Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Die Stimmung in Moskau und in der Provinz

Auch mehr als ein Jahr nach der Präsidentschaftswahl in Russland setzen die oppositionellen Gruppen im Land auf Umbruch oder wenigstens Reformen. Mischa Gabowitsch porträtiert Aktivisten der Protestbewegung. Ein eigenes Kapitel widmet er "Pussy Riot".

Von Robert Baag | 15.07.2013
    Sie sind böse. Sie sind bissig. Sie sind ironisch. Sie können auch grobschlächtig sein. Meist aber sind sie witzig, originell, intelligent und spontan – die Losungen und Lieder der russischen Protestbewegung.

    "Putin kaputt" – einer der seit dem Spätherbst 2011 im Internet kursierenden Spottgesänge auf die bevorstehende abermalige Wahl des russischen Staatspräsidenten. Ganz bewusst spielen die anonymen Verfasser mit einem weithin im historischen Volksgedächtnis verankerten Triumphschrei vieler sowjetischer Soldaten bei ihrem Vormarsch nach Berlin gegen Ende des Zweiten Weltkriegs: "Gitler kaputt" – "Hitler ist kaputt". Mischa Gabowitsch schraubt diesen frisch verfremdeten Schlachtruf um einen akustischen Dreh weiter:

    "Putin kaputt!?

    Erst ein Ausrufezeichen. Dann ein Fragezeichen. In dieser Reihenfolge. Und was der so formulierte Titel auf dem Buch-Cover in großen schwarzen Lettern grafisch ankündigt, das setzt Gabowitsch konsequent auch inhaltlich um. Er sieht sich als Zeithistoriker, als einen Chronisten von "Russlands neuer Protestkultur" - so der Untertitel seiner Arbeit.

    Parallel dazu setzt er auf einen soziologisch-analytischen Ansatz. Der 35-jährige gebürtige Moskauer, der nun in Deutschland lebt und arbeitet, bezeichnet sich selbst als "
    "Bewegungs-Forscher":

    Dies ist ein Buch über die Menschen, die sich seit dem 4. Dezember 2011 in Bewegung gesetzt haben. Ein Buch über die Bürgerbewegung, nicht über die politische Opposition – ein nicht nur für Russland entscheidender Unterschied, obwohl die Trennlinie nicht in allen Fällen klar verläuft.

    Gabowitsch ist ein über den Tag hinaus gültiges Kompendium gelungen, das - gut lesbar - nicht nur einem russlandaffinen Fachpublikum neue Entdeckungen und spannende Einsichten zu liefern vermag. Keineswegs nur die international bekannten Protestszenen in den Metropolen Moskau und St. Petersburg haben ihn und sein Mitarbeiterteam interessiert.

    Auch die sogenannte russische Provinz kommt ausführlich zu Wort. Und nicht zuletzt bezieht Gabowitsch auch jene inzwischen ständig im Ausland lebenden, mit ihrer Heimat aber nach wie vor verbundenen Russen ein, die sich ebenfalls als Teil der aktuellen Protestbewegung dort verstehen:

    Die Mehrparteienwahlen in den neunziger Jahren hatten viele in Russland enttäuscht und ‚Demokratie‘ zu einem Schimpfwort werden lassen, da sie mit Verarmung, Chaos und ‚schwarzer PR‘ in Verbindung gebracht wurden und die erhoffte schnelle Verbesserung der Lebensumstände nicht eintrat. Es ist bezeichnend, dass die Demonstranten während der ersten großen Protestwelle im Winter 2011/12 zwar überall nach freien Wahlen riefen, das Wort ‚Demokratie‘ aber fast nur bei den Solidaritätskundgebungen im Ausland auf Plakaten zu lesen war.

