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Die Terrorismusforscherin Carolin Görzig
Wie lernen Terroristen?

Terrorgruppen lernen schnell, ihre Ziele anzugreifen. Sie sind häufig taktisch und strategisch den attackierten Staaten und in der Verwendung von technologischen und digitalen Mitteln und Methoden überlegen. Die Lernfähigkeit der Terrorgruppen ist ein Forschungsthema im Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale.

Von Florian Felix Weyh | 29.07.2018
    Ein Mann lädt am 18.08.2017 in Cambrils ein auf dem Dach liegendes Auto auf einen Abschleppwagen. Polizisten hatten dort zuvor fünf mutmaßliche Terroristen erschossen.
    Die Forscher suchen den direkten Kontakt zu Akteuren von Terrorgruppen (Emilio Morenatti/AP/dpa)
    "Natürlich ist es schwer, Daten für unsere Forschung zu erheben", sagt Carolin Görzig, die seit 2015 die Forschungsgruppe "How Terrorists learn" leitet. Dennoch versucht ihr Team, sich dem Denken von Terrorgruppen ohne Zielvorgaben zu nähern. Um herauszufinden, wie diese aus ihren Erfahrungen lernen, wird deren taktisches, operatives und strategisches Vorgehen analysiert. Die Forscher suchen den direkten Kontakt zu Akteuren von Terrorgruppen, aber: Wie viel Nähe zum Forschungsgegenstand ist den Ethnologen erlaubt? Am Ende stehen - auch politisch verwertbare - Erkenntnisse für ein Ziel: Wie verhandelt man mit Terroristen so, dass weitere Gewalt ausbleibt?

    Am 31. Juli 1959 gründete sich an der Universität Bilbao eine Studentenvereinigung, die sich zur zähesten Terrororganisation Europas entwickelte: die sogenannte baskische Befreiungsorganisation ETA. Nach 59 Jahren löste sie sich im Frühjahr 2018 selbst auf. Auch die kolumbianische FARC, entstanden 1964, legte 2017 nach einem zähen Verhandlungsprozess die Waffen nieder und wandelte sich in eine Partei um.
    Wie kommt es zum Ende terroristischer Vereinigungen? Welche politischen und sozialen Prozesse führen zur Auflösung von bewaffneten Gruppen, gar zum Eingeständnis ihres Scheiterns im paramilitärischen Kampf? Am Max-Planck-Institut für Ethnologische Forschung in Halle an der Saale leitet Carolin Görzig seit 2015 eine Arbeitsgruppe zu diesem Thema. Das Ende der ETA erscheint für sie weniger erwartungswidrig als deren stabile Existenz über mehrere Generationen hinweg.
    Carolin Görzig: "Tatsächlich ist überhaupt die lange Lebensdauer der ETA in gewissem Sinne schon auch überraschend, weil rein statistisch es der Fall ist, dass die Mehrheit solcher Gruppen bereits nach kurzer Zeit wieder aufhören zu existieren. Nur einer Minderheit gelingt es, sich über einen langen Zeitraum hinweg zu etablieren. Womit sich das erklären lässt, dass einige Gruppen länger fortdauern und manche Gruppen bereits nach kurzer Zeit verschwinden - da könnten mehrere Ansätze ins Spiel kommen. Zum einen die Fähigkeit von Gruppen, sich bestimmte Diskurse zu eigen zu machen und auch einen Wandel zu vollziehen von zum Beispiel antikolonialen, antinationalen, kommunistischen Diskursen oder auch religiösen Diskursen. So eine gewisse Flexibilität, ein gewisser Pragmatismus auch. Worauf wir auch den Fokus legen, ist unter anderem auch auf das Lernen solcher Gruppen: Wie fähig sind sie eben, Lernprozesse zu vollziehen und damit auch eine gewisse Anpassung an den Tag zu legen und sich auf bestimmte Sachen einzustellen? Und damit das zu erreichen, was eben nur einigen gelingt, nämlich sich über einen langen Zeitraum zu etablieren."
    Terroristen sehen sich als Freiheitskämpfer
    Nicht nur in der offiziellen Einstufung der Europäischen Union waren ETA und FARC Terrorgruppen, genauso wie die IRA, die Roten Brigaden, die Hamas und viele weitere, die man an dieser Stelle aufzählen könnte. Aus der Sicht der betroffenen Regierungen und dem Großteil der Bevölkerung ist der Bruch mit dem staatlichen Gewaltmonopol, um bloße Partikularinteressen durchzusetzen, von blanker Illegalität gekennzeichnet, auch wenn darauf von den Guerilleros - scheinbar idealistisch - Labels wie "Befreiungskampf" oder "Widerstand" geklebt werden.
