunsthandwerk und der Versorgung von Trekkingtouristen. Obwohl angeblich noch immer 30 Prozent der ursprünglichen Edelstein-Vorkommen in der Erde schlummern, ist die Suche danach streng verboten – erklärt Cozmi und lächelt verschmitzt:

    "Die ganze Gegend ist seit 1984 Nationalpark. Alles Buddeln ist illegal. Aber ein paar Einheimische graben trotzdem. Mein Großvater zum Beispiel. Er ist 79 Jahre alt und geht noch immer jeden Tag in den im Wald, um Diamanten zu suchen."

    Die jahrzehntelange Wühlarbeit im Quellgebiet des mächtigen Rio Paraguassú hat bewirkt, dass der Fluss streckenweise von der Oberfläche verschwunden ist, weil sich das Wasser seinen Weg durch die unterirdischen Höhlen bahnt. Früher war er schiffbar, heute fließt das Wasser zum Teil zwanzig Meter unter der Oberfläche. Nach Ende des Diamantenbooms wollte man Viehzucht betreiben und hat deshalb die wertvollen Tropenhölzer wie Palisander und Mahagoni von einer französischen Firma abholzen lassen. Neu entstanden ist der lichte Sekundärwald, geblieben sind die faszinierenden Höhlen. Hier wenigstens scheint der Naturschutz zu funktionieren: Eine der berühmtesten Grotten, in der sich beim richtigen Sonnenstand das Wasser spiegelt, ist bis auf Weiteres gesperrt, nachdem der Besitzer des Geländes Touristen den Zugang erleichtern wollte. Er ersetzte die Strickleiter im Eingang der Höhle durch eine Betontreppe. Die Naturschutzbehörde schloss die Höhle daraufhin und verdonnerte den Missetäter zum Entfernen der Treppe und zu einer Busse von umgerechnet 25.000 Euro. Weil er das Geld nicht aufbringen kann, bleibt die Attraktion bis auf Weiteres unzugänglich für Besucher.

    Doch das schreckt Öko-Touristen, zumal wenn sie diesen reichlich strapazierten Begriff ernst nehmen, nicht ab. Schließlich gibt es in der Chapada Hunderte weiterer Grotten, seltene Orchideen und Bromelien, Kolibris und Papageien, die inzwischen mehr und mehr Naturfreunde anlocken. Am Anfang waren es pro Jahr ein- oder zweitausend. Seit in den 90er-Jahren mehr und bessere Unterkünfte entstanden sind, stiegen die Zahlen auf zehn- bis fünfzehntausend. Und seit dem ersten Musikfestival 1998 zählt man sechsstellig.

    Zwar sind laut Statistik 38 Prozent der Besucher inzwischen Ausländer, doch der entscheidende Grund für den Aufschwung liegt im wachsenden Wohlstand der Brasilianer selbst. In der gerade zu Ende gegangenen Ära des populären Präsidenten Lula da Silva wuchs ein urbaner Mittelstand heran, der nicht nur Strandurlaub macht. In Lencois sieht man scharenweise junge Familien und gruppenweise sportliche Singles aus Brasilia, Rio oder Sao Paulo, die individuellen Aktivurlaub im eigenen Land verbringen. Worüber sich Christel Puwalla, ursprünglich Entwicklungshelferin aus Lingen im Emsland, einerseits freut, aber andererseits bedauert, wie wenig Zeit sich die meisten Besucher für die Chapada nehmen:

    "Die meisten glauben, dass alles nebeneinanderliegt, dass es nicht so groß ist. Die meisten glauben, dass sie in zwei Tagen die Chapada Diamantina sehen können, und müssen wieder abreisen, weil sie schon die nächste Pousada am Strand reserviert haben, und finden es schade, dass sie nur ein ganz paar Attraktionen gesehen haben."

    Die 53-jährige Deutsche lebt seit 16 Jahren in Brasilien. Nach der Trennung von ihrem Mann hat auch sie begonnen, drei Zimmer in ihrem Haus zu vermieten. Immerhin hat sie zwei halbwüchsige Kinder zu ernähren, beide in Brasilien adoptiert. Nun will sie ein paar Unterkünfte dazu bauen. Denn 2014 wird Brasilien die Fußballweltmeisterschaft ausrichten, 2016 die Olympischen Spiele. Um auf den erwarteten Touristenzulauf vorbereitet zu sein, unterstützt die Regierung 65 Städte im ganzen Land, darunter auch Lencois:

    "Seitdem wir wissen, dass wir hier die Weltmeisterschaft und die Olympiade kriegen, bekommen wir Kurse, um alles zu verbessern, zu verschönern. Ich hab einen Kurs gemacht im Restaurant, wie die Nahrungsmittel behandelt werden müssen, wir kriegen Sprachkurse, Englisch, Spanisch und Französisch oder sowas, also nicht nur wir, die Besitzer, auch die Angestellten, alles schon geplant für die Weltmeisterschaft."

    Die Entscheidung, in Brasilien statt im Emsland zu leben, hat sie noch nicht bereut. Und wenn fragt, was sie am meisten schätzt in diesem Land, dann sind es die einfachen Dinge:

    "Erst mal das Klima. Es ist immer warm, man kann draußen leben. Man muss nicht ständig ins Haus, Heizung an, viele Klamotten an und so weiter. Dann die Brasilianer, die sind unheimlich nett. Deswegen bin ich glaub ich auch hier geblieben in Brasilien. Es ist angenehmer zu leben. Außerdem ist es günstig zu leben hier, man kann sich Angestellte leisten. Das ist schon ganz angenehm für mich, denn mit meinen Kindern - ich hab eine behinderte Tochter ... in Deutschland zu leben ist wesentlich anstrengender."

    Da nickt Jasiel, der Musiker, als wenn er Deutsch verstünde, und zwinkert seiner Freundin Christel zu. Ein Sprichwort lautet: Gott ist Brasilianer. Gut möglich.