Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Die vielen Facetten des politischen Denkers und Strategen Talleyrand

Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord wurde 1754 in Paris als Sohn einer adelsstolzen Familie geboren. 1838 starb er als eine famose und hochbegüterte Persönlichkeit der Weltgeschichte in Paris. Seine Verdienste sind zahlreich: Er hob die Französische Revolution mit aus der Taufe und versuchte ihr die jakobinischen Zähne zu ziehen.

Von Harro Zimmermann | 16.10.2011
    Er gehört zu den berühmtesten Figuren der europäischen Geschichte und gilt noch heute in Frankreich als die schillerndste Persönlichkeit, wenn nicht als die Ikone der Ära Napoleons. Auch wenn er sehr verschiedenen politischen Herren hat dienen müssen, war Talleyrand ein Mann des frühen Liberalismus. Er trat ein für Frieden und Völkerverständigung und hat nichts mehr gehasst als die Exzesse der Macht. Sein von Legenden umwobenes Leben ist jetzt noch einmal neu und umsichtig dargestellt worden von Johannes Willms.

    Im Verlauf seines langen Lebens hat er fünf politischen Regimen gedient, er hat vierzehn Loyalitätsschwüre und Gelöbnisse abgelegt, die er nach Bedarf einhielt oder brach, und er hat so erfolgreich wie kaum jemals ein Politiker seine eigene Legende geschaffen. Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord, 1754 in Paris als Sohn einer adelsstolzen Familie geboren und 1838 als eine famose und hochbegüterte Persönlichkeit der Weltgeschichte in Paris gestorben - er hob die Französische Revolution mit aus der Taufe und versuchte ihr die jakobinischen Zähne zu ziehen, er hat dem bürgerlichen Direktorium zum Durchbruch verholfen und dann seine Entmachtung zugunsten Napoleons betrieben, er war der Außenminister des größten Feldherrn aller Zeiten und hat später für dessen Sturz gesorgt, es ist ihm gelungen, das verhasste Frankreich auf dem Wiener Kongress wieder ins Konzert der europäischen Solidarmächte zurück zu holen, er stellte sich widerwillig auf die Seite der zurück kehrenden Bourbonen und wurde am Ende doch zu einem ihrer Sargträger.

    Der Stil macht den Menschen, behauptete Talleyrand. Dementsprechend hat er sein gesamtes Leben dem so intelligenten wie mörderischen Spiel der Macht untergeordnet, er hat Masken getragen, wo es galt, sich zu verstellen, und er war aufrichtig dort, wo es um sein wirkliches politisches Ethos ging. Seine Zeitgenossen haben ihn verehrt und bewundert, gehasst und verachtet, und noch heute zeigt er sich uns als Moralist und Schlawiner, als skrupelloser Karrieremensch, Intrigant und Verschwender, aber auch als einer, der treuer Freund und zuverlässiger Partner sein konnte. Er war Liebhaber schöner und geistreicher Frauen, und er hat zeitlebens nie etwas zurückgenommen von dem, was er war und wie er war:

    "Das Leben von Monsieur de Talleyrand ist in seine Gesichtszüge eingeschrieben: Sein Teint ist fahl, seine Wangen wirken wie die eines Toten und hängen herab, seine erloschenen Augen blicken arrogant, sein Mund, der vielleicht der einzige dieser Art ist, kündet gleichermaßen von Ausschweifung, Überdruss und Geringschätzung. Wenn er sich auf seinen bizarr verkrümmten Beinen fortbewegt, die er mehr nach sich zu ziehen scheint, als dass sie ihn tragen, glaubt man eines jener Monster aus den Märchen zu sehen, halb Mensch, halb Schlange."

