Donnerstag, 28. März 2024

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Die Ukraine, die EU und Russland
Zwischen Abhängigkeit und Perspektive

Vor einem Jahr wurde das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine verabschiedet. Der Handelsteil aber wurde bis Ende 2015 verschoben. Zwar würde die Ukraine von einer wirtschaftlichen Annäherung an die EU durchaus profitieren. Doch ein zweiter wichtiger Handelspartner, Nachbar und Gegner sieht das mit Argwohn: Russland.

Von Alois Berger | 29.08.2015
    Ein Junge mit einer ins Gesicht gemalten gelb-blauen ukrainischen Flagge, auf der auch die Sterne der EU-Fahne zu sehen sind.
    Die Ukraine und die EU nähern sich unter Russlands Augen an - aber um welchen Preis? (dpa / Itar-Tass / Hrabar Vitaliy)
    "Die Ukraine hat sich längst entschieden, sie hat sich für die europäischen Werte entschieden. Europa muss jetzt endlich akzeptieren, dass die Ukraine ein europäisches Land ist."
    Der ukrainische Erzbischof Klyment von Simferopol und der Krim versteht nicht, warum die Europäische Union nicht eindeutiger Partei ergreift für sein Land, warum die EU so zögerlich ist bei der Unterstützung der Ukraine. Der Mittvierziger mit dem schwarzgrauen Bart ist ein ruhiger, hartnäckiger Mann. Er war in den letzten Monaten viel unterwegs, in Kiew, in Berlin, in Brüssel. Und er hat eine klare Botschaft:
    "Wir brauchen von Europa nicht nur soziale und wirtschaftliche Hilfe, Europa muss uns auch militärisch helfen, unser Land zu verteidigen."
    Viele in der Ukraine denken wie der Erzbischof. Bei den Feierlichkeiten zum ukrainischen Unabhängigkeitstag Anfang der Woche warnte Präsident Petro Poroschenko vor der Gefahr eines russischen Einmarsches im Osten des Landes. Auch bei seinem Treffen am Montagabend in Berlin mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Francois Hollande kam das Thema auf den Tisch.
    Helfen, ja: Aber keine Waffen
    Doch von Waffenlieferungen oder gar einer militärischen Unterstützung wollen die Regierungen der Europäischen Union nichts wissen. Zu groß ist die Angst, dass dadurch der Konflikt im Donbass weiter angeheizt würde, dass sich die russische Regierung dadurch ermuntert fühlen könnte, die Separatisten offen und mit noch mehr russischen Waffen zu unterstützen.
    Die Europäische Union setzt auf Verhandlungen und Verträge, selbst wenn diese, so wie das Minsker Abkommen, immer wieder gebrochen werden. Besser ein wackeliger Waffenstillstand als ein offener Krieg. Vor allem aber setzt die EU auf die Stabilisierung der Ukraine durch wirtschaftliche Unterstützung, auf die Überzeugungskraft eines wirtschaftlichen Aufschwungs.
    Das Assoziierungsabkommen der EU mit Kiew ist das Kernstück dieser Perspektive. Es wurde vor einem Jahr in Kraft gesetzt. Allerdings nur der politische Teil, der eine engere Zusammenarbeit in Fragen der Demokratie und Menschenrechte vorsieht, bei der Kriminalitätsbekämpfung und bei Fragen der Sicherheitspolitik. Der wirtschaftliche Teil mit dem Abbau von Zöllen und Handelsschranken wurde auf Drängen der russischen Regierung vorerst ausgesetzt.
    Doch die Ukraine braucht jetzt mehr denn je vor allem wirtschaftliche und finanzielle Hilfe. Der Krieg im Osten des Landes, der Konflikt mit Russland, die Sanktionen und Gegensanktionen machen dem Land schwer zu schaffen. Die ukrainische Währung hat die Hälfte ihres Wertes verloren. Die Arbeitslosigkeit ist dramatisch gestiegen, die Kaufkraft hat massiv abgenommen. Christian Overhoff ist Ukraine-Korrespondent der deutschen Außenhandelsagentur German Trade and Invest. Selbst Lebensmittel würden knapp, erzählt er, die Packungen kleiner, die Qualität schlechter:
    "Statt der 100 Gramm Tafel Schokolade gibt es jetzt 90 Gramm die Tafel, statt einem Liter Milch 900 Milliliter. Zum Teil arbeiten die Hersteller auch mit Tricks, kann man sagen. Sie bieten Käse aus Palmöl an oder Wurst mit weniger Fleisch. Und das in einem Land mit einem starken Agrarsektor wie der Ukraine. Vorher gab es nur erstklassige Wurst, und jetzt sieht man eben auch Wurst mit weniger Fleisch, und stattdessen wird mehr Wasser zugesetzt."
