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Die vierte Gewalt in Frankreich unter Beschuss

Immer wieder gerät die Presse - und Meinungsfreiheit in Europa unter Druck. Auch in Frankreich: Dort soll ein Satiremagazin, das einen Korruptionsskandal aufdeckte, mit einer millionenschweren Klage auf Linie gebracht werden.

Von Hans Woller | 04.01.2012
    "Die Pressefreiheit nutzt sich nur ab, wenn man sich ihrer nicht bedient" - dieses Motto ziert seit nunmehr 97 Jahren die letzte von acht Seiten des "Canard Enchainé", der Mittwochs erscheinenden satirischen Zeitung, dieser wahren Institution in der französischen Presselandschaft.

    "Ich hab den Canard Enchainé nicht gelesen. Ich stürze mich nicht darauf, ich weiß nicht, was drin steht, und kommentiere dessen Gerüchte nicht.","

    sagte Sozialminister Bertrand einmal – und jeder wusste, der Mann lügt – einen französischen Politiker, der diese Zeitung nicht schon in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch liest, gibt es schlicht nicht.

    Denn das Blatt, das bis heute keine Webseite hat, die besten Karikaturisten beschäftigt und seine Journalisten, von denen manche noch mit der Hand schreiben, am besten bezahlt, das ungewöhnlich frech und extrem seriös zugleich ist, es hat in seiner langen Geschichte eine schier unglaubliche Anzahl von politischen Affären und Skandalen enthüllt.

    Im Lauf der letzten Jahrzehnte etwa die Affäre um die Diamanten, die Präsident Giscard d’Estaing einst vom zentralafrikanischen Operettenkaiser Bokassa entgegen genommen hatte und die ihm 1981 wahrscheinlich seine Wiederwahl gekostet hat. Dann die Skandale der illegalen Parteienfinanzierung in den 80er- und 90er-Jahren, vor allem von Jacques Chiracs konservativen RPR Partei. Oder, Ende 2010, die skandalöse Weihnachtsreise von Außenministerin Alliot Marie nach Tunesien und ihre Kontakte zum Regime Ben Alis, als dort bereits die Demonstrationen der Opposition im Gang waren – die Ministerin musste zurücktreten. Über die Gründe für den Erfolg des Canard Enchainé, sagt der frühere sozialistische Minister und Mitterrand Vertraute, Michel Charasse, ein großer Kenner dunkler Affären:
    ""Der Canard hat ein sehr, sehr gutes Team, bestens informiert, sehr intelligent und kultiviert, historisch sehr bewandert, mit einer extrem strikten Berufsethik, wo alles verifiziert und nochmals verifiziert wird und natürlich gibt es in den Kreisen der Politik und der Wirtschaft auch immer wieder Leute, die den Canard informieren."

    Vielleicht war dies auch im Dezember letzten Jahres so, als das Blatt wieder einmal aufhorchen ließ. Es enthüllte, dass für die größte französische Baustelle der nächsten Jahre – das neue Verteidigungsministerium, das über drei Milliarden Euro kosten wird - die Baufirma Bouygues den Zuschlag dank unlauterer Mittel bekommen hatte – ein Beamter des Verteidigungsministeriums hatte ihr vorab Informationen zugespielt, über die die Konkurrenten nicht verfügten.

    Peinlich für Frankreichs Präsidenten: Martin Bouygues, der Chef des Baukonzerns, ist ein enger Freund von Nicolas Sarkozy, ja sogar Taufpate von dessen Sohn. Bouygues führt nun Klage gegen die Zeitung wegen Verleumdung und fordert neun Millionen Euros Schadenersatz – den Canard Enchainé lässt das kalt.

    "Der Canard hat den Vorteil, dass er wirklich unabhängig ist von Geldgebern und anderen Kräften, weil er keine Werbung hat,"

    sagt Ex-Minister Charasse . Doch trotz der fehlenden Werbung – und dies ist die zweite Stärke der Zeitung - hat sie im Lauf der Jahrzehnte Rücklagen in Höhe von 110 Millionen Euros angehäuft, eine wahre Kriegskasse.

    Erstaunlich bleibt, dass die große Anzahl von Affären, die der Canard Enchainé aufgedeckt hat, auf das politische Leben Frankreichs letztlich wenig konkrete Auswirkungen hatten. Chefredakteur Claude Angeli, heute 80 und seit vier Jahrzehnten beim Canard, nennt ein ganz konkretes Beispiel:

    "Da war das Penthouse, das Sarkozy und seine Frau im Vorort Neuilly von einer Immobilienmaklerin in den 90er-Jahren weit unter Preis gekauft hatten. Wir haben die Beweise geliefert, schriftliche Dokumente, wonach kostenlose Extraarbeiten für eine Million Francs gemacht wurden. Wir haben zwei, drei Artikel darüber gemacht, die in der restlichen Presse kaum ein Echo fanden. In angelsächsischen Ländern und in manchen europäischen, in den USA, Großbritannien, Deutschland, von Skandinavien ganz zu schweigen, hätte Sarkozy nie Präsidentschaftskandidat sein können. In Frankreich aber hat die Gesellschaft dies damals alles geschluckt und verdaut."

    Der Canard hat jetzt, dank Informanten bei der Polizei und in den Geheimdiensten, Präsident Sarkozy beschuldigt, persönlich das Ausspionieren von Journalisten zu überwachen, die sich mit der für ihn heiklen Bettencourt– und der noch heikleren Karachi-Affäre um Waffengeschäfte und Wahlkampffinanzierung befassen. Auch da steht eine Klage ins Haus, geführt vom Chef der Spionageabwehr, Bernard Squarcini - ein Jugendfreund von Präsident Sarkozy. Doch selbst da bleibt der Canard gelassen, man ist sich seiner Quellen sicher.

    "Geduld, Geduld,"

    sagt Chefredakteur Claude Angeli, der jetzt schon weiß, dass seiner Zeitung in diesem Wahlkampfjahr auf jeden Fall weitere gute Zeiten bevorstehen – in besonders turbulenten Wochen wird der Canard Enchainé zwischen 800.000 und 1,2 Millionen mal verkauft.