    In der ethnologischen Forschung, wie sie Carolin Görzig mit ihren Mitarbeitern in Halle betreibt, will man allerdings die Binnensicht der bewaffneten Kämpfer begreifen. Diese verstehen sich meist gar nicht als Terroristen, sondern lehnen solche Zuschreibungen vehement ab, wie es ein Hamas-Führer gegenüber der Forscherin ausdrückte:
    "You say violence. I say resistance."
    Görzig: "Der Terrorismusbegriff ist natürlich hoch problematisch, da es ein Begriff ist, der genutzt wird, um den Opponenten zu delegitimieren. Und genau diesem Problem stellen wir uns auch, da wir uns in unserer Forschung damit beschäftigen, wie sich solche Gruppen selbst beschreiben und wie sie Fremdzuschreibungen wahrnehmen. Beziehungsweise ob sie das Konzept des Terrorismus vielleicht auch benutzen, um Opponenten - sei es andere nichtstaatliche oder staatliche Gruppen - zu beschreiben. Interessant ist für uns auch, noch mal im Zusammenhang mit der ETA, sind nicht nur deren Prozesse, die zur Radikalisierung und zur Verstetigung solcher Gruppen führen, sondern gerade auch De-Radikalisierungsprozesse und das Verlernen von Gewalt. Also wie es dazu kommt, dass Gruppen wie zum Beispiel die ETA plötzlich der Gewalt abschwören, also diese Verlernprozesse, Mechanismen des Verlernens von Gewalt."
    Wie lernen Terroristen, von der Gewalt abzuschwören?
    "How Terrorists learn", also "Wie Terroristen lernen", lautet der auf den ersten Blick irritierende Titel der Arbeitsgruppe im Max-Planck-Institut für Ethnologische Forschung. Dabei geht es selbstverständlich nicht um die Fähigkeit der Terroristen, Maschinengewehre zu bedienen oder Sprengstoffgürtel zu bauen.
    Im Mittelpunkt steht das Lernen und das Verlernen einer gewaltgeprägten Identität, und dabei weniger der Punkt, wie man zum Terroristen wird, als die Frage, wie man eingeschliffene Automatismen einer solch fatalen Existenzweise wieder abstreift?
    Görzig: "Wenn wir von Lernprozessen sprechen, interessieren wir uns zum einen für Lernen, das zu einer Veränderung des Verhaltens führt. Auch zu einer Veränderung von Taktiken beispielsweise. Es geht uns aber auch um die Veränderung von Ansichten, Einstellungen et cetera und die Frage, wie das zum Beispiel auch von außen beeinflusst werden kann. Also interessiert uns zum einen: Was passiert innerhalb solcher Gruppen, innerhalb dieser Black Box? Und wie können wir solche Lernprozesse, die da drinnen stattfinden, von außen beeinflussen, welche Dynamiken gibt es da, welche Einflussmöglichkeiten gibt es?"
    Terrororganisationen sind für die Forschung schwer zugänglich
    Eo ipso stellen Terrororganisationen eine Black Box dar: Jeder Kontakt nach außen gefährdet ihre Existenz. Für die ethnologische Sicht ist es allerdings unabdingbar, in diese Black Box hineinsehen zu können und direkt mit Terroristen zu kommunizieren. Ein diffiziles Setting:
    Görzig: "Ja, tatsächlich ist es natürlich sehr schwer, Daten für diese Forschung zu erheben. Denn aus offensichtlichen Gründen ist die Feldforschung natürlich erschwert. Das sind Gründe der Sicherheit, aber auch ethische Fragen, die aufgeworfen werden. Als ich damals die Gruppe gründete, habe ich aber beschlossen, dass wir uns dieser Aufgabe stellen, dieser Herausforderung stellen und ein bisschen dazu beitragen wollen, diese Lücke zu füllen. Diese Lücke der Primärdaten, der sich die Terrorismusforschung und die Friedens- und Konfliktforschung gegenübersieht. Das heißt, meine Mitarbeiter und Teammitglieder sind ins Feld gegangen, und wir haben qualitative Forschung durchgeführt und zum Teil mit ehemaligen Mitgliedern gesprochen und zum Teil mit aktuellen Mitgliedern. Zum Teil mit Familien, deren Familienmitglieder nach Syrien gegangen sind, als ein Beispiel. Es ist interessant, dass wenn man vor Ort ist, der Kontakt oftmals doch auch möglich wird. Und dabei haben wir natürlich alle nötigen Sicherheitsvorkehrungen getroffen, um sicher zu stellen, dass es nicht zu riskant wird."