    Die Ukraine ist nach Russland das größte europäische Land - und das mit Abstand fruchtbarste. 30 Prozent der weltweiten Vorkommen an Schwarzerde liegen in der Ukraine, das Land galt lange Zeit als die Kornkammer Europas. Im Prinzip ist die Ukraine auch ein an Bodenschätzen reiches Land. Doch Korruption und Misswirtschaft haben immer wieder den Aufschwung verhindert, egal, wer regierte.
    Seit die Ukraine nun in der wirtschaftlichen Krise versinkt, greift die Europäische Kommission dem Land verstärkt unter die Arme. 3,4 Milliarden Euro wurden der Ukraine seit 2014 an Sonderkrediten bewilligt, mehr als irgendeinem anderen Nicht-EU-Land. Dutzende von EU-Beratern unterstützen Reform-Bemühungen der Regierung im Energiesektor, bei der Sozialhilfe, in der Verwaltung und auch bei der Polizei. Gerade die Polizei galt lange Zeit als besonders korrupt. Inzwischen sei fast das gesamte Personal ausgewechselt, sagt Christian Overhoff von German Trade and Invest. Die Polizei habe junge qualifizierte Leute eingestellt, mit Fremdsprachenkenntnissen und guter Ausbildung:
    "Viele gehen da mit großem Idealismus heran, und sie werden auch von der Bevölkerung sehr positiv aufgenommen. Die Bevölkerung ist stolz auf ihre neue Polizei. Das ist eine der ersten wichtigen großen Reformen in der Ukraine, eine sichtbare Reform."
    Bürokratie und Schmiergeld
    Doch solche Erfolge sind selten. In Justiz und Verwaltung bleibt noch viel zu tun. Vor allem ausländische Unternehmen klagen über ausufernde Bürokratie und allgegenwärtige Schmiergeldforderungen. Trotzdem sind die ausländischen Investitionen bis 2013 kontinuierlich gewachsen, wenn auch nur leicht. Vor allem die Autozulieferer haben die Ukraine als kostengünstigen Produktionsstandort schätzen gelernt, bestätigt Volker Treier vom Deutschen Industrie- Und Handelskammertag:
    "Das Lohnkostenniveau ist im Moment sehr niedrig, ist durch die Krise noch niedriger geworden. Andererseits herrscht in der Ukraine bei den Arbeitskräften eine europäische Kultur vor. Das heißt, man ist sich nahe und versteht sich doch schneller. Man könnte sagen, es ist ein Lohnkostenniveau wie in China mit relativ gut ausgebildeten Menschen, deren Mentalität uns viel näher ist als die der Chinesen, und insofern besteht da ein großes Potenzial."
    Doch der Konflikt mit Russland kommt die Ukraine nun teuer zu stehen. Die ausländischen Neu-Investitionen sind von über acht Milliarden Euro im Jahr 2012 auf 400 Millionen im Jahr 2014 zusammengeschrumpft. Die Investoren fürchten die Unsicherheit.
    Noch härter trifft die Ukraine der Zusammenbruch des Osthandels. Zu Zeiten der Sowjetunion bekam jedes Land von Moskau eine bestimmte Produktion zugeteilt. Die Ukraine war unter anderem für Raketenteile und Hubschraubermotoren zuständig. Um diese Sektoren herum entwickelte sich später eine breite Palette an Maschinenbaufirmen. Deren Produkte wurden seither vorwiegend für den Osten produziert, für Russland, Kasachstan, Aserbeidschan. Im Westen sind die Maschinen kaum abzusetzen: andere Normen, andere Qualitätsstandards.