    Auf nicht wenige Zeitgenossen hat der so mächtige wie verschlagene Außenminister Frankreichs geradezu erschreckend gewirkt. Viele trauten diesem Mann, der mit allen Wassern gewaschen war, auch noch das Schlimmste zu. Politisch schien er immer oben auf zu sein und doch verkörperte er eine Geschichtsfigur, die offenkundig aus der Zeit gefallen war:

    "Das geradezu bedrohliche Aussehen Talleyrands wurde noch durch seine unwandelbare Vorliebe für eine Garderobe unterstrichen, die der Mode des Ancien Regime entsprach und ihn endgültig zum Fossil machte: weißseidene Kniestrümpfe zu einer Kniehose aus schwarzer Seide, die Füße in großen Schnallschuhen, den massigen Oberleib bedeckte ein schwarzes Seidenhemd, über dem er einen grauen oder schwarzen Leibrock trug, bis oben zugeknöpft, um den Hals eine schwere und breite Krawatte aus weißem Mousseline, die das Kinn verbarg. Auf die unterdessen weiß gewordenen, pomadisierten und gepuderten, aber noch immer üppigen und langen Haare wurde ein Hut gestülpt, den er schon trug, wenn noch gar nicht fertig angekleidet war."

    Aber ist er das wirklich, was die Porträtisten von ihm bezeugen, was viele Historiker über ihn sagen, oft genug auf der Grundlage zeitgenössischer Berichte, die aus allzu großer Nähe oder Ignoranz, ja aus Hass, Verachtung und Missgunst herrühren?

    Johannes Willms, der exzellente Kenner der europäischen Staatenwelt des 18. und 19. Jahrhunderts, will als Biograf Talleyrands ganz besonders auf der Hut sein, den gängigen Zerrbildern und Legenden über den großen französischen Politiker möchte er keine weitere hinzufügen. Was aber mag helfen angesichts einer zweihundertjährigen Interpretationslandschaft voller Irrtümer, Stilisierungen und Verzeichnungen, die Talleyrand selber noch beeinflusst hat durch sein reichhaltiges autobiografisches Werk? Die oftmals bizarren Anekdoten und Histörchen über diesen bedeutenden Mann sind zu guten Teilen auch ein Ergebnis seiner eigenen schriftlichen Hinterlassenschaft.

    Talleyrand wollte – wie so viele vor und nach ihm – wenigstens mit definieren, was die Nachgeborenen von ihm wissen und über ihn denken. Willms, der sich dieser Überlieferungsproblematik wohl bewusst ist, sucht Hilfe bei einem der besten zeitgenössischen Kenner der Person und der politischen Bedeutung Talleyrands, beim österreichischen Außenminister und späteren Staatskanzler Metternich. Der schrieb schon 1808:

    "Es ist unerlässlich, schon eine geraume Zeit in Paris zu sein, um die wahre Haltung von Monsieur de Talleyrand zu beurteilen. Man muss bei Talleyrand den moralischen vom politischen Menschen unterscheiden. Er könnte und würde nicht das sein, was er ist, wenn er moralisch wäre. Andererseits ist er ein ausgesprochen politisch denkender Mensch und als solcher ein Mann der Systeme. Das macht ihn gleichermaßen nützlich oder gefährlich."

    Talleyrand als Realpolitiker, als gewiefter Stratege, als Denker in staatlichen Strukturen, Konzepten und Wertbezügen, der um die Grenzen der moralphilosophischen Erziehungsideen der Aufklärung weiß, der im Regierungshandeln den ausgekühlten Gedanken jeder ungestümen Leidenschaft vorzieht – das ist auch die Darstellungsperspektive von Johannes Willms. Er meidet das moraline Lamento über den Genussmenschen und Lüstling, den Opportunisten und Intriganten Talleyrand, um sein Denken und Handeln und damit seine geschichtliche Bedeutung aus den Funktions- und Ereigniszusammenhängen der damaligen Zeit herauszuarbeiten.

