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Die tiefen Wunden der verlorenen Lebensträume

Vom Grund des Lago Maggiore möchte Jordi einen Bugatti bergen. Und stellt dabei immer mehr fest, dass er selbst über die Jahre zu einem Eigenbrötler geworden ist. Dea Loher beschreibt dies in ihrem Roman "Bugatti taucht auf".

Von Eva Pfister | 11.05.2012
    In einer Karnevalsnacht in Locarno im Februar 2008 prügelten drei Jugendliche aus Ex-Jugoslawien den 22-jährigen Damiano Tamagni zu Tode. Im Juli des folgenden Jahres wurde das Wrack eines Oldtimers aus dem Lago Maggiore geborgen, ein Bugatti, der seit 1937 auf dem Grund des Sees lag. Was Dea Loher dazu inspiriert hat, über diese beiden Vorfälle einen Roman zu schreiben, ist deren außergewöhnliche Verknüpfung. Denn ein Taucher aus Ascona, dem eine Unterwasserfirma gehört, beschloss, das Auto heraufzuholen, um diese Bergung dem Ermordeten zu widmen. Im Roman heißt das Opfer Luca und der Unternehmer Jordi. Er befindet sich zum Zeitpunkt der Tat in Südamerika. Als er vom Mord an Luca erfährt, fliegt er zurück in die Schweiz, erlebt die Trauer der Familie und die aufflammende Ausländerfeindlichkeit der Einheimischen.

    "Und Jordi dachte, es sollte doch möglich sein, der Aufregung über die drei Täter, ihre Familien, ihre Herkunft und ihre Gefährlichkeit eine andere Handlung entgegenzusetzen, die den Ausschlag dieser Waage veränderte; etwas Schwerwiegendes, das man nicht ignorieren, nicht wegmessen, nicht verwerfen konnte; etwas gutartig Schönes, dessen Kraft einen Teil der Gewalttat überstrahlen könnte; etwas, das dem Schrecken und der Hysterie, die diesen Mord umgaben, trotzen konnte; etwas Unfertiges, Fragendes, das Fantasien und Interesse auf sich zog; eine Geschichte, die von irgendwoher kam und von der man nicht sagen konnte, wo sie enden würde. Ein Riesending, ein Zartes."
    Dea Lohers Blick auf die Vorfälle in diesem südlichen Zipfel der Schweiz, und die Sprache, die sie dafür findet, sind ungewöhnlich. Im völligen Gegensatz zur medialen Skandalisierung, die solche Verbrechen nach sich ziehen, blickt die Autorin ruhig hinter die Fassaden und verfolgt aufmerksam alltägliche, auch unscheinbare Handlungen der Menschen.
    Ascona, einst ein Mekka für Künstler, erlebt Jordi als "ein verschlafenes und irgendwie treuherziges Nest", dessen Bewohner in einer selbstzufriedenen Trägheit verharrten. Diese stehe in einem merkwürdigen Gegensatz zur Hysterie, die ausbrach angesichts der Tatsache, dass die drei Täter aus bosnischen Familien stammen. Dea Loher erwähnt diese Ausländerfeindlichkeit nur am Rande; sie macht auch die drei Täter nicht zu Romanfiguren, sondern schildert äußerst distanziert den Tathergang. Das erstaunt doch bei einer Autorin, die in ihren Dramen oft Gewalttäter ins Zentrum rückte, so in ihrem Stück "Adam Geist", dessen Held an Büchners Woyzeck erinnert.

    "Es ist ja so, dass die Drei bei der Tat beobachtet wurden und auch in derselben Nacht noch verhaftet wurden; was nicht beantwortet werden kann. Und das ist das eigentlich Schreckliche an der Tat oder das, was sie so unbegreiflich macht, es gibt keine Antwort auf die Frage nach dem "Warum". Für mein Empfinden war es so, dass ich gedacht habe, wenn ich jetzt anfangen würde, die Familien, die Lebensumstände, die Biografie, die Herkunft und so weiter dieser drei Täter zu beschreiben und sondieren, was mit den Dreien passiert ist, dann hätte das immer den latenten Anspruch, da muss aber doch noch eine Ursache oder ein Grund zu finden sein, was die Drei dann letztlich zu diesem Mord treibt. Für den Roman schien mir das eine falsche Konstruktion. Ich wollte das nur bei der Beschreibung der Tat belassen, um so radikal wie möglich diese leere Mitte auszustellen."