    Im Jahr 2008 traf sich Carolin Görzig mit aktiven Hamas-Kämpfern und anderen islamistisch geprägten Gruppen. Daraus entstand dann ihre Promotion "Talking to Terrorists", die zum Fundament der aktuellen Forschungsgruppe wurde. Doch nicht nur im - schwierig zu führenden - Dialog mit aktiven Terrorgruppenmitgliedern lassen sich Erkenntnisse gewinnen, ergiebig kann auch der Umgang mit Aussteigern oder Inhaftierten sein.
    Görzig: "Also interessant ist zum Beispiel, wenn Gruppen sich de-radikalisieren, dass die, die ehemals solchen Gruppen angehörten, manche sogar danach streben, sich in der Öffentlichkeit eine Stimme zu geben und darüber sprechen wollen, was sie erlebt haben. Oder vielleicht auch ihre Botschaft vermitteln wollen, dass es nötig ist, der Gewalt abzuschwören. Ein Beispiel: Mitglieder der Roten Brigaden haben darüber gesprochen, über die Selbsterkenntnis, die sie teilweise im Gefängnis erlangt haben, nach mehreren Jahren oder teilweise nach Jahrzehnten. Eins der ehemaligen Mitglieder der Roten Brigaden sagte zum Beispiel: 'Es ist eine Sache, aus dem Gefängnis auszubrechen. Es ist eine andere Sache, aus dem mentalen Gefängnis auszubrechen.' Genau diese Prozesse interessieren uns eigentlich, die da stattfinden. Also auch die Selbsterkenntnis zum Beispiel von Anführern solcher Gruppen, die mentalen Gefängnisse. Das genau wollen wir erforschen. Und insbesondere ehemalige Mitglieder bieten da ein mögliches Ansprechfeld."
    Jeder Kontakt mit Terroristen wirft ethische Fragen auf
    Allerdings existiert nie eine neutrale Kommunikationssituation: Beide Parteien -Terroristen und Ex-Terroristen wie die Ethnologen - haben unterschiedliche Motive für und verschiedene Interessen an den Gesprächen. Schon die Frage der Auswertung des Interviewmaterials und deren für die Forscher unabdingbare Veröffentlichung wirft wissenschaftsethische Fragen auf, wie sie Carolin Görzig in einem Text beschreibt:
    "Eine Kollegin von mir, die in Konfliktregionen Feldforschung betrieb und die Ergebnisse in einem Journal über Terrorismus veröffentlichte, überdachte nachträglich diese Publikation, da sie die Ansicht gewann, dass die Veröffentlichung in einer Zeitschrift mit dem Label 'Terrorismus' gleichbedeutend mit einem Verrat ihrer Interviewpartner sei. Das berührt die Frage, in welchem Ausmaß ein Forscher seine Interviewpartner und Kontaktpersonen belastet. […] Es ist entscheidend, die Interviewten als Forschungssubjekte zu betrachten, die eine gewisse Kontrolle darüber haben wollen, was über sie geschrieben wird. Doch steht hier die Unabhängigkeit und intellektuelle Freiheit des Forschers auf dem Spiel - ein Dilemma, das jeder Forscher für sich selbst entscheiden muss."
    In der Feldforschung mit Terroristen sind solche Dilemmata häufig. Allein die Frage, wem der Dialog am meisten nützt - den Terroristen, der Wissenschaft, der Politik oder gar den Strafverfolgungsbehörden - steht ständig im Raum.
    Görzig: "Auf der einen Seite könnte man Gefahr laufen, von staatlicher Seite instrumentalisiert zu werden, dass also die eigene Forschung dort für bestimmte Zwecke genutzt wird. Auf der anderen Seite kann man aber auch genau im Gegenteil zum Propagandawerkzeug der Interviewten werden. Und was man tun kann, um sich davor zu schützen, ist indem man die eigenen normativen Ansprüche problematisiert, reflektiert und klar und deutlich macht. Dadurch kann man verhindern, dass das passiert. Dadurch wird man sich vielleicht auch stärker bewusst, wann es passiert. Also wann es dazu kommt, dass man zu sehr Partei ergreift. Ich denke, wenn man sich klarmacht, welche eigenen Ziele man verfolgt oder welche eigenen normativen Ansprüche man hat, merkt man, ob man instrumentalisiert wird oder ob man jetzt zu stark auf eine Seite sich schlägt. Interessant ist zum Beispiel das Zitat der Gamaa Islamija, die sagte über ihre eigene Abkehr von der Gewalt, dass Einsicht kommt durch Distanz. Sie sprechen darüber, dass wenn man in Aktion und Reaktion gefangen ist, also im Kampf gefangen ist, dass dann dieser Mangel an Distanz auch dazu führt, dass man eben nicht die nötigen Einsichten gewinnt."