    Aber natürlich entgehen Willms auch nicht jene Merkwürdigkeiten und Skurrilitäten, die unerlässlich sind, wenn es sich darum handelt, eine so sonderbare wie großartige Figur sozusagen als historisches Sinnzeichen zwischen alter Feudalwelt und alles verändernder Moderne zu verstehen. Das 'Lever', das Ritual der morgendlichen Toilette des Monsieur de Talleyrand, kann als ein solches Sinnzeichen gedeutet werden. Willms fasst einen zeitgenössischen Bericht darüber prägnant zusammen:

    "Talleyrand verließ sein Nachtlager, wo er in Flanelltücher eingepackt und mit mehreren Nachtmützen übereinander bedeckt geruht hatte, und erschien im anschließenden Kabinett. Dort ließ er sich vor einem Spiegel nieder, in dem er sein bleiches, gealtertes Gesicht mit fast erloschenen Augen betrachtete. Ein Diener reichte dann ein großes mit Wasser gefülltes Becken, in das er einen Schwamm tauchte, mit dem er sich das Gesicht wusch. Dann beugte er sich vor und sog mit der Nase eine Menge Wasser ein, die mit großem Lärm wieder aus seinem Mund stürzte. Diese mehrfach wiederholten rituellen Waschungen dauerten länger als eine Viertelstunde. Inzwischen füllte sich das Kabinett mit Besuchern, deren Gegenwart Talleyrand zunächst nicht wahrzunehmen schien. Oft verstrich mehr als eine halbe Stunde, bis der eine oder andere Anwesende durch ein Zeichen oder eine mit Grabesstimme gesprochene Bemerkung sicher sein konnte, überhaupt bemerkt worden zu sein. An die Waschungen schloss sich ein Fußbad an, bei dem er mit gleichmütigem Zynismus den neugierigen Blicken seinen wie eine Klaue geformten verkrüppelten Fuß zeigte. Während man ihm die Füße wusch und ihn gleichzeitig frisierte, unterhielt er seine Besucher mit Anekdoten und Scherzen, was ihn wiederum nicht daran hinderte, gleichzeitig allerhand zugereichte Schriftstücke und Akten zu unterzeichnen. Danach stand er auf, um sich anzukleiden. Dabei schritt er für gut eine Stunde auf und ab, wechselte das Hemd und stieg selbst in Gegenwart von Damen in die Hosen, ohne sich dafür abzuwenden. Seinem schwankenden Gang folgte immer dichtauf ein Diener, seinen Leibrock tragend, den er im passenden Moment überstreifte."

    Der Staatsminister von Talleyrand beim morgendlichen Lever – ein gleichsam höfisches Ritual, das er zeit seines Lebens für standesgemäß und unumstößlich hielt. Willms zitiert solche zeitgenössischen Skurrilitäten gern, aber er fällt nicht auf ihren besonderen Reiz und ihre genreüblichen Deutungszwänge und Interpretationsroutinen herein, vielmehr setzt er Quelle gegen Quelle und geht vorsichtig mit der Authentizität seiner Materialien um. Am liebsten hält er sich an das, was Talleyrand in seinen vielen Denkschriften, Memoires, Briefen und autobiografischen Aufzeichnungen formuliert, was er als Politiker ausdrücklich sagt und tut. Da öffnet sich vor dem interessierten Leser eine große und verwirrende Welt der Haupt- und Staatsaktionen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die manches Staunenswerte bereithält.

    So zum Beispiel, dass der politische Denker und Stratege Talleyrand niemals ein eingefleischter Monarchist, sondern zeitlebens ein unverbesserlicher, oft sogar oppositioneller Liberaler gewesen ist, der unverdrossen für eine europäische Friedens- und Gleichgewichtsordnung warb, der die Segnungen einer modernen Republik durchaus zu schätzen wusste, auch wenn er gegen Ende seines Lebens wieder aufseiten der Bourbonen stand, der für Pressefreiheit und Verfassungen, überhaupt für bürgerliche Eigentums- und Rechtsverhältnisse eintrat und den Krieg aus Herzensgrund hasste. An diesen politischen Grundwerten Talleyrands haben sein so oft geschmähter Opportunismus und seine Karrieresucht stets ihre Grenzen gefunden, das ist ein thematischer Grundtenor in diesem Buch.