    Auffällig – im Vergleich zur Jelzin-Zeit - sei deshalb:

    Zielte der Protest bis zum Beginn der Putin-Ära noch mehrheitlich auf den Erhalt sozialer Garantien ab, die aus der sowjetischen Zeit stammten, so pochten Protestierende inzwischen immer häufiger auf die Beachtung formaler Regeln, die bereits nach 1991 eingeführt, aber nicht eingehalten wurden: den Schutz von Privateigentum, Bankeinlagen oder Immobilieninvestitionen, aber auch Umweltschutz, Gefangenenrechte – oder faire Wahlen.

    Gabowitsch hat – zuweilen in Kurzreportagen – Aktivisten im Alltag begleitet, sie interviewt und porträtiert. Die quirlige, junge Kunstszene hat ihn ebenso neugierig gemacht wie das – "System Putin", dessen Genese sowie dessen heutige Herrschaftsstruktur inklusive der darin eingebetteten russisch-orthodoxen Kirche - Stichwort "Pussy Riot" und der Auftritt dieser Punk-Gruppe gegen Präsident und Patriarch in einer Kathedrale. Diesen inzwischen weltweit bekannten jungen Frauen sowie deren Relevanz innerhalb des russischen Protestspektrums widmet er ein eigenes von neun Hauptkapiteln.

    Hätte eine "Revolution in Orange" wie vor fast zehn Jahren in der Ukraine auch in Russland eine Chance? Wäre sie erstrebenswert? Das versucht er ebenso herauszufinden wie ihn die Motivation und die anwachsende Zahl einheimischer Wahlbeobachter interessiert, die mit ihren Aktivitäten nachhaltig für Unruhe bei russischen Politikern und Funktionären gesorgt haben.

    Fasziniert von seinem Thema, getragen von häufig durchschimmernder Sympathie für die von ihm befragten Protagonisten, bewahrt Gabowitsch in der Analyse dennoch nüchterne Distanz: "Putin kaputt?!" – eine Frage also, oder doch eher ein Ausrufezeichen?

    Den Erfolg der Bewegung(...) danach zu beurteilen, ob es ihr gelingt, Putin zu stürzen, wäre kurzsichtig. Solche Erfolgskriterien kann nur anlegen, wer gewaltfreie Protestbewegungen holzschnittartig als einen Kampf um alles oder nichts zwischen bösen Diktatoren und guten Demokraten ansieht. Putins unvermeidlicher Abgang allein wird keines von Russlands großen Problemen lösen.

    Denn, begründet Gabowitsch:

    Klar ist, dass ein Wandel des politischen Systems nur unter Mitwirkung zumindest eines Teils der derzeitigen Elite und insbesondere des von ihr kontrollierten Gewaltapparats möglich ist. Gerade hier aber liegen die taktischen Defizite der Protestbewegung, von der bislang nur wenige Initiativen zu einem Dialog mit dieser Elite (...)ausgehen.

    Auch wenn sich vor anderthalb Jahren eine überraschende Dynamik wie aus dem vermeintlichen Nichts entfesselt habe – von einer flächendeckenden Protestbewegung könne heute in Russland noch keine Rede sein.

    Zu dieser Arbeit von Mischa Gabowitsch sollte greifen, wem an einer unaufgeregten, aktuellen Bestandsaufnahme der Stimmung und Lage in Russland gelegen ist. Seine Analysen sowie die sich daraus ergebenden Optionen künftiger Entwicklungen dort speisen sich zuverlässig aus einer beeindruckenden Fakten- und Datenfülle, nicht zuletzt aus einer Vielzahl von gut sortierten Internetquellen.

    Zwar wird selbst solch ein Resümee hartgesottene sogenannte Russland-Versteher in Deutschland und anderswo kaum davon abhalten, Mischa Gabowitsch reflexhaft dem Lager der angeblichen "Russland-Hasser" zuzuschlagen. Doch das wird er bestimmt tapfer hinzunehmen wissen. Immerhin befände er sich dort nicht in der schlechtesten Gesellschaft.

    Mischa Gabowitsch: "Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur"
    Edition Suhrkamp, 438 Seiten, 16 Euro, ISBN: 978-3-518-12661-5