Freitag, 19. April 2024


Die Stunde des RIAS

O-Ton RIAS: Mit achtzig Mann fing es an. Die übrigen Kollegen von der Stalinallee schlossen sich an. In Berlins SED-Prachtstraße streikten die Arbeiter. Gegen Lohnsenkungen und Normenerhöhungen. Und dann zogen sie los, quer durch Ost-Berlin.

Von Barbara Schmidt-Mattern | 05.06.2003
    Schmitt: Ich hörte am späten Nachmittag des 16. Juni im RIAS, dass in der Stalinallee in Ostberlin die Bauarbeiter gestreikt hätten,

    erinnert sich Traugott Schmitt, damals Theologiestudent in Leipzig.

    Schmitt : Die Nachricht wurde alle halbe Stunde gesendet, das konnte demzufolge keine "Ente" sein. Sie hatte elektrisierende Wirkung.

    Springstubbe: Alle haben ihn gehört. RIAS haben alle gehört, obwohl’s nicht gelitten war.

    Harry Springstubbe, am 17. Juni Maurerlehrling in der Stalinallee.

    Springstubbe: Als die Ereignisse dann ihren Lauf nahmen, da ging das in die ganze DDR. Die haben’s ja über den RIAS eigentlich erfahren.

    RIAS, Rundfunk im amerikanischen Sektor - die von Deutschen unter amerikanischer Leitung betriebene Station im West-Teil Berlins genießt große Glaubwürdigkeit, insbesondere bei dem Teil der DDR-Bevölkerung, der dem SED-Regime kritisch oder ablehnend gegenübersteht. Der Gymnasiast Claus Krätzner aus Brandenburg.

    Krätzner: Dieser Sender war unsere hauptsächlichste Informationsquelle. Zwar wurde der Empfang des RIAS oft durch Störsender überlagert...

    O-Ton RIAS:... hier ist RIAS Berlin, eine freie Stimme in einer freien Welt....(wird durch Störsendergeheul überlagert)

    Krätzner: ... aber wir nahmen das in Kauf, um die Nachrichten aus dem freien Westen zu erhalten.

    Als sich die Bauarbeiter der Stalinallee am frühen Abend des 16. Juni entschließen, für den nächsten Tag zum Streik aufzurufen, schicken Sie eine Delegation zum RIAS-Gebäude. Harry Springstubbe fährt ins Funkhaus an der Kufsteiner Straße.

    Springstubbe: Ich kam dann um 19 Uhr dort an und dann sagte man, ja und? Was ich mir vorstelle. Dass der RIAS zum Generalstreik aufruft. Wir würden damit diplomatische Zwistigkeiten heraufbeschwören - und im übrigen - die 20 Uhr-Nachrichten wären schon gesprochen. Ich habe darauf geantwortet: Ja sonst singen Sie auch keine Lobeshymnen über die sowjetisch besetzte Zone, und jetzt wollen Sie uns im Stich lassen!

    Der RIAS ruft nicht zum Generalstreik auf. Stattdessen sendet er am Abend dieses 16. Juni einen Kommentar seines Programmdirektors Eberhard Schütz.

    O-Ton RIAS: Macht Euch die Ungewissheit, die Unsicherheit der Funktionäre zunutze. Verlangt das Mögliche, und wer von uns in Westberlin wäre bereit heute zu sagen, dass das, was vor acht Tagen noch unmöglich schien, heute nicht möglich wäre.

    Junick: Als ich am 17. Juni nach kurzer Nacht aufwachte, elektrisierten uns die Nachrichten vom Rias Berlin. In Ost-Berlin geschah etwas für uns Unvorstellbares. Die Nachrichten des Rias förmlich verschlungen, eilte ich in die Stadt...

    erinnert sich Peter Junick, damals Abiturient in Schkopau bei Merseburg. Auch der Berliner Harro Hess verfolgt die Ereignisse am Radio.

    Hess: Die Leute im Rias hatten plötzlich Arbeit, viel Arbeit. So schwer haben die beim Rias nie Geld verdienen müssen wie in diesen Tagen. Und die Bosse schwitzten sicher maßlos.

    O-Ton RIAS: 10 Uhr und 11 Minuten. Wir stehen auf dem Geländer des S-Bahnsteiges Potsdamer Platz. 10 Uhr und 11 Minuten. Jubel aus 5000 Kehlen der Demonstranten.,,,

    Twarock: Man hörte und hörte und konnte sich überhaupt nicht satt genug hören an dem Radio.

    Brunhilde Twarock, eine Schülerin aus Bitterfeld

    Twarock: Der Reporter hat das auch sehr emotional rübergebracht. Er war selbst überrascht, glaub ich, und ich hab so ein bisschen eine heimliche Freude in seinem Kommentar entdeckt.

    O-Ton RIAS : In Chemnitz demonstrierten die Arbeiter, in Thale, in Halberstadt, in Eisleben, Nordhausen, Sangerhausen, Saalfeld.

    Schmidt: Natürlich werden Leute ermuntert, wenn sie hören, dort, hier, dort - überall lodert's. Aha, also dann müssen wir uns einklinken.

    Wolfgang Schmidt hört den RIAS an diesem Tag in Leipzig. Am Abend des 17. Juni zeichnet der RIAS verschiedene Aufrufe von Demonstrationsteilnehmern auf, unter ihnen ist auch eine Studentin der Humboldt-Universität.

    O-Ton RIAS : So bitte, wir können. Liebe Kommilitonen, liebe Kommilitoninnen, nun ....ja, wie nun .... aus diesem Grunde richte ich an Euch den Aufruf, ja aber welchen? ... (Redakteur gibt vor:) ja, diesen Aufruf, dass die Studenten nach wie vor voll zusammen halten.. (Studentin:) Man müsste denen vielleicht vorschlagen, wann man sich.... (alle reden durcheinander...) rausblenden

    Ziemann: RIAS, der Sender hat ermuntert zum Aufstand, das muss man eigentlich ganz klar sagen ... so kam das an und so wurde das von vielen Leuten verstanden.

    Der 21-jährige Landwirtsohn Rolf Ziemann. Otto Beier, damals SED-Mitglied und Lehrer in Gotha, sieht die Rolle des West-Berliner Senders so:

    Beier: An ihrer Argumentation hat man doch gemerkt, dass die mit dahinter stecken. Es gab da schon Organisationen, die sehr im Trüben fischten, verlassen Sie sich drauf.

    O-Ton DDR-Rundfunk: Wir, meine Kollegen vom Deutschen Demokratischen Rundfunk und ich, überlassen es dem RIAS tolerant zu sein, wenn es um Elemente geht, die unser Volk in einen neuen Krieg stürzen wollen.

    Einen Monat nach den Ereignissen des 17. Juni befasst sich der Ostberliner Rundfunk mit der Berichterstattung auf beiden Seiten.

    O-Ton DDR-Rundfunk: Wir sind im Gegensatz zu den Westsendern der erste Rundfunk in Deutschland, der als Sender des deutschen Volkes die Interessen des deutschen Volkes verficht. Das ist das Wesen unseres Funks.

    Hess: Aber wer hörte denn auch den Berliner Rundfunk, die Stimme der Wahrheit? Wer denn? Selbst die scharfen Leute haben abends den RIAS angemacht und sich ins Fäustchen gelacht.