    Johannes Willms entwickelt mit Kennerschaft und Akribie die komplizierten Geschehensverläufe und Strukturveränderungen zwischen der Einberufung der Generalstände im Vorfeld der Französischen Revolution und den Juli-Ereignissen von 1830, die in das französische Bürgerkönigtum münden. Es ist ein Vorzug dieses in Paris lebenden Autors, dass ihm insbesondere auch die historische Literatur Frankreichs zur Verfügung steht, das kommt der Dichte und der Verlässlichkeit seiner Darlegungen sehr zugute.

    Allein die Legenden, die sich um den Talleyrandschen Klumpfuß ranken, von ihm selbst zur Unfallfolge in seiner lieblosen Kinderzeit verklärt, spricht für die nüchterne Beweisarbeit dieses Buches. Talleyrand, den seine Gegner einen 'hinkenden Teufel' nannten, musste sich um diesen Aspekt seiner öffentlichen Erscheinung ganz besonders kümmern. Der verwachsene Fuß konnte unmöglich als Stigma einer Körperpathologie erscheinen. Willms zitiert einen französischen Zeitgenossen des Ministers:

    "Monsieur de Talleyrand, verlogener als sonst irgend jemand, verstand sich darauf, eine Fülle auf Berechnungen basierender Gewohnheiten ganz selbstverständlich als seinen Charakter auszugeben; die bewahrte er sich auch unter allen Umständen ganz so, als verriete sich darin die Kraft seiner wahren Natur."

    Da ist er wieder, der Vorwurf der Maskenhaftigkeit und durchtriebenen Verstellungskunst eines Politikers, dem es vermeintlich an jeglicher Mitte gefehlt habe. Doch gerade das weiß Johannes Willms besser, die äußere Karriereentwicklung Talleyrands, die Entwicklungsgeschichte seines Denkens und die Angriffe auf ihn, jene unzähligen Zumutungen, Beleidigungen und Verdächtigungen, aber auch die vertrauens- und liebevollen Beziehungen zu den umgebenden Menschen werden zu einem komplexen Darstellungsnetz verknüpft. Da ist zunächst der junge Geistliche, der es in der katholischen Kirche in kurzer Zeit zum Bischof und Generalbevollmächtigten bringt, der dann in die National- und in die Verfassunggebende Versammlung überwechselt, um gemeinsam mit den radikalen bürgerlichen Kräften für die Zivilverfassung und die materielle Enteignung des Klerus einzutreten. Da ist der Diplomat und sodann durch die Jakobiner vertriebene Exilant in England und Amerika, der sich als Spekulant und Geschäftsmann durchbringen muss, da ist der erfolglose Außenminister des Direktoriums, der alles tut, um dem jungen General Bonaparte den Weg zur Macht zu bahnen und ihm mehr als zehn Jahre lang unverbrüchlich dienen wird. In der Beratung Bonapartes und der politischen Absicherung des nun entstehenden Empires sollte sich der Außenminister Talleyrand nahezu erschöpfen, aber dann in wachsendem Maße auch zum Opponenten und Widersacher des Ersten Konsuls und Kaisers der Franzosen werden. Talleyrands Credo lautet - niemals Eroberungskrieg und Machtausweitung um jeden Preis, sondern Frieden und Ausgleich unter den Staaten Europas:

    "Deshalb täuscht man sich, wenn man zu den je besonderen Gründen, die den Krieg auf dem Kontinent in Gang halten, nicht den einen Hauptgrund hinzu rechnet, der unablässig seine Wirkung entfaltet und dessen Effekte sich nicht verheimlichen lassen. Das ist der Schrecken, den die Französische Revolution und die Errichtung der Republik allen alten Regierungen Europas einflößt. Dieser Schrecken wirkt sich auf alle Kabinette aus. Er verbreitet sich und nährt hier die Idee, dass Frankreich davon besessen ist, sein politisches System exportieren zu wollen; und diese gemeinsame Furcht, die durch kein Handeln der französischen Regierung aufgehoben werden kann, ist der Knoten der zwei Koalitionen, die sich gegen die Republik formiert haben."

