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Die Vorläufer des Frosts

Vor 50 Jahren erschien Thomas Bernhards Romandebut "Frost" - sein literarischer Durchbruch. Der Suhrkamp Verlag gibt aus diesem Anlass zwei bisher unveröffentlichte Romanfragmente heraus, die als Vorstufen zu Bernhards Romanerstling angesehen werden können.

Von Michael Opitz | 25.09.2013
    Der österreichische Roman- und Theaterautor Thomas Bernhard, aufgenommen im Juni 1976.
    Der österreichische Roman- und Theaterautor Thomas Bernhard, aufgenommen im Juni 1976. (picture alliance / dpa)
    Mit dem 1963 im Insel Verlag erschienenen Romandebut "Frost" gelang dem damals 32- jährigen Thomas Bernhard der literarische Durchbruch. "Forst" ist ein Antiheimatroman. Auf seinen Spaziergängen wird der Maler Strauch von einem Famulanten begleitet, der ihn beobachtet. Die Exkursionen, die durch zerklüftete Seelenlandschaften führen, haben mit dem Ort Weng, in dem alles vor Kälte zu erstarren scheint, ein topographisches Zentrum. Anfangs glaubt der Famulant, dass Strauch wahnsinnig ist. Doch im Verlaufe des Handlungsgeschehens wird dieser Eindruck korrigiert: Der scheinbar Wahnsinnige vermag den herrschenden Weltwahnsinn nicht zu verdrängen. Strauch gelingt es nicht, die Welt auf Distanz zu halten. Umgeben von Gewalt, Grobheiten und Stumpfsinn erkennt er in dem, was er sieht, Zeichen eines katastrophalen Weltzustandes. Dabei erweist sich Frost als eine von Bernhard bewusst verwendete Metapher. Der Titel steht für Kälte, Kälte, so der Maler, die sich ins "Gehirnzentrum" frisst.

    Lange Zeit war man der Meinung, Bernhards Roman wäre aus dem Nichts gekommen. Doch im Nachlass des 1989 verstorbenen Autors fanden sich verschiedene Typoskripte, die verdeutlichen, wie intensiv Bernhard nach dem ultimativen sprachlichen Ausdruck für sein Romandebut gesucht hat. Bislang waren mit "Schwarzach St. Veit" und "Der Wald auf der Straße" zwei Vorstufen bekannt, die allerdings nicht in die seit 2003 vom Suhrkamp Verlag herausgegebene Thomas Bernhard-Werkausgabe aufgenommen wurden, was mit Bernhards testamentarischer Verfügung zusammenhängt. Als letzten Willen hat Bernhard im Testament bestimmt – er nennt es seine "postume Emigration" –, dass nichts aus seinem unveröffentlichten Nachlass auf die Dauer des Urheberrechts publiziert werden darf. Würde man sich strikt an das Testament halten, dürfte auch nichts von ihm Geschriebenes in Österreich "aufgeführt, gedruckt oder auch nur vorgetragen werden."
    Nun erscheinen außerhalb der Werkausgabe – das Testament wird dabei zur Freude der zahlreichen Bernhard-Leser großzügig interpretiert – zwei bisher unveröffentlichte Textfragmente, die unterschiedlicher nicht sein könnten, die aber reizvoll gerade wegen ihrer unverkennbaren Differenz sind.
    Bei "Leichtlebig" handelt es sich um eine im Januar/Februar 1962 Fragment gebliebene Geschichte. Dass der als "Geschichtenzerstörer" bekanntgewordene Bernhard eher konventionell erzählte, mutet auf den ersten Blick seltsam an. Doch Bernhard befand sich zu dieser Zeit noch am Anfang seiner schriftstellerischen Arbeit und er war – was die Prosa anbelangt – noch ein Suchender. Zentral sind in dem Text ein Stellwerkarbeiter und ein namenlos bleibender Doktor, die sich zufällig in einem in Schwarzach gelegenen Gasthof treffen. Dort macht der Arbeiter Urlaub.

    "Es war ihm, Leichtlebig, die Zeit nicht lang, wenn er mit dem Doktor herum ging. Es handelte sich weniger um Spaziergänge, die sie zusammen machten, als um ein fortwährendes ‚Die Fluchtergreifen’ vor der Krankheit, die der Doktor hatte, vor dieser Kopfkrankheit nämlich, die mit der Zeit auch auf Leichtlebig drückte, der mit ihr ja nichts zu tun hatte, nur insofern, als der Doktor dauernd von ihr redete, wenn es ihm auch unmöglich war, sie zu erläutern; der Doktor sagt selbst, es ist eine Krankheit, die man nicht erklären kann."

