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Die Unschuld zurückgewinnen

Das Werk "Traumland" des Schriftstellers Andri Snaer Magnason sorgte in dessen Heimat Island einst für viel Diskussionsstoff. Es ist eine eindrucksvolle Parabel über den Zustand und das Image seines Landes. Nun ist das Buch in einer deutschen Übersetzung bei "orange press" erschienen.

Von Annette Brüggemann | 04.08.2011
    "Stellen wir uns eine Insel vor, wir wollen sie Inselland nennen oder auch Traumland. Ein Ort, der gar nicht existiert. Eine imaginäre Insel mit einer imaginären Landschaft. Das ultimative Thule, eine Tabula rasa, ein weißes Blatt Papier. Island ist so ein weißes Blatt Papier. Island ist ein Labor, in dem die Utopie des einen die Dystopie des anderen ist. Island ist nicht nur ein Naturparadies, sondern auch ein Ort, an dem sich Ideen bekriegen. Ein General erträumt sich Island als gigantische Drehscheibe für den kalten Krieg, während andere die Insel als Hort des Friedens sehen. Ein Ingenieur hat die Vision, Island in ein Paradies der Schwerindustrie zu verwandeln, während andere das Naturparadies erhalten wollen."

    Island – von der Fläche her doppelt so groß wie Nordrhein-Westfalen, mit einer Einwohnerzahl kleiner als Bielefeld. Die größte Vulkansinsel der Erde im Nordatlantik besitzt eine atemberaubend schöne Natur und steckt zugleich in einer prekären wirtschaftlichen Situation. Im Herbst 2008 erschütterte kein Vulkanausbruch, sondern eine Finanzkrise von verheerenden Ausmaßen die Insel. War zu Zeiten der großen Finanzblase der Bilanzwert der drei isländischen Privatbanken achtfach so hoch wie das Bruttoinlandsprodukt, so rutschte mit der Kernschmelze des amerikanischen Finanzmarktes die Verschuldung Islands rasant in den Keller. Die Originalausgabe von Andri Snaer Magnasons "Traumland" kam im September 2006 heraus – zwei Jahre vor der Krise – als habe er geahnt, was passieren wird:

    "Schon damals erlebten wir eine Situation, die dem Verlust eines Paradieses glich. Ich hatte, wie viele Menschen im Ausland vermutlich auch, ein sehr positives Bild von Island. Ich dachte, wir hätten den richtigen Weg eingeschlagen, würden von Fehlern lernen, die man überall auf der Welt machte. Und plötzlich stellte ich fest, dass genau das Gegenteil der Fall war. Dass wir dieselben und sogar noch schlimmere Fehler machten. Wir beschäftigten uns mit merkwürdigen Themen: Mit der Tatsache, dass eine Industrie in eine Landschaft eindringen wollte, die eigentlich auf der UNESCO-Weltkulturerbe-Liste stehen müsste. Eines der wichtigsten Brutgebiete für seltene Vogelarten, das für billige Energie geopfert werden sollte. Energie für Aluminiumkonzerne, die einen schrecklichen Ruf in Umweltfragen weltweit haben. Dieser Umstand war für mich so alarmierend, dass ich dachte, ich würde lügen, würde ich einen ganz normalen Roman schreiben über einen jungen Mann, der sich verliebt oder dergleichen."

    Andri Snaer Magnasons Buch "Traumland" war ein früher Warnschuss vor dem Ausverkauf seiner Heimat. Als es im September 2006 erschien, protestierten 15.000 Menschen in Reykjavik gegen die Flutung des Hochlands in Ost-Island – auch die isländische Popsängerin Björk war in die Protestbewegung involviert. Der Bau des Káranjúhkar-Kraftwerks konnte nicht gestoppt werden – heute eines der größten Wasserkraftwerke Europas, das Ende 2007 offiziell in Betrieb genommen wurde. Es liefert Energie für das neue Aluminiumwerk des amerikanischen Alcoa-Konzerns. Im Herbst 2006 sickerte über ein Interview mit dem Alcoa-Vorstand die Info an die Öffentlichkeit, dass der amerikanische Konzern zu einem Spottpreis Energie vom isländischen Kraftwerkbetreiber Landsvirkjun beziehe.

    Nach einem Eklat zog der Alcoa-Vorstand die Info zurück. Der tatsächlich zu zahlende Preis wurde von beiden Vertragsparteien bis heute nicht veröffentlicht. Auch ist es kein Geheimnis, dass Alcoa Aluminium an die Rüstungsindustrie liefert. 2005, zum Beispiel, bekam der Konzern den Auftrag, Aluminiumgussteile für das Tomahawk-Marschflugkörper-Programm der US-Marine herzustellen – für einen Vertragswert von knapp 30 Millionen Dollar.