    Das Pentagon missbrauchte Ethnologen für eigene Zwecke
    Distanz ist ein Grundgebot objektiver Wissenschaft. Sieben Jahre lang, von 2007 bis 2014, instrumentalisierte allerdings das amerikanische Verteidigungsministerium Ethnologen für seinen Kampf gegen den Terror. Im so genannten "Human Terrain System" (HTS) schickte man Feldforscher aus, um mit
    "…deren Fachkenntnissen und Sprachkenntnissen dem Militär [zu] helfen, eine intelligentere Aufstandsbekämpfung im Irak und in Afghanistan zu leisten. Diese Spezialisten sind unter anderem dazu bestimmt, die Bevölkerung von Städten und Dörfern zu kartieren, die relevanten Klans und die darin enthaltenen Verwerfungen zu identifizieren und dann die US-Kommandeure über den richtigen Ansatz zur Nutzung lokaler Unterstützung zu beraten."
    Diese "Nutzung lokaler Unterstützung" - wie es damals im Magazin "Newsweek" hieß - ließ sich natürlich auch umgekehrt deuten, nämlich als fast zynischer Euphemismus. Denn eine solche Kartierung von Klanstrukturen zeigt auch, wer die Strippenzieher in einer Region sind, deren etwaige Tötung dann einen größeren militärischen Nutzen aufweist, als wenn man jemanden aus dem Fußvolk eliminiert. Das "Human Terrain System" geriet schnell in die Kritik. Zu Recht, meint die Terrorismusforscherin Carolin Görzig:
    Görzig: "Es ist schwierig. Wir sprechen hier von 'embedded anthropology', also diesen 'eingebetteten Anthropologen'. Und die Wissenschaft zu sehr in den Dienst bestimmter politischer Zwecke zu stellen, erschwert es natürlich auch der Wissenschaft, einen gewissen Status als unabhängige Forschung zu etablieren. Ich denke, diese verdeckte Forschung ist schwierig. Man muss, und da sind wir wieder bei der normativen Agenda, die eigenen Ansprüche, die eigenen Ziele, all das muss man erst sich selbst klarmachen und dann auch während der Forschung klar und deutlich formulieren und kommunizieren."
    Gibt es einen Unterschied zwischen Verteilungs- und Identitätskonflikten?
    In der internationalen Konfliktforschung unterscheidet man gerne zwischen Verteilungskonflikten und Identitätskonflikten, wobei letztere als komplizierter gelten. Im Hallenser Max-Planck-Institut für Ethnologische Forschung pflegt man dagegen eine andere Sicht der Dinge, wie sie der Direktor Günther Schlee in einem Aufsatz präzisiert:
    "Allgemein lässt sich sagen, dass es keine 'identitären Konflikte' im Unterschied zu 'Ressourcenkonflikten' gibt. Die im englischen Sprachgebrauch häufig getroffene Unterscheidung von identity based conflicts und resource based conflicts ist unsinnig, auch wenn schon einige schwer nachvollziehbare Theorien daran haften, etwa dass identitäre Konflikte unerbittlich seien und Ressourcenkonflikte im Unterschied dazu verhandelbar. Ob jemand sich mit seinen Nachbarn als Angehöriger einer weiteren Klanallianz definiert und mit ihnen Ressourcen teilt oder ob er seine Nachbarn als Abtrünnige vom Islam im Bündnis mit Christen und Gottlosen betrachtet und sich mit Islamisten aus anderen Landesteilen gegen sie verbündet, ist ein Ressourcenkonflikt, der durch Identifikationen (Selbstbeschreibungen und Feindbilder) ausgetragen wird, oder ein Identitätskonflikt mit Implikationen für die Ressourcenverteilung - wie man will. Die Frage nach der Identität ist die Frage nach Subjekten: Wer mit wem gegen wen? Und die Frage nach den Ressourcen ist die Frage nach dem Objekt: Wer beansprucht was, worum geht es? Jede Konfliktanalyse muss beide Fragen beantworten und klären, wie die beiden Perspektiven miteinander zusammenhängen."
    Görzig: "Also wenn Sie jetzt sagen, Verteilungskonflikte könnte man nicht in Nullsummenspiele, sondern könnte man in Win-win-Szenarien übersetzen, und das ist schwerer für Identitätskonflikte, dann könnte man auch aus dieser Perspektive darüber nachdenken, inwiefern Identitäten auch in einem Zusammenhang mit Ressourcen stehen. Denkt man zum Beispiel an das Thema 'Territorium'. Identität und Territorium sind zwei Dinge, die stark zusammengehören. Das erleichtert die Konflikte nicht unbedingt, aber das ermöglich vielleicht eine neue Art des Nachdenkens über den Konflikt. Interessant ist hier, dass das Territorium oftmals so was wie Erinnerung, Geschichte transportiert, also Symbole transportiert, alles das, was für das Thema Identitätsstiftung wichtig ist. Wenn man zum Beispiel den Tempelberg nimmt, könnte man ja auch darüber nachdenken, wie man neue gemeinsame Identitäten schafft. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass ja oftmals sich Gruppen formieren in In-Gruppen, also gegen eine Außengruppe formieren, dass die Identität innerhalb der Gruppe gestärkt wird durch das Feindbild nach außen. Und die Frage, die sich für mich auftut in Konflikten, wo sich zwei Identitäten gegenüberstehen, ob diese zwei Identitäten, diese zwei Populationen sich zusammenschließen können und sich gegen etwas Drittes identifizieren? Das bedeutet natürlich nicht, dass ein neuer Feind im Jetzt und Hier geschaffen werden muss, in der Gegenwart, sondern dass man sich auch gegen die Vergangenheit abgrenzen kann. Der Feind kann ja auch der vergangene Konflikt sein. Also einfach Identität neu denken."
