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"Die Union war nicht fähig, auch nur einen einzigen Euro zuzugestehen"

Sitzung für Sitzung habe die Opposition ihre Forderungen abgespeckt, sagt Anette Kramme, Obfrau der SPD im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales. Doch die Union habe beim Regelsatz gemauert, die FDP beim Thema Mindestlöhne.

Anette Kramme im Gespräch mit Martin Zagatta | 09.02.2011
    Martin Zagatta: Wir sind jetzt verbunden mit Anette Kramme, Obfrau der SPD im zuständigen Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales. Guten Tag, Frau Kramme!

    Anette Kramme: Grüß Gott!

    Zagatta: Frau Kramme, glauben Sie, dass Hartz-IV-Empfänger, die jetzt vorerst keine Erhöhungen bekommen, und dass die Bevölkerung das versteht, dass die SPD diese Neuregelung jetzt blockiert?

    Kramme: Ich bin mir ganz sicher, dass es dafür Verständnis geben wird. Situation ist nämlich diejenige, dass uns das Bundesverfassungsgericht nicht nur eine Empfehlung gegeben hat, sondern einen klaren Auftrag, Verfassungsmäßigkeit herzustellen. Im Prinzip war es so, dass das Bundesverfassungsgericht allen politischen Parteien eine schwere Ohrfeige erteilt hat, und deshalb finde ich, dass Politik an dieser Stelle eine ganz besondere Verantwortung hat.

    Zagatta: Auch die Opposition?

    Kramme: Ja, natürlich, auch die Opposition. Und deshalb haben wir Entwürfe vorgelegt, Vorschläge vorgelegt, die zumindest einen Ansatz von Verfassungsmäßigkeit hätten herstellen können.

    Zagatta: Das sagt aber die Regierung auch, dass ihr Ansatz, dass ihr Vorschlag verfassungskonform sei, wasserdicht, und hat sogar Zweifel angemeldet, dass es Ihre zusätzlichen Wünsche wären.

    Kramme: Nein, das sind keine zusätzlichen Forderungen unsererseits. Wir sind mit einem klar geschnürten Paket im Dezember in die Verhandlungen hineingegangen, und im Prinzip ist es so, dass wir von Sitzung zu Sitzung abgespeckt haben. Und trotzdem ist es im Prinzip an der Union und an der FDP gescheitert, weil dort kein Konsens zu erzielen war. Die Union war nicht fähig, auch nur einen einzigen Euro zuzugestehen, was den Regelsatz betrifft - dort hatte sie sich festgelegt, festgebissen -, und andererseits war die FDP nicht imstande, irgendetwas beim Thema Mindestlöhne zu machen. Und da gibt es natürlich einen ganz großen Bezug zu den Regelsätzen, weil da geht es um menschenwürdiges Leben, es geht darum, wie viel Geld der Staat an Aufstocker zahlen muss, und es geht darum, ob Menschen im SGB-Bezug überhaupt Aufstockungsleistungen benötigen.

    Zagatta: Aber dazu sagt ja die Regierungskoalition, dazu sagen die Regierungsparteien, dass Sie die Verhandlungen eben genau damit, mit solchen Forderungen überfrachtet haben, indem Sie alles Mögliche hineingepackt haben, und so ist das Scheitern ja jetzt auch mit zu erklären.

    Kramme: Wissen Sie, dass der Staat elf Milliarden im Jahr an Aufstocker zahlt? Hätten wir hier einen allgemeinen Mindestlohn, würde das bedeuten, dass diese Zahlung in erheblichem Maße zurückgehen würde. Menschen hätten eine würdige Arbeit, und umgekehrt wäre es so, dass wir Regelsätze erhöhen könnten und die Gegenfinanzierung durch diese Mindestlöhne hätten. Ich finde das ein sehr kluges politisches Konzept.

    Zagatta: Aber das ist ja höchst umstritten. Was ich Sie aber fragen wollte: Sie, die SPD, hat ja eine große Mitverantwortung genau bei diesem Thema, weil das ist ja ein Gesetz, das Sie auf den Weg gebracht haben, das laut Auskunft des Bundesverfassungsgerichts verfassungswidrig ist, also SPD und Grüne haben diesen Schlamassel angerichtet, und jetzt lassen sie die Regierung da im Stich. Die soll es ausbaden.

    Kramme: Wie gesagt, wir haben damit aber auch eine ganz besondere Verantwortung. Und wir als SPD müssen besonders sorgfältig mit diesem Verfassungsgerichtsurteil umgehen, und wir haben versucht, dem Rechnung zu tragen. Und die Union ist nicht bereit, über diese allseits diskutierten verfassungsrechtlichen Probleme in dieser Republik zu diskutieren. Sie verschließt da einfach die Augen und sagt, wir machen nichts. Und das kann nicht sein.

    Zagatta: Ja, Frau Kramme, das sind ja Vorwürfe, die man wortgleich jetzt aus beiden Lagern hört, so eine Art Schwarzer-Peter-Spiel. Die Regierungskoalition sagt heute morgen zumindest, sie hätte jetzt angeboten, was Leiharbeit und Zeitarbeit, die Gleichstellung angeht, einen Vorschlag, das den Tarifpartnern zu überlassen, und wenn das nach einem Jahr nicht funktioniert, dann politisch daranzugehen. Das wäre doch ein möglicher Kompromiss gewesen oder nicht?

