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Die vielen Gesichter der Armut

Der interdisziplinäre Sonderforschungsbereich "Fremdheit und Armut" der Universität Trier untersucht die vielen Gesichter der Armut. Wer gilt wann als arm und erfahren die Sozialschwachen Mitleid und Solidarität. Diese Fragen werden nun in einer Sonderausstellung beantwortet.

Von Peter Leusch | 14.04.2011
    Mit dem Tode meines Mannes vor drei Jahren habe ich mich bemüht, durch Arbeit außer dem Hause, Waschen und Putzen, mich und die Kinder, ein Mädchen von neun Jahren und die oben erwähnten drei Knaben durchzuschlagen.

    Da ich bereits 65 Jahre alt bin, krank und gebrechlich, und schon längere Zeit die Invalidenrente beziehe, kann ich unmöglich die Erziehung der Kinder übernehmen.

    Von bitterster Not getrieben bin ich so frei bei Eurer Hochwohlgeboren anzufragen, ob mein mir überlassener Junge im hiesigen Hospital Aufnahme findet.

    Drei so genannte Armenbriefe aus der Zeit um 1900. Trierer Bürgerinnen bitten, ihre Kinder ins städtische Armen- und Waisenhaus aufzunehmen, weil sie sich selber nicht imstande sehen, für deren Wohl zu sorgen.

    Arme und sozial Schwache gehören zur Geschichte Europas bis heute. Armut zeigt dabei viele Gesichter, vom Bild absoluter Armut - Hunger, Obdachlosigkeit und nackte Not - bis hin zu relativer Armut, wo es Menschen verwehrt ist am gesellschaftlichen Leben, an Kultur und Bildung, teilzuhaben.

    Trierer Wissenschaftler haben in einem interdisziplinären Sonderforschungsbereich untersucht, wie die europäische Gesellschaft in 2500 Jahren mit Armut umgegangen ist. Herbert Uerlings, Gesamtleiter der Ausstellung und zugleich Sprecher der Forschergruppe, blickt zurück in die Antike:

    "In der Antike, so muss man sich das vorstellen, gab es keine öffentliche Unterstützung für die Armen. Arme - das war ein Gegenstand von Komik, Spott, Verachtung, in einem Ausmaß, wie wir uns das heute überhaupt nicht mehr vorstellen können.

    Nach dem Prinzip do ut des, Gabe und Gegengabe, war die antike Gesellschaft strukturiert, , deswegen fielen die Armen, die nichts zu geben hatte, durch das Raster, deswegen keine Unterstützung, sondern man hilft sich nur unter gleich Starken, weil man sonst keine Gegengabe zu erwarten hat."

    Der Arme zählt nicht, zumal wenn er nicht zur Bürgerschaft gehört, ein Armer hat keine Würde, ist also auch nicht darstellungswürdig in der Kunst. Stefan Seiler, der die Teilausstellung "Armut in der Antike" im Rheinischen Landesmuseum organisiert hat, ist es gelungen eine Ausnahme aufzuspüren, eine kleine Bronzestatue.


    "Sie zeigt einen Bettler, der verwachsen ist, der am Boden kauert. In der Antike war es prinzipiell so, dass Armut als selbst verschuldet galt. In Pompeji an einer Hauswand gab es ein Graffito auf dem steht: "Ich verabscheue arme Menschen, wer etwas möchte, der soll dafür Geld bezahlen."

    Die historische Wende im Verhältnis zu den Armen ereignete sich in den christlichen Gemeinden der Spätantike. Die biblische Lehre, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf, begründete die Würde des Menschen, und schloss alle ein, auch die sozial Schwachen und Bedürftigen. Das führte zur jüdischen Tradition der Zedaka, der Wohltätigkeit, und zum christlichen Gebot der Nächstenliebe, zu den Vorstellungen von Barmherzigkeit und Caritas. Die christlichen Gemeinden der Frühkirche nahmen sich der Armen und Alten, der Witwen, Waisen und Kranken an. Erstmals gehörten die Armen zur Gemeinschaft dazu, so der Historiker Lukas Clemens von der Universität Trier.