    Tatsächlich begleitet einen bei der Lektüre die unbeantwortete Frage nach dem Motiv der Täter; ohne beruhigende Erklärung behält die sinnlose Tat ihren Schrecken. An den Anfang des Romans stellt Dea Loher jedoch nicht den Mord, sondern das fiktive Tagebuch von Rembrandt Bugatti. Der jüngere Bruder des Autokonstrukteurs war Bildhauer, für seine Tierfiguren arbeitete er im Zoo von Antwerpen nach lebenden Modellen, sein aufrecht stehender Elefant wurde als Bugatti-Kühlerfigur bekannt. Im ersten Weltkrieg arbeitete Rembrandt Bugatti als Sanitäter, danach litt er zunehmend an Depressionen. Dea Loher lässt ihn im April 1915 in sein Tagebuch schreiben: "Ich wäre gern ein anderer gewesen, einer, für den das Leben nicht voller Tücken und die Welt voller Hindernisse ist."

    "Rembrandt Bugatti ist für mich eine Art von Gegenfigur zu Jordi. Beide hadern mit ihrem Leben und beide versuchen, einen Sinn in ihrem Leben zu finden. Das ist so ein Motiv, das sich bei beiden auch durchzieht. Jordi kann diese Bergung des Bugatti dann stemmen und er schafft es auch, sein Leben danach sehr zu verändern. Er verkauft sein Unternehmen und zieht in die Welt quasi - und das ist etwas, was Rembrandt nicht schafft. Er zerbricht an den Kriegserlebnissen, die er hatte in Antwerpen, und nimmt sich dann das Leben. Ja, es war für mich ein Pendant zu Jordi."

    Jordi ist der eigentliche Held des Romans. Er verbohrt sich in die Idee, das Wrack aus dem Lago Maggiore zu bergen, um diese Tat dem ermordeten Luca zu widmen. "Ein ertränktes, versenktes Auto für einen erschlagenen, zu Tode getretenen Jungen", wie er seinen Taucherfreunden erklärt. Diese sind skeptisch, denn außer der Narbe eines Rades ist auf dem Grund nichts zu sehen. Aber Jordi zieht das Projekt gegen alle Hindernisse durch. Er lässt sich von alten Tessinern erzählen, wie es dazu kam, dass 1937 ein solch exklusives Auto versenkt wurde. Und sucht einen Experten für Oldtimer auf, der sich in seinem Chalet in den Alpen zwischen Bergen von Zeitschriften und Fotos eingemauert hat, eine wunderbar surreale Szenerie.

    Zugleich lässt Dea Loher ihren Protagonisten in die eigene Vergangenheit eintauchen. Jordi denkt zurück an seine erste Liebe; es ist Patrizia, dieselbe Frau, mit der er jetzt in einer lockeren Beziehung zusammen ist. Damals aber hatte sie ihn verlassen, um einen Ökonomiestudenten zu heiraten. Und Jordi erinnert sich, wie er gezwungen war, allein die Firma zu übernehmen, da sein Bruder nicht zur Verfügung stand. Je länger er um die Bergung des Bugattis kämpft, desto unzufriedener wird er mit seinem Leben.

    "Er war es leid, in Spuren zu gehen. Was er, Jordi, wollte, hatte ihn nie einer gefragt, sein Ehrgeiz hatte ihn geleitet und manchmal irregeführt. Was ihn, Jordi, glücklich machte, war eine Frage, über die alle Leute, die er kannte, einschließlich Patrizia, hellauf gelacht hätten. Jordi ist nur alleine glücklich, hätten viele gesagt, oder in einer Hütte am Meer mit Schnaps und Weibern. So schlecht kannten sie ihn, so leicht glaubten sie ihm. Alles, was er sich einmal gewünscht hatte, hatte sein Bruder ihm genommen; alles, was er sich einmal gewünscht hatte, hatte sein Bruder bekommen: den Rausch, die Familie."

