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Die Spur führt nach Österreich

In ihrem neuen Roman verarbeitet Esther Freud Figuren und Szenen aus dem reichhaltigen Fundus der Familiengeschichte, die auf den Urvater der Psychoanalyse zurückgeht, zu einem handwerklich geschickt gefertigten Gesellschaftsepos mit dramatischen Zügen.

Von Tanya Lieske | 05.06.2008
    Die britische Autorin Esther Freud, sie ist Jahrgang 1963, blickt auf eine sehr illustre Familientradition zurück. Ihr Vater, ihr Großvater und ihr Urgroßvater waren jeder in seinem Fach sehr bedeutend. Der Urgroßvater hieß Sigmund Freud und war der Begründer der Psychoanalyse. Ihm folgte Ernst Freud, ein erfolgreicher Architekt. Und schließlich Lucian Freud, der Vater der Autorin, ist ein arrivierter Maler. Aufgewachsen ist Esther Freud mit ihrer Mutter, einer Aussteigerin, die mit ihrer sehr jungen Tochter durch den Maghreb zog, man schrieb die späten sechziger Jahre. Die starken Eindrücke dieser Reise verarbeitete Esther Freud in ihrem ersten Roman Marrakesch.

    "Mein erster Roman beruhte auf meinen Kindheitserinnerungen, und ich habe dabei gelernt, wie man seine Geschichte erzählt und zugleich den Mut findet, sie zu verfremden. Ich habe diese Technik dann in meinen folgenden Büchern weiterentwickelt, ich nehme einen festen Bestandteil aus meinem eigenen Leben und ich lasse ihn wachsen. Manchmal bleibe ich stecken und ich erfinde etwas dazu, manchmal fällt mir noch etwas ein, was wirklich passiert ist. Ich benutze meine Biografie als Material, aber kein Leben liefert das perfekte Buch. In meinem neuen Buch "Liebe fällt" wollte ich über meinen Vater nachdenken. Er ist jetzt 85 Jahre alt, und ich liebe ihn sehr. Er war immer dieser ganz jugendliche Typ, erst in den beiden letzten Jahren ist er wirklich gealtert. Er hat mich inspiriert, die Figur des Lambert ähnelt ihm."

    Der abwesende oder unnahbare Vater, die Hippiemutter, die mit ihrer jungen Tochter um die Welt reist, sind zwei feste Bestandteile im Erzählkosmos der Esther Freud. Doch sie bleibt nicht in der eigenen Biografie stecken, sie entwickelt ihr Thema so, dass es eine breite Gültigkeit erhält. Sesshaftigkeit und Heimatsuche in einer rastlosen Zeit, die Bindung zwischen den Generationen, die Fragen nach Zugehörigkeit und Tradition beschäftigen Esther Freud ein ums andere Mal. Trotzdem schreibt sie immer ein neues Buch, was daran liegt, dass sie voranschreitet in ihrem Erkennen, und auch in ihrer Fähigkeit, sehr feine Zustände auszudrücken, die Infinitesimalgrenzen der menschlichen Beziehung zu ertasten. Letztens sei ihr enormer Gestaltungswille erwähnt, der sie interessante und komplexe Figuren entwickeln lässt. So wie Lambert, der Vater, und Lara, die Tochter, beide sind die Hauptfiguren in ihrem neuen Roman.

    "Lambert ist ein sehr verschlossener Mensch. Lara kommt es so vor, als sei er sehr genügsam und selbstsicher. Doch der Leser bemerkt schon sehr früh, dass Lambert Angst hat. Er hat sich einen Schutzwall gebaut, er versteckt sich hinter seinem guten Ruf und seiner Arbeit als Historiker. Wenn Menschen sehr viel arbeiten, dann ist das eine zwiespältige Angelegenheit. Sie haben eine große Liebe für das, was sie tun. Aber sie flüchten sich auch aus dem Leben. Lambert begibt sich also aus der Deckung, er fährt an einen Ort, an dem er nicht so geschützt ist, und das gibt Lara die Gelegenheit, ihn in seiner Verletzlichkeit zu sehen, ganz anders als zuhause, wo er in Sicherheit war."

    Die siebzehnjährige Lara verlässt London, sie folgt einer Einladung ihres Vaters nach Italien. Der Vater heißt Lambert, doch dies ist der Name seines zweiten Lebens. Früher, in Österreich, hieß er Wolfgang. Wolfgang hat Österreich 1938 verlassen, und er ist nie zurückgekehrt. Weder seine Eltern noch seine Geschwister haben den Holocaust überlebt. Lara und Lambert verbringen während des mehrwöchigen Italienurlaubs zum ersten Mal Zeit miteinander. Esther Freud beschreibt, wie fremd sie sich bei aller Zuneigung sind. Nähe fehlt umso mehr, als die Suche danach nicht ausgesprochen wird. Wie in einem Filmnegativ zeigt sich so das Abwesende. Es schafft eine subkutane Spannung, die die folgenden Ereignisse färbt.