    Heute ist der Ukraine nicht nur der russische Markt weggebrochen, auch die Ausfuhr in die östlichen Nachbarländer ist zurückgegangen. Dieser Rückgang hat nur zum Teil mit dem Streit mit Russland und den damit verbundenen Blockaden und Sanktionen zu tun. Die russische Wirtschaft hat viele hausgemachte Probleme, und das bekommen auch die Nachbarn zu spüren, meint Christian Overhoff von der staatlichen Außenhandelsagentur German Trade and Invest:
    "Der Hintergrund hier ist natürlich die Stagnation 2014 oder jetzt auch 2015, der Rückgang der Wirtschaft in Russland, das strahlt auch auf die anderen GUS-Staaten aus. Oder auch der gefallene Ölpreis. Kasachstan leidet unter dem gefallenen Ölpreis. Die Exporte in diese Regionen werden für die Ukraine auch in diesem Jahr weniger wichtig als in der Vergangenheit. Umso wichtiger werden die Exporte in die EU."
    Um die Wirtschaft der Ukraine zu stützen, hat die Europäische Union vor einem Jahr die Zollschranken für Waren aus der Ukraine weitgehend abgeschafft. Eigentlich sollte im September 2014 das gesamte Freihandelspaket des Assoziierungsabkommens in Kraft treten. Doch wegen der Proteste aus Moskau wurde dieser Teil des Abkommens aufgeschoben.
    Rund 80 Prozent aller Produkte dürfen seither ohne Gebühren in die EU eingeführt werden. Nach Berechnungen der EU-Kommission sparen ukrainische Unternehmen damit jährlich eine halbe Milliarde Euro. Der ukrainische Export in die Europäische Union ist deutlich angestiegen und konnte die Verluste im Handel mit Russland zumindest teilweise ausgleichen.
    Doch wieder einmal steht sich die Europäische Union bei der Stabilisierung der Ukraine selbst im Weg. Denn die größten Exportsteigerungen könnte die Ukraine bei Agrarerzeugnissen erreichen. In diesem Bereich ist das Land konkurrenzfähig. Aber unter dem Druck der europäischen Bauernverbände wurden genau diese Einfuhren gleich wieder gedrosselt und Mengenbeschränkungen eingeführt. Christian Overhoff von German Trade and Invest:
    "Fleisch, Geflügelfleisch, Getreide, da könnten sie mehr liefern. Das würde für die Ukraine weitere Exporterlöse, wichtige Devisenerlöse, bedeuten."
    Für die Ukraine ist der einseitige Zollverzicht der EU trotz allem ein gutes Geschäft. Die ukrainischen Unternehmen können derzeit leichter in die EU exportieren, ohne selbst der Konkurrenz aus dem Westen ausgesetzt zu sein. Denn die ukrainischen Zölle, etwa auf westliche Maschinen, auf gehobene Lebensmittel oder auch auf Haushaltsprodukte, bleiben vorerst weiter bestehen.
    Zum Jahresende aber soll damit Schluss sein. Die Europäische Union will dann das Assoziierungsabkommen vollständig umsetzen, mitsamt Freihandel und Konkurrenzdruck. Darauf drängen nicht nur die europäischen Unternehmerverbände. Nach Ansicht der EU-Kommission braucht die ukrainische Wirtschaft den Wettbewerbsdruck, um die nötige Modernisierung der veralteten Produktionsanlagen anzupacken.
    Russland fürchtet den europäischen Wettbewerb
    Das hat erwartbar Protest ausgelöst. Der kommt allerdings nicht aus Kiew, sondern aus Moskau. Das Assoziierungsabkommen bringe Nachteile für den russischen Handel mit der Ukraine, kritisiert die russische Regierung. Sie droht deshalb mit weiteren Wirtschaftssanktionen gegenüber der Ukraine. Diese Drohungen seien durchaus ernst gemeint, glaubt Susan Stewart von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin:
    "Das passt schon ins Bild des russischen Verhaltens. Ich sehe das so, dass Russland die Ukraine momentan instabil halten möchte und die Westintegration der Ukraine verhindern will. Diese Wirtschaftssanktionen würden zur Instabilität der jetzigen Lage beitragen, und wenn es dazu führt, dass diese die Westintegration in Form des Assoziierungsabkommens und besonders in der Form des vertieften Freihandels nicht weiter verfolgen kann, dann ist eben dieses Ziel von Moskau erreicht."
