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Die Verführung des Künstlers durch Macht und Geld

Der Inder Amit Chaudhuri ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Musiker. Das merkt man seinen Geschichten an. Sein jüngstes Buch erzählt die Geschichte eines Gesangslehrers, seiner reichen Schülerin und seines Sohnes, der den Vater dafür verachtet, dass er die reine Kunst zugunsten eines lukrativen Jobs als Lehrer verraten hat.

Von Johannes Kaiser | 15.02.2012
    "Den größten Teil meines Lebens bin ich in sehr hohen Gebäuden aufgewachsen. Ich lebte zehn Jahre lang im zwölften Stock und dann noch einmal fünf, sechs Jahre im 25. Stock in riesigen Wohnungen. Aber ich fühlte mich in dieser Art von Umgebung nie zuhause und dann zogen meine Eltern nach der Pensionierung meines Vaters nach Bandra, einem vor allem christlich geprägten Viertel in Bombay. Zu der Zeit war ich Student in London und dadurch gewann ich den Eindruck, dass das englische Klima und Wetter das Leben und die Existenz, selbst die Kultur und die Bücher ganz unmittelbar bestimmten und ich begann plötzlich begreifen, dass das, was ich liebte, Klang ist und Licht und die Straße. Die Erfahrung von geschlossenen Fenstern und absoluter Einsamkeit und Stille erinnerten mich daran, wie wichtig mir dieses ständige An- und Abschwellen von Geräuschen, wenn man sich in einem Raum befindet, war."

    So ist es alles andere als ein Zufall, dass der indische Schriftsteller Amit Chaudhuri in seinem nunmehr vierten Roman "Mrs Sengupta will hoch hinaus" in genau jenes Ambiente zurückkehrt, das seine Kindheit geprägt hat. So wie er in großem Wohlstand aufgewachsen ist, sein Vater war Generaldirektor eines großen Unternehmens, so lässt er auch Nirmalya, den jugendlichen Protagonisten seines neuen Buches in solch einer luxuriösen Umgebung aufwachsen. Dem Heranwachsenden fehlt es an nichts, Bedienstete kümmern sich um ihn; er besucht eine englische Schule, bekommt Unterricht in klassischer indischer Musik.

    Die autobiografischen Übereinstimmungen sind enorm, wie Amit Chaudhuri sofort eingesteht, der sich nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Musiker versteht, eine eigene Band hat, mit ihr regelmäßig auftritt und eine Platte "This ist no fusion" aufgenommen hat:

    "Als Kind pflegte ich Gitarre zu spielen und sang westliche Musik. Ich liebte Blues, Rockmusik, amerikanische Volksmusik, Singer/Songwriter und dann wandte ich mich der klassischen Musik zu und wurde von ihr komplett aufgesogen. Sie übernahm mein Leben und dann fing ich an, in der klassischen indischen Vokaltradition zu singen, nahm mehrere Platten auf. In den frühen 80er-Jahren kam dann eine Art ideologischer Kehrtwende. Als ich nach England zum Studieren zog, hatte ich aufgehört, westliche Musik zu hören. Ich dachte, das ist nicht authentisch. Als ich 1999 nach Indien zurückkehrte, hatte ich diese ideologische Überzeugung verloren und begann wieder westliche Popmusik und Blues zu hören und dabei fiel mir auf, dass es große Ähnlichkeiten zwischen dem Blues, der eine pentatonische Skala hat und einigen pentatonischen indischen Ragas gab. Und dann sang ich eines Morgens einen Raga Tori und plötzlich, während ich einige Noten sang, meinte ich den Riff zu Claptons 'Leyla' zu hören und ich dachte, kann ich das musikalisch erforschen und so begann alles, das ganze Projekt 'This is not fusion.'"

    Es ist diese Musikleidenschaft, die den ganzen Roman durchzieht. Chaudhuris Geschichten handeln stets von Dingen, die ihr Autor selbst erlebt hat. Seine Bücher sind keine Fantasiegebilde, sondern vorsichtig veränderte und bearbeitete eigene Erlebnisse, Orte, die er selbst besucht oder kennengelernt hat. Seine Geschichten erweitern diese Erfahrungen, fügen neue Charaktere hinzu, verfremden das Selbsterlebte, erfinden Konflikte. Sie sind wie auch in diesem Roman stets der Wirklichkeit verhaftet, bevorzugen eine gradlinige Erzählstruktur, eine Chronologie der Ereignisse. Dramatik ist ihnen fremd. Chaudhuris Geschichten strömen dahin wie indische Ragas, allmähliche kleine Tonverschiebungen ohne heftige Ausbrüche, das Ende bleibt offen.

    "Ich bin nicht so sehr an postmodernen Erzählformen interessiert. Ich interessiere mich mehr dafür, wie das Alltägliche in Literatur übertragen werden kann und wie an einem Ort, an dem scheinbar nichts passiert, ganz viele Dinge passieren können. Joyce zum Beispiel war sehr daran interessiert, das Gewöhnliche umzugestalten. Er nennt das Epiphanie, ein religiöser Begriff, der den Augenblick meint, in dem das Gewöhnliche zum Außergewöhnlichen wird. Er nennt das Alltägliche das tägliche Brot seiner Arbeit. Ich interessiere mich zudem mehr für die Abbildung als für die Geschichte. Die Absorption des Bildes übertrifft mein Interesse an der Geschichte. Ich denke, das Bild ist die Geschichte."