    "Im Christentum ist es vor allem der Ortsbischof, der als pater pauperum, als Vater der Armen eine Fürsorge gerade auch für die Bedürftigen der eigenen Gemeinde zu treffen hat, und er nimmt dies vor u. a. auch im Rahmen institutioneller Maßnahmen, indem eigene Gebäude für Bedürftige errichtet werden, so genannte xenodochien - dies ist eine Vorgehensweise, die auch von den so genannten Heiden aus christlicher Perspektive, also den paganen Kulten, aber auch vom letzten paganen Kaiser Julian aus dem konstantinischen Haus als Erfolgsrezept gesehen wird, was dann auch von staatlicher Seite wahrgenommen und übernommen wurde."

    Aber die Gemeinden wuchsen und mit ihr die Zahl der sozial Schwachen. Das führte im Laufe des Mittelalters zu neuen Diskriminierungen, entlang der Frage: wer ist der wahre, der wirklich bedürftige Bettler, und wer ist ein falscher, so genannter starker Bettler, der eigentlich arbeitsfähig wäre.

    Diese Unterscheidung zwischen dem würdigen und dem unwürdigen Armen prägt die gesellschaftliche Diskussion bis heute. Dabei beruft sich man sich auch auf die Bibel, auf das Wort von Paulus: "Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen."

    Das Spätmittelalter reflektierte das Thema nicht nur diskursiv, sondern anschaulich in Bildern, zum Beispiel in einer ungewöhnlichen Variante der Martinslegende, erläutert der Historiker Frank Hirschmann vom Trierer Stadtmuseum Simeonstift, wo der Hauptteil der Ausstellung zu sehen ist.

    "Auf dieser wunderschönen Altartafel aus der Zeit um 1500 aus der ungarischen Nationalgalerie in Budapest sieht man vor goldenem Hintergrund den Martin zu Pferde und rechts und links jeweils einen Bettler und Martin ist gerade dabei die Mantelteilung durchzuführen. Martin kann die Hälfte seines Mantels nur einem Bettler geben. - er gibt sie dem Bettler, der offensichtlich zerlumpt, invalide und wirklich bedürftig ist, derjenige, der noch gehen kann und einen prallen Beutel mit sich führt, der wird und muss leer ausgehen."
    Schon im Hochmittelalter begegnet man Armut in einer neuen Gestalt. Mit der aufkommenden Geldwirtschaft im 11. Jahrhundert, wo neben dem Adel, auch Bürger reich wurden, öffnete sich die soziale Schere - und Armut wurde schreiend deutlich. Damals entstand eine spirituelle Gegenbewegung zur höfischen Kultur und ihrem Prunk, eine christliche Erneuerung, die eine selbst gewählte Armut als gottgefälliges Leben erachtete. Franz von Assisi, Sohn eines reichen umbrischen Tuchhändlers, rief zu einem bedürfnislosen Leben in der Nachfolge Christi auf und zur Fürsorge für die Armen. Hier wird die freiwillige Armut gleichsam zum Ideal.

    Armut als Ideal bezeichnet zugleich eine der Perspektiven, in der die Ausstellung das Thema präsentiert. Sie handelt die Geschichte der Armut nicht chronologisch ab, sondern diskutiert sie in fünf verschiedenen Perspektiven, die gleichsam quer zum Lauf der Geschichte bezogen werden. Neben der Dokumentation von Armut, neben dem Appell an die Gesellschaft, bildet die Idealisierung von Armut eine dritte Perspektive.

    Armut als Ideal ist freilich eine Sichtweise, von der sich die Neuzeit radikal verabschiedet. Armut erscheint nun nicht mehr als spiritueller Reichtum, als religiöses Verdienst in der Nachfolge Christi, Armut gilt nur noch als innerweltliches Übel, das den Träger herabsetzt und der Gemeinschaft schadet. Der Historiker Sebastian Schmidt hat zur frühen Neuzeit geforscht:

    "Da ist ein starker Schnitt zu sehen gegenüber MA und Moderne, dass nun Armut als etwas gesehen wird, was nicht mehr zum Heil führt, sondern ganz im Gegenteil. Dass Armut etwas ist, was der Ordnung der Gemeinschaft schadet und keineswegs nutzt. Ein sehr schönes Beispiel ist, dass der Mainzer Erzbischof im 18. Jahrhundert, bei den Armen von den "Widerstrebern der eigenen Glückseligkeit" spricht, also da ist ganz deutlich: die sind selber schuld, dass sie nicht ihr eigenes Glück verfolgen."