    Aber hiervon will der erfolgreichste Feldherr, den die europäische Geschichte jemals gesehen hat, nichts wissen, seine Ambitionen laufen auf eine Universalmonarchie zu, die viele kleinere Satellitenstaaten, möglichst von Familienmitgliedern befehligt, um sich versammeln soll. Napoleon möchte das alte Europa von seinen feudalen Fesseln befreien und ihm eine politische Zukunft nach napoleonischem Maß ermöglichen. Doch für Talleyrand wird darin eine zunehmend wahnhafte Herrschaftsvision erkennbar, da verspielt ein maßlos gewordener Militär das Erbe und die geschichtliche Bedeutung Frankreichs. Es ist interessant zu sehen, wie früh und wie beherzt Talleyrand versucht, den von Putsch zu Putsch, von Krieg und Krieg mächtiger werdenden Autokraten zur Räson zu rufen. Neben der offiziellen werden Talleyrand und Napoleon bald auch eine geheime Korrespondenz führen, der erfahrene Außenminister tut alles, um den politischen Heißsporn die notwendigen mores zu lehren:

    "Das Geschehen des [Staatsstreichs vom] 18. Fructidor wird notwendigerweise eine Außenwirkung haben. Europa beweist es die Stärke der Regierung und die Festigkeit der Republik, die mit der nämlichen Leichtigkeit ihre inneren Feinde vertrieben [hat]. Dass wir die Hoffnungen zunichte machen, die von den europäischen Mächten auf unsere Streitigkeiten gesetzt wurden: Das wird deren Unterstützung ein Ende machen und schließlich auch viele Hindernisse aus dem Weg räumen, die den Frieden bislang behinderten. Bei den Verhandlungen muss deshalb der Ton, den wir anschlagen, noch bestimmter werden. Diese Bemerkung gilt, wie Sie sich denken können, nicht Ihnen, wie ich betonen möchte, denn Sie haben nicht auf diesen Augenblick gewartet, um zu Frankreich mit der Sprache zu reden, die ihm gebührt. Mir scheint jedoch, dass daraus für Sie folgt, mehr denn je auf Verhandlungen zu drängen.... Das ist das Verlangen aller Republikaner. Wenn wir außerdem noch die Rheingrenze haben und auch Venedig nicht mehr dem Kaiser gehört, dann wäre das ein Frieden, der eines Bonaparte würdig wäre. Was alles weitere anbelangt, folgen Sie Ihren Eingebungen. Sie werden sicherlich den Charakter der grandeur und der Stabilität haben, den Sie allem zu geben wissen."

    Mit diplomatischem Geschick dringt Talleyrand also auf maßvolle Verhandlungen Napoleons, überhaupt möge er sich als Herrscher endlich bescheiden mit dem, was ihm jetzt schon durch seine erfolgreichen Kriege zugefallen ist. Doch Talleyrand wird von nun an die Furcht vor einem grenzenlos macht- und gewinnsüchtigen Herrscher nicht mehr verlassen, der irgendwann am geballten Widerstand der anderen Mächte zuschanden gehen muss. Als einer der Würgeengel des Kontinents möchte der betagte Politiker nicht vor der Geschichte erscheinen. Immer entschiedener tritt daher das Bekenntnis zu Frankreich vor das Gelöbnis gegenüber Napoleon Bonaparte, doch der Minister steht zu seinem Wort bis 1812, als Napoleon glaubt, sich das riesige Russland in einem Geniestreich einverleiben zu können. In einem damals aufgezeichneten Gespräch gibt Talleyrand sein Innerstes preis:

    "Dieser Mann taugt nicht mehr für das Gute, das er bewirken könnte, seine Zeit, das er mit Gewalt die Revolution zähmte, ist vorbei; die Ideen, die er allein noch bannen könnte, sind ohnedies nur noch schwach und stellen keine Gefahr mehr dar, aber es wäre fatal, würden sie gänzlich erlöschen. Er hat die Gleichheit zerstört, das ist gut; aber die Freiheit muss uns erhalten bleiben; ebenso die Gesetze; dafür bietet er keine Gewähr. Das ist der Moment, ihn zu stürzen. Sie kennen die alten Befürworter dieser Freiheit... Man muss in ihrem Geist die Gedanken ihrer Jugend wieder entflammen: Das ist eine Macht."

