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Die Straße, das Kind und der Tod

Der Tod löst bei uns unterschiedliche Gefühle aus. Die einen trauern in Stille, die anderen flüchten davor durch Verdrängung, die Nächsten müssen sich mitteilen. Die beiden nachfolgenden Romane beschreiben den Umgang mit dem Kindstod.

Von Hajo Steinert | 25.11.2010
    Lange Listen ließen sich über den Tod des Vaters oder der Mutter in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart zusammenstellen. Oft sind die erschienenen Texte autobiografischer Natur. Und von daher auf die Wirkung von Lesern, die sich über die Subjektivität des geschilderten Schicksals hinaus befassen mögen, begrenzt. Für die meisten Autoren ist das Schreiben über den Tod eines nahe stehenden Menschen eine Form der Trauerarbeit. Auch das Schreiben über die Erwartung des eigenen Todes ist in der Literatur der Gegenwart durchaus kein Tabu. Die Verdrängung des Todes aus unserem Bewusstsein – auf die Literatur trifft diese These nicht zu.

    Sterben und Tod sind für Autoren seit jeher nicht nur eine existentielle, sondern auch eine literarische Grenzerfahrung. Die Erfahrung des Todes ist die Ursache für die Verwerfung eines munteren Erzählens der linearen Art. Wer über den Tod schreibt, kann nur stockend erzählen. Er erzählt mit angehaltenem Atem. Gerät an die Mauer des Schweigens. Aber was erst, wenn der Tod eines Kindes zu beklagen ist? - Mindestens drei starke Romane der laufenden Saison stellen sich dieser schrecklichsten aller Erfahrungen. Es sind, wohlgemerkt, fiktive Texte. Gerade deshalb haben sie mehr Gewicht als eine vom eigenen Ich angetriebene und auf das eigene Ich bezogene Prosa.

    In Lisa-Marie Dickreiters eindrucksvollem Romandebüt "Vom Atmen unter Wasser" erleben wir, wie unterschiedlich die Trauer der Eltern der ermordeten sechzehnjährigen Tochter ausfällt. Die auf sich selbst zurück gefallene Mutter gibt sich bis hin zum Selbstmordversuch der eigenen Trauer und dem Schmerz geradezu narzisstisch hin. Der Vater dagegen versucht, klaren Kopf zu behalten und sucht den vitalen Ausweg aus der Krise, er flüchtet in die Affäre mit einer anderen Frau. Dritte Erzählfigur ist der Bruder der Ermordeten. So entsteht ein bedrückendes, literarisch indes vollauf geglücktes Bild einer Familie, in der nach dem Tod des Kindes jeder jeden und jeder sich selbst verliert.

    Das gilt auch für Annette Mingels’ sprachlich wie erzählstrategisch vorzüglichen Roman "Tontauben". Nach dem Unfalltod ihrer dreizehnjährigen Tochter - sie fuhr Fahrrad und wurde nachts auf einsamer Landstraße von einem Auto angefahren – leben sich die Eltern auseinander. Vom Unfallverursacher fehlt jede Spur. Das Familienleben gerät wegen der unterschiedlichen Arten, wie die Trauernden mit ihrem Schmerz umgehen, ins Schleudern. Der in seinem Verhalten bewusst blass gezeichnete Vater hält, so weit es geht, an den Ritualen der Vergangenheit fest. Die ältere Schwester, geplagt von Schuldvorwürfen, weil sie die jüngere in einem entscheidenden Moment aus den Augen verloren habe, klammert sich an die Kunst, sie spielt unentwegt Geige. Und die Mutter, deutlich die Hauptfigur des Romans, geht in die Offensive. Sie probiert, frustriert von den Ritualen einer Selbsterfahrungsgruppe, eine erotisch gestimmte Liaison mit ihrem Therapeuten. Und sucht eine neue berufliche Herausforderung, indem sie sich zur Maklerin in einem Kurzlehrgang ausbilden lässt.

    Die atmosphärisch ungemein dichte Geschichte spielt auf einer Nordseeinsel. Ohne in Landschaftsmalerei zu geraten, ist die mit wenigen Einstellungen dem Handlungsverlauf unterlegte nasskalte, melancholische Inselszenerie nicht nur Kulisse, sondern spiegelbildliche Entsprechung der Seelenlage der allesamt wie neben sich stehenden Figuren. Annette Mingels’ kühle, aber äußerst präzise gesetzte, herausfordernd lakonische, niemals gefühlig werdende, ganz und gar souverän angewandte erzähltechnische und sprachliche Mittel zeichnen ein Beziehungsgeflecht, das den Leser in eine dauernde Unruhe versetzt.

    Dann der Knick. Das Ende des linearen Erzählens. Annette Mingels’ Kunstgriff. Sie setzt neu an. Setzt in einem zweiten Kapitel eine andere Zweier-, eher Zufallsbeziehung, in Szene. Dramaturgisch ganz und gar überzeugend. Auf einem Mediävistenkongress lernen sich eine Frau und ein Mann, beide anderweitig verheiratet, kennen und beschließen, die Nacht im Hotelzimmer gemeinsam zu verbringen. Indes geraten sie bei der nächtlichen Autofahrt auf regennasser Fahrbahn in einen Händel, ein Aufprall am Kotflügel ist zu hören. Sie steigen aus, finden aber nichts, was mit dem Auto kollidiert haben könnte.

    So schließt sich der Teufelskreislauf, ohne dass die beteiligten Figuren das merken. Wir Leser allerdings doch, klappen das Buch zu, können nicht schlafen, grübeln über Schuld, Schicksal, Tragik, Zwangsläufigkeiten und Zufälle des Lebens. Von der Angst, dem eigenen Kinde könnte etwas Schlimmes passieren, ganz zu schweigen.

    Annette Mingels: Tontauben. Roman. DuMont Buchverlag, Köln 2010, 176 S.,
    Lisa-Marie Dickreiter: Vom Atmen unter Wasser. Bloomsbury Verlag. Berlin 2010, 272 S.
    "Tontauben", ein Roman von Annette Mingels
    "Tontauben", ein Roman von Annette Mingels (Dumont)