    Lässt sich ethnologische Erkenntnis in Mediationsprozesse übersetzen?
    Streitparteien, die über einen langen Zeitraum, ja über Generationen hinweg miteinander im Zwist liegen und dabei hochsymbolische und für die eigene Identität scheinbar unverzichtbare Gebietsansprüche stellen, wie dies etwa im Konflikt um den Jerusalemer Tempelberg der Fall ist, können sich womöglich nicht mit eigener Kraft aus der gegenseitigen Umklammerung befreien. Der Einsatz einer neutralen Mediationsinstanz wäre wünschenswert. Doch liegt so etwas überhaupt in der Perspektive von Carolin Görzigs Forschungsarbeit? Wollen die Ethnologin und ihr Team primär die Binnenstruktur von Terrorgruppen verstehen oder zielen sie auch auf eine praktische Anwendung ihrer Erkenntnisse?
    Görzig: "Was wir natürlich schon denken, ist, dass unsere Forschung auch politisch relevant ist und auch gesellschaftlich relevant ist, und dass wir auch einen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Man könnte sich zum Beispiel vorstellen, dass als Ergebnis dieser Forschung interdisziplinäre Teams zusammenfinden und zusammen Maßnahmen aufstellen oder einfach Verhandlungen begleiten. Ich hab mich zum Beispiel auseinandergesetzt mit der Gamaa Islamija, die sich gemäßigt hat, während sie im Gefängnis saß und mehrere Bücher darüber geschrieben hat über diese Mäßigung, und in diesen Büchern auch darlegt, wie sie zu diesen neuen Gesichtspunkten gekommen ist. Und da ist es interessant, dass man, wenn man diese Bücher liest, mehrere Disziplinen heranziehen könnte, um zu verstehen, was sich da vollzogen hat und wie sie zu diesem tiefen Gesinnungswandel gekommen sind? Man könnte zum Beispiel Kommunikationswissenschaften heranziehen, wenn man die Debatte innerhalb der Gruppe sich anschaut. Oder auch Psychologie, Prozesse von kognitiver Dissonanz. Dissonanzen, die aufgelöst werden, wenn es darum geht, darüber nachzudenken, ob Jihad sein Ziel erreicht hat? Und wenn nicht, wie man damit umgeht? Man könnte auch andere Disziplinen heranziehen, Soziologie, organisatorisches Lernen, Lernprozesse, die stattfinden. Oder auch das Thema Recht. Teilweise lesen sich die Bücher wie eine Darstellung der Theorie des gerechten Krieges. Es geht zum Beispiel um Proportionalität, um das Töten von Zivilisten. Was ich damit sagen will, ist, dass mehrere Disziplinen hier bestimmt Ansatzpunkte finden würden, diesen Gesinnungswandel zu erklären. Das ist auch der gemeinsame Nenner, nämlich die Abkehr von Gewalt. Und wenn man sagt, man macht das einfach mal und guckt, wie diese unterschiedlichen Disziplinen das erklären würden, könnte man auch denken, dass es im Ergebnis interessant sein könnte für Verhandlungsstrategien. Für die Frage, wie man ein interdisziplinäres Team zusammensetzen würde, um zum Beispiel solche Verhandlungen zu führen. Oder diese zu beraten. Oder Guidelines aufzustellen, was würde denn solche Gruppen wirklich überzeugen, von der Gewalt sich abzuwenden? Was wären zündende, überzeugende Argumente?"
    Beispiel FARC in Kolumbien - ein steiniger Weg zu Frieden
    Ein seltener Fall, in dem es zu einer Friedenslösung durch Verhandlungen mit Terroristen gekommen ist, stellt die Kapitulation und anschließende Umwandlung der kolumbianischen FARC in eine zivile Partei dar. Dafür erhielt der damalige kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos den Friedensnobelpreis. Doch das erreichte Ergebnis blieb brüchig, die FARC scheiterte an der Wahlurne dramatisch und erhielt ihre Parlamentssitze nur aufgrund der getroffenen Vereinbarungen: Ex‑Terroristen traut man offensichtlich keine zivilen politischen Lösungsstrategien zu, ganz zu schweigen von der in der Bevölkerung stark umstrittenen Straffreiheit für zahllose Verbrechen. Aber auch bei den FARC-Rebellen griffen kurz nach Verkündigung des Friedensvertrags einzelne Splittergruppen wieder zu den Waffen.