    Jordis Leben wurde in die Spur gebracht durch seinen Bruder Manuel, der lange Jahre drogenabhängig war, später aber dank seiner Frau von der Sucht loskam und eine Familie gründete. Davor hatte Jordi sich vergeblich bemüht, ihn aus der Sucht zu holen. So blieb ihm die Arbeit, da war er tüchtig. Aber über die Jahre war er zum Eigenbrötler geworden, was ihm jetzt bewusst wird. Dennoch stolpert man über den anklagenden Satz: "Alles, was er sich einmal gewünscht hatte, hatte sein Bruder ihm genommen."

    "Die Firma, die sollten beide Brüder weiterführen, Jordi und sein Bruder Manuel. Und es ist so, dass Jordi dann die Firma alleine übernimmt, weil sein Bruder eben heroinsüchtig ist und verschwindet, also gar nicht mehr in Ascona und am Lago Maggiore wohnt. Und Jordi das Gefühl hat, er muss sich nicht nur um seinen Bruder kümmern, sondern er muss auch dieses Unternehmen aufrecht halten, das heißt, er lebt ein Leben sehr stark aus einem Pflichtgefühl und einem Verantwortungsgefühl heraus, was ihm sicherlich nur zum Teil entspricht. Und er gründet selber keine Familie. Und ich glaube, dieser Satz "Alles, was er sich einmal gewünscht hatte, hatte sein Bruder ihm genommen" bezieht sich darauf, dass Jordi seinen Bruder vermutlich auch ein bisschen beneidet, natürlich nicht um die Sucht und auch nicht um sein gefährdetes Leben, aber wahrscheinlich um die Freiheit, die er sich genommen hat, zu tun, was er wollte."

    Dea Loher äußert sich auffällig zurückhaltend über ihre Figuren, so als hätten die noch ein Eigenleben, das sie nicht unbedingt kennt. Diese Haltung ist auch im Roman zu spüren – und ist vielleicht charakteristisch für die Theaterautorin, die ihren Figuren zwar Text in den Mund legt, es aber der Regie und den Schauspielern überlässt, sie zum Leben zu erwecken. Ungern gibt Loher das Innenleben ihrer Romanfiguren preis, lieber erfindet sie aussagekräftige Szenen. So beobachten wir Jordis Bruder Manuel, der zaghaft versucht, mit der Familie wieder Kontakt aufzunehmen, wie er durch das offene Fenster den kranken Vater im Bett liegen sieht, ihn lange anschaut und dann wieder umkehrt – ohne ins Haus zu gehen.

    Manche Szenen sind von einer so beklemmenden Absurdität, dass sie von Beckett stammen könnten. Kann es sein, dass Dea Loher in der Prosa ihre inszenatorische Fantasie ausleben kann?

    "Was die Bühne betrifft, habe ich keine inszenatorische Fantasie, also ich könnte keines meiner Stücke selber inszenieren, das ist vollkommen unmöglich. Aber es ist bei der Prosa natürlich eine komplett andere Herangehensweise. Zum Beispiel die Szene, in der Jordi und Umberto vor dem Fernseher sitzen und stundenlang auf eine Pferderennbahn gucken, auf der nix passiert. Und ungefähr einmal alle drei Stunden läuft ein Pferd vorbei. Dann ist das natürlich eine Szene, die auf dem Theater - also sie wäre vermutlich nicht unmöglich, aber sie würde sich nicht anbieten. Und das fand ich dann schon sehr lustvoll, also, dass ich die Möglichkeit hatte, Dinge zu beschreiben, die sich nicht aus dem Text einer Figur heraus entwickeln, sondern die einfach von außen beschrieben sind."

    "Bugatti taucht auf" ist spannend und oft amüsant zu lesen. Aber jenseits der realen Begebenheiten stellt Dea Loher die Frage, wie man mit Verlust und Vergänglichkeit umgeht. Jordis Vorhaben, das Autowrack aus dem Grund des Sees heraufzuholen, erscheint wie der Versuch einer Wiederbelebung – eine Aktion gegen die eigene Hilflosigkeit angesichts eines empörenden und ungerechten Todes. Und: Eine Aktion gegen eine als sinnlos erfahrene Existenz, denn auch der Verlust von Lebensträumen kann tief Wunden schlagen.

    Buchinfos:
    Dea Loher: "Bugatti taucht auf", Wallstein Verlag, Göttingen 2012, 208 Seiten, Preis: 19,90 Euro