    Der verschüttete Geist der Freiheit und der Gesetze muss gegen den Autokraten Napoleon Bonaparte heraufgerufen werden – das ist alles andere als ein reaktionäres Bekenntnis, es ist eine Erinnerung an das Unverlierbare der Revolution, an ihren menschenrechtlichen Glutkern. Obwohl ein Machtpragmatiker ohnegleichen, hat Talleyrand diese Sensibilität nie verloren, Politik und Macht waren nicht um ihrer selbst willen in der Welt, sondern im Interesse eines menschlichen Glücksversprechens.

    Hätte Napoleon eine vernünftigere, eine humanere Politik verfolgt - sein so faszinierendes wie hassgeliebtes Gegenüber wäre ihm wohl niemals von der Seite gewichen, denn beide besaßen für geraume Zeit recht innige menschliche Beziehungen zueinander. Aber um 1813/1814 ist diese tiefe Zuneigung auf beiden Seiten aufgezehrt, Talleyrand wird zum Hasser Napoleons, er will seinen Sturz. Zwar sieht man ihn zur Zeit der Wiener Kongresses von 1814/1815 aufseiten der aus dem Exil zurückkehrenden Bourbonen, aber so entscheidet er sich nur gezwungenermaßen, denn Napoleon will um seinen europäischen Universalanspruch kämpfen, bis alles in Scherben fällt. Ein unbelehrbarer Autokrat löst dann endgültig die Restauration in Europa aus, die Bourbonen kehren auf den Thron zurück, die alliierten europäischen Mächte fordern ihre von Frankreich besetzten Gebiete zurück, und sie allein wollen den neuen Frieden auf dem Kontinent definieren. Doch da schlägt noch einmal die Stunde des Außenministers Talleyrand. Er bringt es fertig, sein Vaterland innerhalb weniger Monate an die Seite der zivilisierten Staatsnationen Europas zurückzuführen und ihm die Schmach des elenden Verlierers zu ersparen. Für eineinhalb Jahrzehnte muss er dann zwar die reaktionäre Herrschaft der Bourbonen ertragen, wiederum als Außenminister, aber nicht zuletzt seiner scharfzüngigen Oppositionsrolle wird es zuzuschreiben sein, dass die Juli-Revolution von 1830 das marode Regime Ludwigs XVIII. in ein moderneres Bürgerkönigtum umwandeln kann. Immer noch ist der Sechsundsiebzigjährige politisch aktiv, und er wird das alte Frankreich um nicht weniger als acht Jahre überleben. Als er mit achtzig von seinem Amt zurücktritt, notiert seine Freundin, die Duchesse de Dino, in ihr Tagebuch:

    "Monsieur de Talleyrand beharrt glücklicherweise auf seinem Abschied vom Amt. Bezeichnend für sein einmaliges Prestige ist jedoch, dass die Kurse der Pariser Börse fallen oder steigen je nachdem, wie die Chancen seiner Rückkehr nach London mehr oder weniger gewiss zu sein scheinen, dass von überall her eintreffende Briefe ihn um seine Hilfe bitten und dass selbst Leute ihm schreiben, die wir kaum dem Namen nach kennen und ihn anflehen, Frankreich nicht sich selbst zu überlassen. Das erklärt sich vor allem daraus, dass die französische Öffentlichkeit in Monsieur de Talleyrand jemand erkennt, den der Teufel zwar eines Tages holen wird, der aber, bis das eintritt, dank des Paktes, den er mit ihm geschlossen hat, ganz nach seinem Belieben die Welt verhext."

    Johannes Willms: Talleyrand. Virtuose der Macht 1754-1838. C.H. Beck, 384 S.,