    Görzig: "Zum einen ist ja die Sache so, dass die politische Situation natürlich volatil ist oftmals in solchen Konflikten. Gerade auch in Konflikten wie in Kolumbien, wo es nicht nur zwei Akteure gibt, die sich gegenüberstehen, sondern mindestens drei oder vier. Mehrere nichtstaatliche Gruppen auch gibt, die untereinander konkurrieren oder die kooperieren. Also sehr komplexe Dynamiken, die sich gegenseitig beeinflussen. Und wir haben in Kolumbien immer wieder gesehen, wenn mit einer Gruppe Frieden geschlossen wird, dass eine andere Gruppe praktisch als Spielverderber der Verhandlung aufgetreten ist und die Verhandlung torpediert hat. Genau wie das auch im Nahost-Konflikt mit moderateren oder radikalen Elementen der Fall ist."
    In jeder Terrororganisation gibt es Vertreter einer moderaten, also in Maßen kommunikationsbereiten Linie, und radikale oder fundamentalistische Kräfte, die jeden Dialog ablehnen, weil sie ihre Stärke aus der Reinheit der Lehre beziehen. Mit Radikalen zu verhandeln, erweist sich oft als unmöglich. Doch üblicherweise ist ihre gruppeninterne Position stärker als die der meist zahlenmäßig unterlegenen Moderaten. Außenstehende, die mit einer Gruppe in Kontakt treten wollen, haben aber oft schon Probleme, beide Fraktionen eindeutig zu identifizieren.
    Görzig: "Das Konzept 'radikal' ist natürlich auch sehr relativ. Wenn man sagt 'radikal', dann impliziert man natürlich, dass es was Moderates gibt. Und dann ist die Frage, wie definiert man 'moderat'? Radikal im Verhältnis zu was, also was ist wirklich das Moderate? Interessant ist, wenn man sich Radikale und Moderate anguckt, ist ja auch die zweite Frage: Wie kann man das von draußen beeinflussen, zum Beispiel durch Kommunikation? Und auch hier gibt es verschiedene Mittel, die Staaten zur Verfügung haben. Viele üben ja Druck aus auf die Radikalen und zeigen den Moderaten einen Weg nach draußen. Das ist eine gängige Strategie, mit der man versucht, solche Gruppen zu überzeugen. Interessant ist jedoch, dass Radikale oftmals den Druck nutzen, um die Moderaten zu beschuldigen und diese zu einem Sündenbock zu machen, und dass die Moderaten interessanterweise Druck oftmals auch konstruktiv nutzen können, nämlich als ein Argument, um Wandel intern durchzusetzen, für den sie bereits die Ideen hatten. Wenn sie bereits Ideen haben für Veränderung und von außen kommt Druck, kann das ein willkommenes Fenster der Möglichkeit sein, um Druck intern durchzusetzen."
    Lernen unter Druck ist wenig nachhaltig
    "Ist es möglich, unter Druck zu lernen? Forscher verschiedener Fachrichtungen haben beobachtet, dass Druck nur zu Veränderungen im Routineverhalten führt, und das Gelernte nicht internalisiert wird. Wenn Menschen unter Druck lernen, besteht ihr Hauptziel häufig darin, den Druck zu stoppen. Was sie wirklich dabei lernen, ist kaum von Bedeutung für sie. Manchmal kann Druck auch dazu führen, dass die unter Druck stehende Person ihr Verhalten verlernt. Sobald der Druck aber wieder verschwunden ist, tritt das vorangegangene Verhalten wieder auf. Daher sind die Auswirkungen von Druck häufig kurzfristig und nicht nachhaltig."
    Görzig: "Interessant ist des weiteren, dass wenn man über Kommunikation nachdenkt, dass Verhandlungen, die radikalere Elemente einschließen, natürlich dann auch größere Chancen haben als natürlich nur Verhandlungen mit Moderaten, da ja die Radikalen wiederum die Spielverderber sein könnten, die die Verhandlungen torpedieren. Und genau das führt uns wieder zurück auf die Frage: Wer nimmt an den Verhandlungen teil? Wie viele Parteien nehmen an den Verhandlungen teil, macht man einen umfassenden Ansatz, dass man sagt, man bringt alle Leute an den Tisch, also eine inklusive Verhandlung? Oder sagt man, man schließt bestimmte Elemente aus und riskiert damit die Umsetzung der Verhandlung."