    Dabei war das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine lange Zeit offensichtlich kein Problem für Moskau. Seit 2008 wird über das Abkommen verhandelt, und selbst nach 2010, unter dem moskautreuen ukrainischen Viktor Janukowitsch, gingen die Gespräche reibungslos weiter. Ähnliche Abkommen handelte die EU auch mit Georgien und Moldau aus, und sie bot auch Moskau ein Assoziierungsabkommen an. Doch die russische Regierung hatte kein Interesse an einer solchen Zusammenarbeit. Auf einer Stufe mit Ländern wie Georgien oder der Ukraine zu stehen, das kam für die russische Regierung nicht in Frage.
    Um dem Geltungsbedürfnis Moskaus entgegenzukommen, wurde der EU-Russland-Partnerschaftsrat gegründet. Alle sechs Monate trafen sich Vertreter der EU mit russischen Diplomaten, um über Sicherheitspolitik und weitere mögliche Felder der Zusammenarbeit zu reden. Auch sonst war Russland in Brüssel in vielen offiziellen Runden vertreten. Zeitweise gingen fast 100 russische Regierungsvertreter in Brüssel bei der EU und auch bei der NATO ein und aus. Vertrauensbildende Maßnahmen nannte man das. Auch die Assoziierungsabkommen wurden in diesen Runden diskutiert, doch Russland schien keine Einwände zu haben.
    Erst im Laufe des Jahres 2013 änderte sich plötzlich die Tonlage. Russland begann, das Ukraine-Abkommen zu kritisieren und machte Druck auf den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowytsch, den Vertrag zu stoppen. Sergey Markedonov ist Direktor am Moskauer Institut für Politik und Militäranalysen. Der Inhalt des Abkommens sei nie das Problem gewesen, resümiert Markedonov. In Moskau werde das Abkommen als Teil einer westlichen Strategie gesehen, Russland durch einen Ring feindlicher Nachbarn einzukreisen.
    "Russland ist misstrauisch gegenüber der westlichen Politik gerade wegen der Nato-Erweiterung. Viele Politiker in Russland betrachten das Assoziierungsabkommen als einen Schritt der Ukraine in Richtung Nato."
    In der Tat hatte die Ukraine bereits 2005 auf einen Beitritt zur NATO und zur Europäischen Gemeinschaft gedrängt. Beide Organisationen lehnten einen solchen Beitritt mit großer Mehrheit ab, in beiden Fällen nicht zuletzt aus Rücksicht auf die russischen Empfindlichkeiten. Sowohl für die NATO, als auch für die Europäische Union ist eine vernünftige Zusammenarbeit mit Russland weit wichtiger als mit der Ukraine. Der Handelsaustausch der EU mit Russland ist zehnmal größer als mit der Ukraine. Vor allem sind die meisten EU-Länder äußerst abhängig vom russischen Gas.
    Genau deshalb hat die EU der Ukraine das Assoziierungsabkommen angeboten. Ein Abkommen, klein genug, um Russland nicht zu provozieren, aber breit genug, um die Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft unterstützen zu können. Dabei geht es zum einen um Reformen des Staatsapparates, zum anderen um die Einführung europäischer Standards. In der Lebensmittelproduktion etwa müssen strenge Hygienevorschriften eingehalten werden: Fleisch muss in geschlossenen Kühlketten transportiert werden, die Herkunft der Produkte muss dokumentiert werden, die Kontrollen müssen von unabhängigen Instituten vorgenommen werden. Volker Treier vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag.
    "Das schafft die Bedingungen, dass sich die Ukraine so modernisiert, dass sie leichter als es bisher möglich ist, in die Europäische Union Waren liefern kann und nicht nur in die Europäische Union, sondern darüber hinaus auch weltweit, weil europäische Standards eben weltweit einen guten Ruf genießen und akzeptiert sind."
    Im Sommer letzten Jahres forderte die EU-Kommission die russische Regierung auf, die bis dahin sehr wolkige und sehr pauschale Kritik am Assoziierungsabkommen zu konkretisieren. Die EU wollte wissen, mit welchen Teilen des Abkommens Moskau Probleme habe.