    Andri Snaer Magnason behält sich das Recht vor, nichts zu verstehen und niemandem zu glauben. In "Traumland" blickt er hinter die Kulissen und verbindet journalistische Recherche mit erzählerischem Talent und gesundem Menschenverstand. Das ihm Unbegreifliche fasst er in eigene, klare Worte:

    "Unglaublich, dass wir das als gebildete Nation getan haben. Dass wir die schönsten Gegenden zerstört haben für das Schlechteste in der Welt, hat soviel Symbolcharakter wie eine Fabel von Aesop. Uns wurde gesagt, dass wir unsere Natur für unsere Wirtschaft opfern müssten. Dass wir am Ende jedoch unsere Natur und unsere Wirtschaft opferten, ist fast so, als ob uns irgendein Gott eine Lektion erteilt hatte."

    Andri Snaer Magnason geht zurück zu den Ursprüngen, um den naiven Glauben seiner Landsleute zu begreifen. Er beschreibt die Geschichte Islands als Militärstützpunkt der Amerikaner im kalten Krieg, finanzielle Abhängigkeiten und größenwahnsinnige Träume vom Wirtschaftswunder der Zukunft.

    Als einer der wichtigsten Vertreter einer jungen Ökologie-Bewegung in Island räumt Magnason auf mit dem PR-Mythos der "grünen Energie". Eindrückliches Beispiel ist die Broschüre einer isländischen Energie-Marketingagentur mit dem sprechenden Titel "Die niedrigsten Energiepreise" aus dem Jahr 1995, die Andri Snaer Magnason zitiert. In Auftrag gegeben wurde die Broschüre von Landsvirkjun, dem nationalen Energieversorger, und dem isländischen Industrieministerium. Internationalen Industriekonzernen wie den Aluminiumproduzenten Alcoa und Rio Tinto wurden darin niedrige Lohnkosten und 30 Terawattstunden sauberer Wasserkraftenergie zu Schleuderpreisen versprochen:

    "Ich kann mich entweder dazu entschließen, dumm zu bleiben und zu glauben, die sind schon schlau genug zu wissen, was sie tun. Oder ich übersetze ihre Worte in eine allgemeinverständliche Sprache. Und das war wirklich komisch. Denn wenn du die Zahl von 30 Terawattstunden – diese technokratische Sprache – übersetzt und ernst nimmst, heißt das: Diesen Konzernen wurde jeder einzelne Fluss in Island angeboten und das ist noch nicht alles. Selbst Touristenattraktionen wie der Wasserfall Gullfoss wären inklusive."

    "Was bleibt, wenn alles verkauft ist?" lautet der deutsche Untertitel von "Traumland". Kreative Alternativen, lautet Andri Snaer Magnasons Antwort. Er plädiert dafür, demokratische Wege zu gehen und denen eine Chance zu geben, die nicht die große Lösung versprechen, aber innovative Ideen und Konzepte haben. Magnasons Botschaft ist einfach und direkt: Er will aufklären und appelliert damit an die Verantwortung eines jeden Isländers – gegenüber einer spektakulären Natur und Schönheit der eigenen Heimat. Eine Jahrhunderte alte Unschuld möchte er zurück gewinnen. Darüber hinaus ist sein Buch eine polemisch zugespitzte, inhaltlich starke und sehr originelle Parabel über den Umgang mit unser aller Werte und Ressourcen.

    "Islands Ruf ist fragil und verletzlich – wie Integrität, Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit. Diese Dinge kann man nicht kaufen. Ich will, dass man meinen Kindern in der übrigen Welt mit Respekt begegnet; ich will, dass der Name Island ihnen einen Vorteil verschafft, ihnen Türen öffnet, die normalerweise verschlossen blieben. Ich will, dass sie mit der Schönheit ihres Landes richtig umzugehen wissen, und ich will, dass in Island eine Vielfalt an kreativen Unternehmen Platz und Chancen bekommt. Ich bin davon überzeugt, dass die gegenwärtige Politik der Umweltzerstörung nicht im Interesse des Volkes liegt. Island ist zu Größerem und Sinnvollerem bestimmt als bloß dazu, ein Kettenglied im Verschwendungszyklus der industriellen Gesellschaft zu sein. Unseren Lebensstandard verdanken wir der Demokratie. Die Freiheit, Ideen haben und Neues denken zu dürfen, ist eine notwendige Bedingung für Veränderung und Fortschritt, und darum ist die Rede- und Meinungsfreiheit so wichtig. Weil wir für unsere Rechte eingetreten sind, genießen wir heute einen hohen Lebensstandard. Demokratie kann nerven, sie kann Dinge verzögern und verschleppen, aber sie hat sich als besser erwiesen als jedes andere System. Nur wenn sie versagt, passieren Fehler."

    Andri Snaer Magnason: "Traumland. Was bleibt, wenn alles verkauft ist".
    Übersetzt von Stefanie Fahrner. Orange Press 2011, 288 Seiten, 20 Euro. ISBN: 978-3-936086-53-9