    Arbeit - so lautet das Credo der Neuzeit bei der Bekämpfung der Armut: Es beginnt schon in den rasch wachsenden Städten des Spätmittelalters und weist voraus auf die späteren so genannten Arbeitshäuser, wie sie zuerst in England eingerichtet wurden.

    Eine Gruppierung unter den Armen trifft es besonders hart. Das sind die fremden Armen, die von den bedürftigen Mitgliedern der eigenen Gemeinde, Stadt oder Nation streng unterschieden werden. Vor allem in Krisenzeiten, wenn die Ressourcen knapp sind, werden Fremde abgewiesen, verfolgt und stigmatisiert. Die Kunsthistorikerin und Ausstellungsmacherin Nina Trauth schildert die vierte Perspektive: Armut als Stigma.

    "Wir thematisieren mehrere Gruppen, Juden, Migranten, aber worauf ich jetzt abziele, wären Sinti und Roma, dass wir da ein Spektrum zeigen, von einer frühen Verfolgung im Barock, wo an Wegkreuzungen solche Tafeln, Zigeunerwarntafeln, aufgestellt worden sind, wo Warnungen draufstanden, auch bildlich für diejenigen, die nicht lesen konnten, wo eindeutig gezeigt wird, welche Strafen drohen, wenn man die Grenzen überschreitet und wir zeigen natürlich das Thema in der Perspektive langer Dauer in der NS-Verfolgung, dass man diese Geschichte von Polizeifotografie, von Festlegung und Stigmatisierung des Fremden eben nachvollziehen kann."

    Eine radikale Veränderung bedeutete die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert. Der rasante Wandel der Arbeitsverhältnisse stürzte nicht nur Randgruppen ins Elend, er betraf die Mitte der Gesellschaft. Die Ausstellung zeigt die Not der Weber, die ihre Arbeit verlieren, ebenso wie das bittere Los der Industriearbeiter, die zwar Arbeit erhalten, aber zu so elenden Löhnen, dass sie gleichfalls verarmen. Dazu Winfried Thaa, der Politikwissenschaft in Trier lehrt:

    "Im 19. Jahrhundert wären m. E. zwei Dinge zu unterstreichen im Zusammenhang mit dem Phänomen Armut: Zum einen taucht Armut mit der Industrialisierung als kollektives Phänomen auf. Das ist eine neue Perspektive gegenüber der frühen Neuzeit und dem Mittelalter. Zum zweiten, zumindest mit dem Einsetzen von Demokratisierungsprozessen im 19. Jh. entsteht ein Anspruch auf Gleichheit, was noch nicht bedeutet auf gleiche Verteilung der Einkommen, aber Gleichheit im rechtlichen im politischen Status und dann im 20. Jahrhundert ein Anspruch in Bezug auf Gleichheit bestimmter sozialer Rechte."

    Die soziale Frage verlangte nach einer Antwort: Denn die Gesellschaft begann zu erkennen, dass Armut nicht nur ein Problem der Armen war, sondern Teil ihrer selbst, ihre eigene Kehrseite. Bismarcks Sozialgesetzgebung knüpfte ein erstes Netz, aber es war so weitmaschig, dass die meisten hindurch fielen. Arbeiterbewegung, Gewerkschaften, Parteien rückten dem Problem der Armut mit Reformen zu leibe. Reform heißt die fünfte Ausstellungsperspektive. Und im 20. Jahrhundert im westdeutschen Wohlfahrtsstaat der Nachkriegsgeschichte glaubte man die Armut gänzlich abzuschaffen. Das Bundessozialhilfegesetz von 1961 schrieb ein grundsätzliches Recht auf Unterstützung fest.
    Herbert Uerlings:

    "1961 das war eine Zeit, in der diejenigen die dieses Gesetzt verabschiedet haben und weite Teile der Öffentlichkeit gedacht haben, die Armut sei abgeschafft, dafür gab es Anhaltspunkte, nämlich die ganze Boomzeit zwischen 1948 und 1972, und solche Zeiten der Idee der Abschaffung der Armut hat es immer wieder gegeben, das sind natürlich Jahre gewesen, in denen man die Zumutbarkeitsgrenzen hat runterschrauben können, aber das hat sich noch jedes mal als Illusion erwiesen."