    Belohnt ein Friedensschluss vorangegangene Terrorakte?
    Entscheidend ist zwar, mit wem man Vereinbarungen trifft, doch um diese treffen zu können, muss man auch etwas anzubieten haben, wie etwa im Prozess um die Demilitarisierung der kolumbianischen FARC das Zugeständnis garantierter Parlamentssitze für die ehemalige Terrororganisation. Denn nimmt man den Titel der Arbeitsgruppe im Max-Planck-Institut für Ethnologische Forschung wörtlich, "How Terrorists learn", muss es für Terroristen, die sich von der Gewalt abwenden, eine Belohnung geben; ohne Belohnungen lernt der Mensch nichts. Honoriert man aber andererseits damit nicht vorangegangenes gewalttätiges Verhalten?
    Görzig: "Damit habe ich mich während meiner Promotion befasst. Nämlich der Frage, inwiefern Belohnungen an Terrorgruppen andere Gruppen dazu ermutigen, Gewalt zu kopieren? Das ist vielleicht interessant, diese Dynamiken, diese Copy‑Cat‑Reaktionen, diese Domino-Reaktionen. Dieses Argument über diese Copy‑Cat-Reaktionen ist das Argument, das der Nichtverhandlungs-Doktrin zugrunde liegt. Nämlich der Idee, dass man keine Verhandlungen machen darf, weil das vielleicht ein paar Leben retten würde, aber das Leben Hunderter oder von mehr Menschen sonst gefährden würde. Und in dieser Forschung bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass das Bild komplexer ist, wenn wir es empirisch untersuchen. Ich habe in vier Ländern Feldforschung durchgeführt und habe festgestellt, dass unter bestimmen Bedingungen Gruppen auch die Abkehr von Gewalt kopieren. Dass sie also nicht nur Gewalt unbedingt kopieren als Folge von Konzessionen an ihre Rollenmodelle, an ihre Vorbilder, sondern dass sie teilweise auch die Abkehr von Gewalt kopieren. Und das hängt zum einen von der Beziehung ab, die solche Gruppen zu ihren Rollenmodellen haben, die Konzessionen erhalten. Und es hängt zum anderen auch von der Art der Konzessionen ab. Also sprechen wir zum Beispiel von selektiven Konzessionen, die nur Gruppenmitglieder betreffen? Oder sprechen wir von kollektiven Konzessionen, die die gesamte Gesellschaft betreffen? In der Summe lässt sich sagen, Gruppen kopieren nicht immer Gewalt, und das heißt, dass Konzessionen nicht dazu führen, dass es zu einer Kettenreaktion kommt, und wenn man Konzessionen an eine Gruppe macht, dass andere Gruppen Gewalt kopieren. Dass nämlich auch die Abkehr von Gewalt kopiert werden kann und dass manchmal es auch zu Innovation kommt eher als zur Copy‑Cat‑Reaktion. Die Frage ist also, wie man signalisiert, dass nicht Gewalt belohnt wird, sondern die Abkehr von Gewalt belohnt wird. Das ist das Entscheidende, und das ist eine Frage des politischen Signalisierens."
    Zu diesen Signalen gehört wie im Falle der FARC auch die Zubilligung von Straffreiheit für terroristische Taten. In der kolumbianischen Bevölkerung ist sie hoch umstritten und sorgte bei der letzten Wahl für einen politischen Umschwung zugunsten der Aussöhnungsgegner. Fast alle Gesellschaften tun sich schwer mit solchen Gesten, weil diese mit dem tief verwurzelten Gefühl für Recht und Unrecht kollidieren.
    Görzig: "Das ist auch interessant im Zusammenhang mit der Friedens-versus-Justiz-Debatte, 'justice with peace debate', nämlich die Frage, was macht man: Gibt man ein bisschen das Recht auf Vergeltung auf in der Funktion von Frieden? Dass man sagt, man erkauft sich den Frieden, indem man irgendwas auf Recht aufgibt? Oder sagt man, man pocht auf das Recht und bestraft diese Täter, was dann aber oft zur Folge hat, dass bestimmte Täter gar nicht der Gewalt abschwören, sondern sagen: 'Wir bleiben hier in den Bergen, wir wollen uns nicht der Justiz unterwerfen, das lohnt sich für uns nicht.' Also dieses Austarieren zwischen Frieden und Justiz ist die Frage. Und dazu gibt es Forschung, die gezeigt hat, dass Verhandlungen, die vor allem rückwärtsgewandt sind und auf Recht beharren und auf Bestrafung, dass die nicht so vorausschauend sind. Dass wiederum Verhandlungen, die sagen 'Wir legen jetzt alles beiseite, wir fangen noch mal von vorne an und wir schauen in die Zukunft gemeinsam', dass das teilweise konstruktiver sein kann und auch vielversprechender, weil es um Konfliktlösung geht."