    Am 1. September 2014 schickte Russland einen Katalog mit 2370 Punkten. Sie betrafen praktisch alle Vorschriften aus dem Freihandelsabkommen. Die Vorgaben, so die russische Seite, widersprächen den russischen Standards und könnten den Handel mit Russland behindern.
    Das ist nicht ganz falsch. Es ist nur so, dass jedes Land selbst entscheidet, in welchem Handelssystem es bessere Chancen sieht. Die Ukraine hat sich für das europäische entschieden. Das schließt nicht aus, dass manche Unternehmen weiterhin nach den alten russischen Standards produzieren.
    Der lettische Sonderbotschafter für die östlichen Partnerschaften der EU, Juris Poikans:
    "Ein beträchtlicher Teil der ukrainischen Wirtschaft bewegt sich ganz selbstverständlich im russischen Markt. Viele Produkte sind traditionell für den russischen Markt bestimmt und wären im Westen kaum zu verkaufen. Natürlich hatte die Ukraine bei den Verhandlungen mit uns diese russischen Verbindungen immer im Kopf und auch berücksichtigt. Es war deren Entscheidung, wie weit sie mit uns gehen wollten. Das Assoziierungsabkommen ist das Ergebnis eines Kompromisses."
    Ein Jahr lang hat die EU-Kommission vergeblich versucht, in technischen Gesprächen die 2370 russischen Bedenken auszuräumen. Eine komplizierte Aufgabe. Zum einen konnten die EU-Vertreter von den europäischen Standards nicht abrücken: Käse, der in der EU verkauft werden soll, muss den europäischen Kontroll- und Hygienevorschriften entsprechen und nicht den russischen. Zum anderen wussten alle Beteiligten, dass es Moskau in Wirklichkeit weder um den Käse noch um die Wurst ging. Moskau wollte zeigen, dass es die Ukraine als Teil seiner Einflusszone betrachtet. Sergey Markedonov vom Moskauer Politik- und Militärinstitut:
    "Das Problem für Russland ist nicht der Inhalt des Abkommens, das Problem ist die Ignoranz russischer Interessen. Russland sieht sich als Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur, und nicht als ein Land, das durch einen Cordon Sanitaire aus benachbarten Ländern eingezäunt werden soll."
    Mit anderen Worten: Jede Anbindung der Ukraine an die EU verletze die Interessen Russlands. Aber je mehr Moskau auf dieser Sichtweise beharrt, desto stärker pochen die Menschen vor allem im Westen der Ukraine darauf, dass sich das Land so schnell und so eng wie möglich an den Westen bindet. Die ukrainische Politikwissenschaftlerin Iryna Brunova-Kalisetzka sieht eine rapide wachsende Entfremdung gegenüber Russland:
    "Vor zwei Jahren wäre es sehr viel eher möglich gewesen, dass die Ukraine eine Brücke zwischen der EU und Russland geworden wäre. Derzeit wäre das kaum vorstellbar, denn die Angst der Ukrainer vor Russland ist sehr viel größer als das Interesse am Erhalt der wirtschaftlichen Zusammenarbeit."
    Irina Brunova Kalisetzka gehört zu den Wissenschaftlerinnen, die zuhause in Kiew davor warnen, die Russen zu dämonisieren.
    "Russland war, ist und wird immer ein Nachbar bleiben, mit dem die Ukraine auskommen muss. Das ist einfach so."
    Der lettische Sonderbotschafter Juris Poikans hofft, dass sich in Moskau bald wieder kühlere Köpfe durchsetzen, die wirtschaftlichen Austausch als positive Entwicklung und nicht als politische Einflussnahme sehen. Russland werde von der Annäherung der Ukraine an die Europäische Union profitieren, versichert Poikans.
    "Es war zu keiner Zeit Ziel der Europäischen Union, die wirtschaftlichen Beziehungen Russlands zu seinen Nachbarn zu beschädigen. Lettland ist seit zehn Jahren Mitglied der Europäischen Union und in dieser Zeit hat unser Handel mit Russland dramatisch zugenommen. Wir sehen deshalb keinen Widerspruch für die Ukraine. Wir glauben nach wie vor, dass die Ukraine beides haben kann: engere Handelsbeziehungen zur Europäischen Union und gleichzeitig zu Russland."