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Die Vagabundin des Geistes

Sie war eine Grenzgängerin, eine Vagabundin des Geistes und die erste Frau, die in die Académie Française aufgenommen wurde. Die am 17. Dezember 1987 gestorbene Schriftstellerin Marguerite Yourcenar hinterließ ein vielfältiges Werk.

Von Ruth Jung | 17.12.2012
    "Nicht hoffen auf dauerhaftes Glück, denn alles ist im Fluss, bewegt sich, entgleitet uns, so wie der Flug einer Libelle im verlöschenden Licht eines Sommerabends."

    Das Gedicht, das Marguerite Yourcenar 1980 vor der Académie Française rezitierte, war so etwas wie ein Lebensmotto. Schon früh hatte die am 8.Juni 1903 in Brüssel als Marguerite de Crayencour geborene Tochter einer wohlhabenden Familie ihre Mutter verloren: Sie starb wenige Tage nach ihrer Geburt. Doch entgegen landläufiger Meinung habe dieses Ereignis kein Trauma verursacht, wie Yourcenar in ihren Erinnerungen bekennt.

    Wie kann man jemanden vermissen, den man nicht gekannt hat.

    Von wechselnden Bonnes betreut, wuchs das eigenwillige kleine Mädchen im gutsituierten bürgerlich-aristokratischen Millieu auf.


    "Sie hatte das Glück, jener Art von Mutterliebe entkommen zu sein, die dazu neigte, die Mädchen in Richtung Tradition und Passivität zu lenken."
    Schreibt die Biografin Josyane Savigneau. Fotografien zeigen eine junge Frau mit durchdringend blauen Augen in sehr aufrechter Haltung: "eine natürliche Autorität", hieß es. Der Vater, Franzose und weltgewandter Literaturkenner, förderte nach Kräften seine ehrgeizige Tochter, die früh beschlossen hatte, Schriftstellerin zu werden. Als sie neun Jahre alt war, zog er mit ihr nach Paris. Bis zu seinem Tod 1929 war er ihr wichtigster Gesprächspartner.

    Ihre enorme Bildung erarbeitete sich Marguerite Yourcenar einzig durch Lektüre und Reisen. 1929 erschien das erste von der Kritik beachtete Buch: "Alexis oder der vergebliche Kampf". Die Geschichte eines homosexuellen Pianisten, der an der Intoleranz der Gesellschaft zerbricht. Fortan durchzog das Thema männliche Homosexualität ihr gesamtes Werk. Nach dem Tod des Vaters führte Yourcenar ein Nomadenleben, reiste durch die Welt, studierte die Antike, Latein und Griechisch.

    "Ein Leben ist, was man daraus macht."
    Nach dieser Devise erfand sich Yourcenar ihr Leben stets aufs Neue, veränderte wichtige Daten ihrer Biografie, vernichtete sogar große Teile ihrer Korrespondenz. Ein Künstler, war sie überzeugt, habe das Recht, das Bild von sich zu hinterlassen, das er sich wünscht. 1937 folgte sie der Einladung der amerikanischen Literaturdozentin Grace Frick in die USA, die ihre Lebensgefährtin und wichtigste Beraterin wurde.

    1947 erhielt Yourcenar die amerikanische Staatsbürgerschaft, unterrichtete an verschiedenen Universitäten, verfasste Übersetzungen, Essays zu Literatur und Geschichte, Erzählungen und ihr Hauptwerk: Mémoires d'Hadrien.

    "Da ist in New York, aber französisch schreibend, eine gewisse Marguerite Yourcenar, die hat die Memoiren des Kaisers Hadrian verfasst – von einer bis zur Vexation gehenden Echtheit der Fiktion, übrigens wissenschaftlich gewaltig fundiert. Es ist das Schönste, das mir seit Langem vorgekommen."

    Schwärmte Thomas Mann über das 1951 erschienene Buch "Ich zähmte die Wölfin", das bald schon ein Bestseller wurde. Über 20 Jahre hatte Marguerite Yourcenar für diese fiktive Biografie des römischen Kaisers recherchiert. Hier zeigte sich die unabhängige, polyglotte Universalgelehrte, deren Gesamtwerk eine Vagabondage durch historische und geografische Räume ist. Als sie 1980 als erste Frau in die Academie Française aufgenommen wurde, war sie bereits eine respektierte Schriftstellerin und bekannt als strenge Hüterin der französischen Sprache. Doch die Wahl einer Frau, die obendrein keine französische Staatsbürgerin war und nichts gab auf Konventionen, rief auch Kritiker auf den Plan:

    "Man ändert die Stammesregeln nicht."
    Polterte der Kulturanthropologe Claude Lévi-Strauss. Zum ersten Mal erlebte Marguerite Yourcenar nun männliche Feindschaft allein aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit. Eine Feministin jedoch war sie nie, mit dem Engagement ihrer Altersgenossin Simone de Beauvoir konnte sie wenig anfangen. Yourcenars Werke wurden zu Lebzeiten in der Bibliothèque de la Pléiade herausgegeben, diese Ehre wird sonst nur verstorbenen Schriftstellern zuteil. Marguerite Yourcenar, die literarische Grenzgängerin, starb am 17. Dezember 1987 im Alter von 84 Jahren in Maine, USA.