    IRA und ANC - ein Ausstieg ist möglich
    Zwei Länder, die in der Vergangenheit den Transformationsprozess geschafft haben, mächtige Terrororganisationen in politisch wirksame Kräfte umzuwandeln, waren Südafrika mit dem ANC und Nordirland mit der IRA. So tritt der ehemalige IRA‑Führer Gerry Adams inzwischen als "Elder Statesman" auf und bestätigt in den Augen vieler gewaltbereiter Aktivisten von heute das eigene Selbstbild, man sei keine terroristische Gruppierung, sondern eine legitime Vereinigung im vorpolitischen Raum.
    Görzig: "Wenn man sie auf den Terrorismusbegriff anspricht, kommt oftmals 'Mandela war ein Terrorist, Adams war ein Terrorist, guck, sie sind jetzt Staatsmänner!' Das ist auch so eine Zweischneidigkeit in der internationalen Politik oder in diesen Geschehnissen, ob man damit vielleicht auch Gewalt belohnt. Andererseits denke ich, dieses konstruktive Einbinden von Konfliktakteuren ist ganz wichtig. Und ist zum Beispiel interessant mit der 'Provisional IRA', dass diese, als die damals an den Verhandlungen teilgenommen hat, zum Beispiel vom ANC gelernt hat. Der ANC ist auch direkt in die Gefängnisse gegangen in Nordirland und hat ihnen gesagt: 'Schaut mal, wenn ihr an den Verhandlungen teilnehmt, dann bedeutet das nicht aufgeben. Das bedeutet nicht, dass ihr einfach nur aufgebt und nachgebt.' Sie haben gesagt, das kann auch eine Art von Sieg sein, nämlich ein Sieg mit anderen Mitteln, nicht mit Mitteln der Gewalt. Es gibt eine Möglichkeit für euch, diese Friedensverhandlungen konstruktiv zu nutzen und einfach diesen neuen Weg zu beschreiten. Das Interessante ist also, dass solche Gruppe auch voneinander lernen und sich auch gegenseitig beraten und dass natürlich das, was am anderen Ende der Welt passiert, dass das auch Lerneffekte auslöst und Reflektionen auslöst über die eigenen Entscheidungen. Was der ANC eigentlich zeigt, ist: Man kann auch ohne Gewalt was erreichen! Und das ist doch ein konstruktives Signal."
    Wobei in Südafrika von 1996 bis 1998 die "Wahrheits- und Versöhnungskommission" maßgeblich zur Befriedung der Gesellschaft beitrug. Bei diesem öffentlichen Aufklärungsprozess wurden alle Gewalttaten benannt - die des Apartheitregimes auf der einen Seite und die der dagegen kämpfenden Organisationen wie dem ANC auf der anderen Seite. Den Opfern sprach man eine zumindest symbolische Entschädigung zu. Dieses Vorbild inspirierte später Ausstiegsszenarien wie das der IRA in Nordirland. Es gibt also einen Lichtblick, terroristische Gewalt‑und‑Gegengewalt-Spiralen zu durchbrechen. Grundsätzlich allerdings verspricht das Feld, das Carolin Görzig und ihr Ethnologen-Team in Halle bearbeiten, kaum kurzfristige Erfolge:
    Görzig: "Als ich damals mit meiner Promotion anfing, war meine normative Agenda 'Verhandeln ist immer die Lösung'. Sprechen führt immer zum Frieden, es ist immer sinnvoll, mit allen Akteuren zu sprechen und Verhandeln ist immer die richtige Option. Also eine sehr idealistische Herangehensweise. Gleichzeitig muss ich aber auch sagen, dass im Laufe meiner Forschung ich schon auch für mich entdeckt hab, dass die Realität eben wirklich komplexer ist. Und dass es Bedingungen gibt, unter welchen Verhandeln die richtige Option ist und wann es vielleicht auch Dinge erschweren kann. Es ist also kein Schwarzweißbild, es ist wirklich komplexer. Und die Frage für uns ist dann als Wissenschaftler, diese Bedingung herauszufinden: Wann führen Verhandlungen zu mehr Frieden und wann führen sie eventuell doch zu mehr Gewalt. Die Frage ist nämlich nicht diese Ja/nein-Frage, sondern die Wie‑Frage: Wie führt das zu dem? Also über das Ja/nein hinauszukommen, das ja auch oft die Politik bestimmt, in der diskutiert wird: Dürfen wir überhaupt verhandeln? Ist nicht die bessere Frage: Wie verhandelt man? Was wäre die erfolgreiche Verhandlungsstrategie?"