    Kramme: Nein, aus unserer Perspektive überhaupt nicht.

    Zagatta: Warum?

    Kramme: a) hat es überhaupt keine konkreten Formulierungen in diesem Zusammenhang gegeben, und das Thema Leiharbeit ist hoch kompliziert. Was nutzt uns ein Mindestlohn? Das würde bedeuten, dass Leiharbeit weiterhin dazu benutzt wird, den Niedriglohnsektor in der Bundesrepublik Deutschland auszugrenzen. Wir kommen nur weiter, wenn wir wenigstens nach einer gewissen Zeit ein sogenanntes Equal Pay, eine sogenannte gleiche Bezahlung haben.

    Zagatta: Aber das sollte laut Vorschlag - oder was wir heute Morgen jetzt gehört haben, nach diesen gescheiterten Verhandlungen - ja den Tarifpartnern überlassen werden, vorerst zumindest, und in der Mehrzahl der Fälle - das hören wir zumindest aus der Praxis - ist es ja jetzt schon so. Warum sperrt man sich ...

    Kramme: Nein, nein ...

    Zagatta: Liege ich da falsch?

    Kramme: Nein, also ich sag mal, hören Sie sich mal in der Branche um. Also ich sag mal, solche Regelungen sind sicherlich zutreffend für VW, oder sie sind sicherlich zutreffend ...

    Zagatta: Also angeblich ...

    Kramme: ... für einen Konzern wie Daimler in der Bundesrepublik.

    Zagatta: Aber angeblich für 75 Prozent der Beschäftigten jetzt schon.

    Kramme: Also das ist einfach grob falsch.

    Zagatta: Ja? Aha!

    Kramme: Das würde nicht erklären, warum die Löhne von Leiharbeitern insgesamt so verheerend niedrig sind. Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen: Bei mir in meiner Umgebung in der Nähe von Nürnberg gibt es eine Firma, die weiterhin nach wie vor mit einem Lohn von 3,60 Euro brutto in der Stunde für Leiharbeitnehmer arbeitet. Das sind Skandale, die beseitigt werden müssen.

    Zagatta: Das heißt also, diese Arbeitnehmer erhalten den Lohn, aber die Firma selbst muss ja auch noch an die Zeitarbeitsfirma zahlen, die die Leute da verleiht, die muss aber ja selbst wesentlich mehr dafür aufbringen?

    Kramme: Also nach meiner Erfahrung ist es so, dass jedenfalls im Helferbereich mit Verrechnungssätzen von 15 Euro gearbeitet wird, das ist ohne Weiteres knapp, aber Leiharbeit würde auch dann attraktiv bleiben, wenn wir gleiche Löhne vorgeben. Und war würde sie deshalb attraktiv bleiben, weil natürlich trotzdem die Flexibilität bei den Entleihunternehmen bleibt. Ich sag mal, Sie haben sicherlich noch nie Sozialplanverhandlungen geführt, dann wüssten Sie, dass das sehr, sehr schwierig ist. Und diese Attraktivität bleibt für die Entleihunternehmen da, Sie können diese Probleme auf die Zeitarbeitsunternehmen, auf die Verleihunternehmen verschieben.

    Zagatta: Frau Kramme, gehen Sie davon aus, dass Ihre Partei, dass die Opposition jetzt eine Zustimmung des Bundesrats am Freitag verhindert? Die Regierung will das in letzter Minute noch versuchen.

    Kramme: Also wir werden gemeinsam mit unseren Ländern gegen diesen Entwurf stimmen, aber wir wollen auch unseren Kompromissvorschlag neu einbringen. Wir sind jederzeit verhandlungsbereit, und letztlich kommt Frau von der Leyen nicht darum herum, erneut das Thema aufzugreifen. Wie gesagt, das Bundesverfassungsgerichtsurteil ist keine Empfehlung, sondern ein Auftrag. Frau von der Leyen könnte immer noch, wenn sie wollte, sofort an die SGB-II-Empfänger die zusätzlichen fünf Euro auszahlen. Davon abgesehen, man kann nur jedem SGB-II-Empfänger raten: Stellen Sie einen Antrag auf die höheren Leistungen bei Ihrem Jobcenter und gehen Sie dann gegebenenfalls in die Klage hinein.

    Zagatta: Also jetzt wird es dann ...

    Kramme: Eine sehr bedauerliche Situation.

    Zagatta: Aber auf das wird es jetzt wahrscheinlich hinauslaufen, auf eine große Klagewelle?

    Kramme: Wenn Frau von der Leyen sich nicht entscheiden kann, sofort auszuzahlen, wozu wir ihr immer geraten haben, dann kann das passieren.

    Zagatta: Oder Sie noch zustimmen im letzten Moment.

    Kramme: Dieses Paket ist unerträglich. Wo bei den Regelsätzen getrickst und manipuliert worden ist, da kann man nicht zustimmen.

    Zagatta: Also, kein Kompromiss in Sicht. Danke schön für diese Einschätzungen! Das war Anette Kramme, Obfrau der SPD im zuständigen Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales. Frau Kramme, ich bedanke mich für das Gespräch!

    Kramme: Okay, vielen Dank!