    Amit Chaudhuris Roman "Mrs Sengupta will hoch hinaus" gleicht denn auch einer Reihe von Tableaus, die dem Leser einen tiefen Einblick in das indische Leben in den 80er-Jahren geben, sowohl in den Alltag der Reichen als auch - zumindest diesmal - der klassischen indischen Gesangskultur, dem großen Thema des Buches, das Chaudhuri bereits in der Kurzgeschichte "Fromme Lügen" erstmals erkundet hat.
    "Was geschieht mit dem Künstler und seinem Kunstwerk auf dem Markt? Ich begann darüber nachzudenken, was in den 90er-Jahren aus Schriftstellern und Künstlern in einer Welt der freien Marktwirtschaft wurde. Dabei erinnerte ich mich an die frühen 80er-Jahre in Indien, als die populäre Musik anfing, sich zu kommerzialisieren. Was wurde aus meinem Musiklehrer und Lehrern wie ihm, die klassische Musik unterrichteten, aus traditionellen musikalischen Familien stammten, als sie versuchen, sich an diese neue Realität anzupassen? Sie sahen es als Chance, es zu etwas zu bringen. Aber das geschah nicht oft, so wie sie auch die angestrebten materiellen Vorteile nur selten erlangten. Bereits in 'Fromme Lügen' hatte ich einen Musiklehrer einer traditionellen musikalischen Familie porträtiert, einen Maestro, der sein Geld allerdings damit verdient, Frauen von Unternehmern zu unterrichten. Es geht um diese seltsame Beziehung zu den Menschen, die er unterrichtet. Das gilt insbesondere in dem Fall, in dem die Frau sowohl seine Schülerin als auch seine Arbeitgeberin ist. Es ist für ihn eine sonderbare Position in dieser Welt nach der Unabhängigkeit, in der das vornehme Mäzenatentum verschwunden ist und er sowohl Lehrer als auch eine Art Angestellter ist."

    In genau dieser Situation befindet sich der Gesangslehrer Shyamji, der sowohl den Jungen Nirmalya als auch dessen Mutter Mallika unterrichtet. Die Mutter des Jungen, die eine gute Stimme hat, würde gerne Sängerin werden und zwar in klassischem indischem Gesang. Doch ihre gesellschaftliche Stellung als Frau eines Generaldirektors lässt eine solche Karriere nicht zu. So bleibt es bei regelmäßigem Musikunterricht mit ihrem Lehrer Shyamji, der aus dieser Tradition stammt und sich als Interpret durchaus einen Namen gemacht hat. Ihr Sohn dagegen sieht in dieser Musik ein Indien verkörpert, das nicht vom neuen Reichtum korrumpiert ist.

    "Mich faszinierte an dem Jungen, dass er sich ständig vormacht, er würde diese Welt des neuen Reichtums, die ihn umgibt, zurückweisen. Die 80er-Jahre waren eine Übergangszeit, in der sich Indien allmählich vom Sozialismus Nehrus entfernte und einer anderen Art von Philosophie zuwandte und zwar der des freien Marktes, in der man sagte, es ist in Ordnung, reich zu sein. Diese Figuren sind in dieser Zeit des Übergangs gefangen. Der Junge kommt mit dieser Veränderung, die sich allmählich ergibt, nicht zurecht. Er idealisiert die Kunst, den Künstler und seinen Musiklehrer. Er macht sich vor, er wäre arm und er trägt zerfetzte Kurtas, zerrissene Jeans, aber teure Sandalen. Sein Musiklehrer spürt die Veränderungen und möchte die Gelegenheit nutzen, einige der materiellen Vorteile zu erlangen, die er um sich herum sieht. Der Junge versteht das nicht. Er denkt, ein wahrer Künstler sollte all dies zurückweisen, und der Lehrer wiederum versteht nicht, warum der Junge sich dies vormacht. Unterschwellig gibt es also immer dieses komische Gefühl von Missverständnissen zwischen den beiden."

    Amit Chaudhuri zeigt, wie schwierig diese Gratwanderung ist, die alte Gesangskultur zu bewahren und sich zugleich den modischen Trends, hier dem Gesang der populären Bollywood-Filme, zu öffnen. Man muss Kompromisse eingehen, um überleben zu können. Doch das gilt für alle Protagonisten im Buch und ihre Versuche, sich zu arrangieren, entbehren nicht der Komik.

    "Auch wenn es so scheint, als ob die Musik himmlischen Ursprungs ist, so wie die Götter, so ist sie für uns doch nur in der Welt, in der wir leben, erreichbar und das ist eine Welt der Kompromisse. Es geht darum, die Tatsache zu akzeptieren, dass es weder im Leben noch in der Ethik noch bei der Moral Perfektion gibt. Das Himmlische, das wir entdecken, entdecken wir in dieser Welt, im Zusammenhang mit Menschen, so wie sie sind, und sie sind nicht perfekt, schließen Kompromisse, streben nach Macht und machen sich anderer Begehren schuldig. Das wollte ich zeigen."

    Es ist ein altes Thema: die Verführung des Künstlers durch Ruhm, Macht und Geld, diesmal eingebettet in Indiens Gesellschaft. Amit Chaudhuri gelingt es, in dieser wie ein breiter Fluss ruhig dahinströmenden Geschichte zu zeigen, wie schwierig es ist, einen eigenen Weg zu finden, ohne seine künstlerischen Ansprüche aufzugeben, sein Talent zu verraten.

    Amit Chaudhuri: "Mrs Sengupta will hoch hinaus", aus dem Englischen von Barbara Heller, Karl Blessing Verlag München 2011, 416 Seiten, 21,95 Euro.