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Die verschlungene Geschichte eines jungen Katalanen

Ildefonso Falcones' Roman "Die Kathedrale des Meeres" ist in Spanien ein Bestseller geworden und steht auch bei uns auf der Liste der meistverkauften Bücher ganz oben. Wie bei jedem Produkt, das einen massenhaften Absatz findet, stimmt auch bei diesem Roman vor allem die Mischung - es ist für jeden etwas dabei: ein bisschen Information über das Mittelalter, Barcelona als Reizwort für ein immer beliebter werdendes Reiseziel und jede Menge Herz-Schmerz-Geschichten.

Von Martin Grzimek | 29.07.2008
    "Bernat Estanyol!", grölte Llorenç de Bellera, während er aufstand und Francesca am Handgelenk packte. "In Ausübung des Rechts, das mir als deinem Herrn zusteht, habe ich beschlossen, die erste Nacht mit deiner Frau zu verbringen." Die Begleiter des Herrn de Bellera quittierten die Worte ihres Freundes mit lautem Beifall. Bernat trat einen Schritt vor, doch die Schwertspitze eines der beiden Freunde des Adligen bohrte sich in seine Magengrube. Hilflos blieb er (erneut) stehen. Francesca sah ihn unverwandt an, während sie zur Außentreppe des Gehöfts geschleift wurde. Als der Besitzer des Landes sie um die Taille fasste und sie über seine Schulter warf, begann das Mädchen zu schreien. Bernat stand an der Treppe vor den Soldaten und nahm weder das Gelächter der Freunde des Herrn de Bellera wahr noch das Schluchzen der Frauen, weder das Schweigen seiner Gäste noch die groben Scherze der Soldaten, die mit vielsagenden Blicken zum Haus hinübersahen. Er hörte nur Francescas Schreie, die aus dem Fenster im ersten Stock drangen.
    Diese Szene aus dem Anfangskapitel von Ildefonso Falcones' Roman "Die Kathedrale des Meeres" bietet als stimmungsvoller Auftakt nicht nur Einsicht in die Zeit, in der er spielt, nämlich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, sie zeigt uns auch gleich die sprachlichen und dramaturgischen Mittel, mit denen uns auf den dann folgenden mehr als 650 Seiten die Geschichte von Arnau Estanyol, dem Sohn von Bernat und Francesca, erzählt wird.

    Falcones stellt dieses abenteuerliche Leben Arnaus, der sich im mittelalterlichen Barcelona vom bettelarmen Lastenträger zum wohlhabenden und auch bei den einfachen Leuten angesehenen Seekonsul hochgearbeitet hat, in schnörkellosen Sätzen dar, in denen nicht wenig geweint, geschrien, gefoltert, gelitten, geliebt und geschwitzt wird.

    Die verschlungene Geschichte des jungen Katalanen passt er den labyrinthischen Straßen der aufstrebenden Stadt an, ein Knäuel von Episoden, die von Liebe und Eifersucht, von Demütigung und Hass handeln und alle, Gott sei's gedankt, zumindest für den Romanheld glücklich ausgehen. Gemäß den Gesetzen des Mittelalters, in dem ohne viel Differenzierungen nur zwischen gut und böse, fromm und ketzerisch unterschieden wurde, werden wir mit einer Menge menschenverachtender Handlungen des Adels und des Klerus konfrontiert, und dann leidet unser Herz natürlich mit den Unterdrückten und Geschundenen mit, und alle fünf bis sechs Seiten können wir aufatmen, wenn der malträtierte Held wieder einmal einem hinterlistigen Anschlag oder gar dem Galgen entkommen ist.

