Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Die Vermessung des Higgs-Teilchens
Fette Masse, viele Rätsel

Vor sechs Jahren verkündeten Physiker des CERN die Entdeckung des Higgs-Teilchens. In mühevoller Detektivarbeit wurde das Higgs seitdem vermessen, mit der Hoffnung, Abweichungen vom Standardmodell der Teilchenphysik zu entdecken - und damit neue Erkenntnisse über das Universum zu bekommen.

Von Frank Grotelüschen | 23.03.2018
    Die Illustration zeigt den Zerfall eines fiktiven Higgs-Bosons
    Der Zerfall eines Higgs-Bosons: "Das Teilchen hält sich absolut brav an die Regeln" (dpa / CERN)
    4. Juli 2012, der große Hörsaal am CERN in Genf. Rolf Heuer, der damalige Generaldirektor, verkündet eine wissenschaftliche Sensation - die Entdeckung des Higgs-Teilchens. Ein Exot, ganz maßgeblich für die Grundfesten der Physik.
    "Ein Teilchen, das anderen Teilchen Masse verleiht. Das ist das Besondere an dem Teilchen", sagt Tatjana Lenz, Physikerin an der Universität Bonn.
    Vor mehr als 50 Jahren hatte sich der Schotte Peter Higgs eine trickreiche Theorie einfallen lassen: Demnach liegt dem Kosmos ein alles durchdringendes Feld zu Grunde. Durch dieses Feld bewegen sich Elementarteilchen wie die Quarks, aus denen unsere Materie ja zum Großteil besteht, wie durch einen zähen Sirup. Der Widerstand, den die Quarks in diesem Sirup verspüren, ist nichts anderes als ihre Masse - so die Idee.
    Mühevolle Detektivarbeit
    Bestätigt wurde sie 2012 mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens - quasi der Repräsentant des Higgs-Feldes. Allerdings konnten die Physiker damals nur im Groben sagen, wie das Higgs aussieht und welche Eigenschaften es besitzt. Damals hatten sie schlicht noch nicht genügend Messdaten über das Teilchen gesammelt. Das ist jetzt anders, meint Karsten Köneke, Physiker an der Uni Freiburg.
    "Mit den derzeit genommenen Daten, die wir haben, haben wir ungefähr - muss ich kurz rechnen, eine Sekunde - vier Millionen Higgs-Bosonen produziert."
    Das Problem dabei: Das Higgs lässt sich nicht direkt beobachten, es ist extrem kurzlebig und zerfällt nach seiner Erzeugung sofort in andere Teilchen. Nur diese Zerfallsprodukte können die Forscher nachweisen. Danach müssen sie dann in mühevoller Detektivarbeit die Eigenschaften des Higgs-Teilchens rekonstruieren. Je mehr Messdaten die Experten dabei sammeln und analysieren, um so genauer können sie die Kenngrößen des Higgs-Teilchens festnageln.
    "Wir haben die Masse des Higgs-Bosons sehr genau vermessen, mit 0,2 Prozent Genauigkeit. Dafür, dass wir das Higgs gerade mal ein paar Jahre kennen, haben wir die Masse sehr präzise vermessen."
    "Das Teilchen hält sich brav an die Regeln"
    Der Winzling wiegt 2,25 · 10−25 kg - oder anders formuliert: "Ungefähr 130 Mal so schwer wie ein Proton ist das Higgs-Boson."
    Auch andere Größen konnten die Forscher dingfest machen: insbesondere viele Einzelheiten darüber, wie das Higgs zerfällt.
    Die Zwischenbilanz: "Seit wir das Higgs entdeckt haben, sind bisher alle Eigenschaften, die wir vermessen haben, mit dem, was man vom Standardmodell erwartet, in Einklang. Das Teilchen hält sich absolut brav an die Regeln, wenn man so sagen möchte."
    Das LHC, der größte und stärkste Teilchen-Beschleuniger der Welt. 
    Große Maschine für kleine Teilchen: Mit Hilfe des LHC, dem größten und stärksten Beschleuniger der Welt, wurde 2012 das Higgs-Teilchen entdeckt (CERN)
    Gewisse Dinge nicht mit dem Standardmodell erklärbar
    Einerseits eine beruhigende Feststellung. Denn das Standardmodell, das heutige Weltbild der Teilchenphysik, hat einmal mehr seine Gültigkeit bewiesen. Andererseits aber wäre es spannender gewesen, wenn die Physiker bei der Vermessung des Higgs eine winzige, aber signifikante Abweichung vom Standardmodell aufgespürt hätten, sagt Karsten Köneke.
    "Jeder hat irgendwie die Hoffnung, dass man irgendwann sieht, dass das, was man misst, nicht mehr mit den Vorhersagen des Standardmodells übereinstimmt, sondern dass man neue Physik hinzunehmen muss. Und wir brauchen diese Erweiterung, weil wir gewisse Dinge im Universum nicht mit dem Standardmodell erklären können."
    Was zum Beispiel hat es mit der ominösen dunklen Materie auf sich, was mit der noch ominöseren dunklen Energie? Darauf weiß das Standardmodell keine Antwort, dafür braucht es neue Ansätze. Deshalb wären die Physiker durchaus froh, wenn sich das Higgs nicht wie vorhergesagt verhalten würde.
    Es bleibt spannend
    Und tatsächlich: Ab und zu scheinen vielversprechende Indizien aufzuflackern - wie auch derzeit wieder ein paar hauchzarte Auffälligkeiten beim Zerfallsverhalten des Higgs.
    "Es sind so kleine Aufregungen, die man hier und da sieht. Wir bleiben an der Sache dran, es bleibt spannend."
    Also wird Tatjana Lenz, ebenso wie tausende andere Physiker, weiter versuchen, das Higgs noch genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Voraussetzungen sind nicht schlecht. Denn künftig soll der LHC gehörig aufgemotzt werden, um noch viel mehr von den schwergewichtigen Elementarteilchen zu produzieren. Denn je mehr Ereignisse die Forscher messen können, umso genauer können sie das Higgs untersuchen.