    An der Oberfläche des Romans passiert lange Zeit bemerkenswert wenig. Der Sommer dehnt sich, es ist heiß, man langweilt sich in größeren Gruppen. Lara, Lambert und deren Gastgeberin werden auf das benachbarte Gut eingeladen. Hier erholt sich ein ganzer britischer Clan, Sir Andrew Willoughby und sein Gefolge von den Anstrengungen des Daseins in der Londoner High Society. Lara ist eine Außenseiterin, sie kennt sich nicht aus mit den Gepflogenheiten der Upperclass. Lambert hingegen bewegt sich zwar gelangweilt, aber sicher auf dem glatten Parkett.

    "Ich kenne mich ganz gut aus im Leben der britischen Upperclass. Ich war also mit meiner Geschichte in Italien, und die Willoughbys waren auch schon da. Jeder Leser empfindet sie anders, der eine findet diese Menschen einfach grauenhaft, mir waren sie eigentlich ganz sympathisch. Es handelt sich bei den Willoughbys einfach um eine Gemeinschaft, die ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt hat, und deswegen habe ich sie gewählt. Ich wollte zeigen, dass Lambert nie dazugehören würde, und Lara auch nicht. Es ist fast unmöglich, von der Upperclass akzeptiert zu werden, und es ist ein scheußliches Gefühl, wenn man irgendwo eingeladen wird, und dann die Gastgeber unterhalten muss."

    Nach etlichen Dinners, langen Sitzungen am Pool, Abendausflügen der jungen Leute ins benachbarte Siena, einer Séance und einem kleinen Unfall, kurz, nach allerlei Belanglosigkeiten, die sich in der Schwüle des Sommers doch drückend verdichten, nähert sich die Geschichte ihrem eigenen Zentrum. Lara hat sich in Kip verliebt, den einzigen Sohn und Erben des Sir Andrew Willoughby. Dann schnappt sie eine Unterhaltung auf, die darauf schließen lässt, dass ihr eigener Vater auch der Vater von Kip sein könnte. Lara will von Kip nicht lassen, und so bleibt ihr nur eine Wahl, nämlich den sich ständig entwindenden Lambert zur Rede zu stellen. Jetzt wird deutlich, dass dieser Roman bei aller Schlichtheit der Konstruktion und auch der Sprache erstaunlich viele Schichten hat. Er ist Gesellschafts- und Adoleszenzroman, in ihm birgt sich ein Familiendrama und die Geschichte der ersten große Liebe. All dies schiebt sich wie bei einer tektonischen Erdbewegungen ineinander, und löst am Ende sogar ein kleines Beben aus.

    "Es war niemand da. Die Terrassentür war zugeschlagen, weiter nichts, und von der Wucht war auch eine Schranktür zugeflogen. Doch jetzt hatte sie Angst und wurde sie nicht mehr los. Sie lief durchs Haus, machte Türen auf und zu und versuchte, sich in den Griff zu bekommen. Doch selbst als sie nach draußen ging und sich auf eine Liege setzte, wurde sie das Gefühl nicht los, sie wäre nicht allein. (...). Wo sollte sie hin? Sie war jetzt auf der Straße, und ein Wagen fuhr mit quietschenden Reifen vorbei. Ein Mann mit Sonnenbrille hupte laut, während die anderen beiden sie durch die geöffneten Fenster angafften und mit Händen und Zunge obszöne Gesten machten."

    Das Denouement gestaltet sich raffiniert, denn Esther Freud ist nicht nur eine kluge Autorin, sondern sie hat auch Bühnenerfahrung. Wie eine Kulisse gestaltet sie ihre Räume, und dem Text liegt letztlich eine dramatische Struktur zugrunde und auch ein dramatisches Erzählanliegen. Und wie jedes gute Drama einen Kern hat, einen einzigen Satz, auf den sich alles reduzieren lässt, was sich abendfüllend auf der Bühne abspielt, so bewahrt auch dieser Roman ein Geheimnis, das sich ganz zuletzt offenbart. Die Spur führt zurück nach Österreich. Dort liegt die letzte Erklärung für alles, was Lambert bewegt, was er nie ausgesprochen hat, und was trotzdem Laras Leben bestimmt. Die Lösung ist einfach, klar und in ihrer Schlichtheit schön. Und Esther Freud hat einen ebensolchen Roman geschrieben.

    Esther Freuds "Liebe fällt"
    Aus dem Englischen übersetzt von Anke und Eberhard Kreutzer. Bloomsbury Berlin, 287 Seiten gebunden.