    Die Geschichte der Armut führt - so Herbert Uerlings - von der Verachtung der Armen in der Antike bis zur scheinbaren Anerkennung ihrer Würde in der Gegenwart. Aber er betont auch, dass es sich nicht um eine einfache Fortschritts- und Erfolgsgeschichte handelt. Denn die letzten 20 Jahre, der partielle Abbau des Sozialstaats hat die Probleme wieder verschärft: Die Armut ist zurückgekehrt - in neuer Gestalt: Winfried Thaa:

    "Wenn man einmal vom Einkommen ausgeht, sind es sicher auch Gruppen, die klassisch gar nicht unter die Gruppe der Armen zu zählen wären: etwa Menschen, die für eine bestimmte Zeit in einer besonderen Situation sich befinden, Studenten sind - rein statistisch als arm zu klassifizieren, aber vor allem Menschen, die keine gesicherte Arbeit haben, die im prekären Arbeitsverhältnis stehen, in einem Teilzeitarbeitsverhältnis oder in einem Niedriglohnjob, sehr häufig sind es allein stehende Frauen, die nicht voll arbeiten können, man bekommt eine bunte Gruppe zusammen gestellt, und es zeigt sich auch politisch, dass es offensichtlich schwer ist, die Interessen dieser verschiedenen von Armut betroffenen Gruppen zusammenzuführen und daraus eine politische Konfliktlinie zu machen."

    Ist eine Gesellschaft immer nur so gut oder schlecht zu ihren Ärmsten, wie es die Wirtschaftslage gerade erlaubt? Die Ergebnisse des Sonderforschungsbereiches widersprechen einer solchen zynischen Schlussfolgerung. Hier walte kein Naturgesetz, sondern das sei eine Frage des politischen Gestaltungswillens und der gesellschaftlichen Fantasie, erklärt der Trierer Zeithistoriker Lutz Raphael. Und unverrückbarer Maßstab dabei seien die Menschenrechte:

    "Die Würde des Armen ist etwas, was scheinbar klar zu sein hat in Europa seit der Verbreitung des Christentums. Wir haben gemerkt, so einfach ist das nicht, es gibt immer den unwürdigen Armen, aber es gibt einen für die Gegenwartsgesellschaft ganz anderen Bezug, das ist nämlich die Messlatte der Menschenrechte, und mit der Verbindung von Menschenrechten, Bürgerrechten und dem Recht auf Integration in die Gesellschaft, ganz konkret formuliert in der Frz. Revolution als das Recht des französischen Bürgers unterstützt zu werden, hat man diese Verbindung, und wenn man die Geschichte des 19. und 20 Jahrhunderts sich anschaut ist es ein langer Konflikt:, und dieses Spannungsverhältnis des Anspruchs auf Würde und den Realitäten als Armer, das bleibt aktuell."

    Die Trierer Ausstellung hält ebenfalls diese Spannung aufrecht. Sie hat der Versuchung widerstanden, das eigentlich bittere Thema der Armut als ästhetisches Sujet zu vereinnahmen, und wie ein bizarres Insekt im musealen Bernstein der Kunst einzuschließen. Das Problem der Armut bleibt unbeantwortet, drängend und irritierend - weil sich am Ende der Ausstellung Kunst und Leben zum Verwechseln nahe kommen.

    "Zu sehen ist etwas worüber man stolpern könnte, eigentlich verwechselt man diese Skulptur , dieses dreidimensionale Bild mit einem Obdachlosen, der da sitzt, wie er im Straßenbild zu finden ist, mit übergezogener Kapuze, wir sehen in seiner Hand eine Bierflasche, er sitzt auf einem Stück Pappe, und dieses Stück von Albrecht Wild ist für uns Schlusspunkt der Ausstellung, weil sie zurückwirft auf das, was ist."