    Aber Falcones stellt es geschickt an, dass wir wie nebenbei auch Wissenswertes über das mittelalterliche Geldsystem, den Bau von gotischen Kirchen oder die zynischen Praktiken der Inquisition kennen lernen. Manchmal klingen diese Schilderungen wie Auszüge aus einem Lexikon zur mittelalterlichen Stadtgeschichte, doch man merkt, dass sich der Autor, selbst Jurist und historisch bewandert, in dem Metier auskennt und sich Mühe gibt, seinen Figuren Angelesenes mit dem Brustton tiefster Überzeugung in den Mund zu legen. Wie etwa, wenn ein Adliger die Gottgegebenheit der Armut beschwört:

    Gott hat die Menschen als Arme und Reiche geschaffen. Es kann nicht sein, dass die Armen Geld haben und ihre Töchter verheiraten wie die Reichen. Es ist gegen Gottes Gesetz. Was sollen die Armen von Euch Kirchenmännern und uns Adligen denken? Erfüllen wir nicht die Vorschriften der Kirche, indem wir die Armen als das behandeln, was sie sind?

    Der Klerus und der feudale Staat haben es im Mittelalter bestens verstanden, durch diese Ideologie von Arm und Reich und Gut und Böse alle Untaten zu rechtfertigen, die ihnen von Nutzen waren. Das im 14. Jahrhundert aufkommende Bürgertum, von denen es einige Vertreter sogar schafften, mehr Geld zu haben als der König, wurden zu einer Bedrohung der Privilegien der Infanten. Diese Perspektive hat Falcones in seinem Roman gut eingefangen und auch detailliert dargestellt. Dass er dabei Arnau Estanyols Leben aus Episoden aufbaut, die auch in jedem anderen Unterhaltungsroman stehen könnten, verleihen dem Buch streckenweise eine enttäuschende Oberflächlichkeit. Manchmal wird die Mischung aus Klischee und Kitsch so unerträglich, dass man die eine oder andere Seite am liebsten überblättern möchte. Denn warum, um ein Beispiel zu nennen, müssen ausgerechnet die Sklaven wie in der folgenden Szene für eine sich am Rande der Geschmacklosigkeit bewegende Darstellung herhalten:

    Zur gleichen Zeit blickte irgendwo auf einem einsamen, dunklen Weg nach Barcelona ein Sklave in den Himmel und hatte den Schmerzensschrei des Mädchens in den Ohren, das er wie eine eigene Tochter großgezogen hatte. Er war als Sklave geboren und hatte als Sklave gelebt. Er hatte gelernt, stumm zu lieben und seine Gefühle zu unterdrücken. Ein Sklave war kein Mann, und so hatte er in seiner Einsamkeit - dem einzigen Ort, an dem niemand seine Freiheit einschränken konnte - gelernt, viel tiefer zu sehen, als all jene, denen das Leben den Geist vernebelte.
    Falcones' Roman ist, nach fünfjähriger Schreibarbeit und zur Überraschung seines Autors, in Spanien ein Bestseller geworden und steht auch bei uns auf der Liste der meistverkauften Bücher ganz oben. Wie bei jedem Produkt, das einen massenhaften Absatz findet, stimmt auch bei diesem Roman vor allem die Mischung - es ist für jeden etwas dabei: ein bisschen Information über das Mittelalter, Barcelona als Reizwort für ein immer beliebter werdendes Reiseziel, jede Menge Herz-Schmerz-Geschichten, eine bunte Ausstattung vom königlichen Festgewand bis zum zerschlissenen Büßerhemd, kindliche Liebe und verbotener Sex, der Anklang aktueller politischer Themen und natürlich, das Wichtigste, eine Erfolgsgeschichte, wie sie sich jeder wünscht - der Aufstieg eines hungernden Straßenkindes zum reichsten Bürger einer Stadt.

    So können wir Ildefonso Falcones' Roman "Die Kathedrale des Meeres" am Schluss beruhigt und mit einem zufriedenen Seufzer beiseite legen. Schließlich hatten wir, abgesehen von ein paar Durchhängern, eine Menge genüsslicher Stunden mit dem Buch verbracht, und wir sind ja auch keine Sklaven mehr, schon lange keine Sklaven der Literatur, und müssen es daher anscheinend auch nicht mehr lernen,

    viel tiefer zu sehen, als all jene, denen das Leben den Geist vernebelt(e).
    Oder doch?

    Ildefonso Falcones: "Die Kathedrale des Meeres", Roman. Übersetzt aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen. Scherz Verlag, Frankfurt, 2007. 656 S., Euro 19,90.