    Eine ähnliche Figurenkonstellation greift Bernhard in "Frost" erneut auf. Auch das Motiv des Kopfes – das sich bereits in "Leichtlebig" findet – ist im Roman von zentraler Bedeutung. Doch neben den Gemeinsamkeiten gibt es besonders in der Erzählweise auffällige Unterschiede zwischen dem Fragment und dem Romandebut. Allein die Schilderung einer Wirtshausszene in "Leichtlebig" atmet das Atmosphärische, durch das sich "Frost" auszeichnen wird.

    "Der Doktor empfand diese Mahlzeiten immer als das größte Martyrium, aber er zwang sich zur Kommentarlosigkeit, er hatte nur einmal Leichtlebig gegenüber die Bemerkung gemacht, daß es ihm beinahe unerträglich sei, zur Essenszeit im Gastzimmer zu sitzen, diese Ausdünstung, hatte er gesagt, ist die Strafe Gottes. Wortfetzen flogen durch die dicke Luft, Gelächter wurde von irgendwelchen Witzen durch den Tabaksnebel geschleudert. [...] Diese Mahlzeiten sind für mich der Vorgeschmack der Hölle, sagte der Doktor zu Leichtlebig."

    Wenige Monate nachdem "Leichtlebig" entstand, im Mai/Juni 1962, schrieb Bernhard einen mit "Argumente eines Winterspaziergängers" überschriebenen Text, dessen Nähe zu "Frost" unverkennbar ist. Die Wortkaskaden des Malers Strauch sind identisch mit denen des Doktors aus "Argumente eines Winterspaziergängers". Was in dem nur knapp vierzig Seiten umfassenden Textkondensat angedeutet wird, erfährt in "Frost" auf etwa 300 Seiten seine epische Gestaltung. Im frühen Entwurf aber – und das macht ihn so überaus interessant für die Bernhard-Forschung und die Bernhard-Leser – ist bereits alles angelegt, was "Frost" auszeichnet.

    "Ich, das ist schwarz, schweigsam, tödlich ... plötzlich der Fluß, diese Vorstellung, sagte der Doktor, der Krieg ... eine Sache des Kopfes: der Kopf ist die Finsternis, der eigene Kopf, die Finsternis ist ja geradezu die hohe Aufgabe des Kopfes ... [...] die Kunst, zu existieren, ist eine Kunst, die ein ununterbrochenes Training verlangt und sie ist viel schwieriger als die Kunst des Seiltänzers ... mit viel mehr Schrecken verbunden ... man tanzt da über dem Abgrund, in dem man täglich seine gemeine Seele zerschmettert ..."

    Thomas Bernhard hat in einem Interview mit Peter Hamm erwähnt, dass er im Sommer 1962 "Frost" in Wien geschrieben hat.

    "Bin um vier Uhr früh aufgestanden und hab geschrieben bis 9 Uhr. [Dann bin ich] ins Schwimmbad gegangen, so halbzehn [...], hab mich in die Sonne gelegt und hab geschwommen [...]. Bin dann zum Mittag in die WÖK gegangen, das ist diese Wiener öffentliche Küche, da hat man für 7 Schilling 50 ein Menue gekriegt, und bin anschließend schräg gegenüber ins Caféhaus, Zeitungen lesen. Hab mich um 4 Uhr dann wieder hingesetzt und hab so bis um 10 Uhr abends geschrieben."

    Etwas aber muss sich zwischen Februar 1962, als er "Leichtlebig" nicht weiterführte, und Mai 1962 ereignet haben, als Bernhard mit "Argumente eines Winterspaziergängers" etwas gänzlich Neues beginnt und alle bis dahin erprobten Erzählverfahren verwirft. Fortan haben seine Prosaarbeiten jenen unverkennbaren sprachlichen Furor. Der Sezierer, Weltverflucher, Egomane und Katastrophenbeschwörer hat seinen Ton gefunden, und er wird diese hohe, unversöhnliche Tonlage in seinen künstlerischen Arbeiten bis zu seinem Tod im Dezember 1989 durchhalten.

    "Unser Staat, sagte der Doktor, ist lächerlich ... unser Staat ist eine Lächerlichkeit, mit der sich die Welt nicht beschäftigt, nicht mehr, sagte der Doktor, beschäftigt ... das ist die Wahrheit, das ist die Tragödie: das Lächerliche geht von der Spitze aus: Rot und Schwarz steuern das Schiffchen ohne Umschweife in den Abgrund hinunter ... unser Staat ist eine kleinbürgerliche Unzucht ... zu allem Überdruß gibt sich das Ganze hochmusikalisch, wie Sie ja wissen ... für mich ist das viel zu abstoßend, um mich auch noch an dem allgemeinen Niedergang zu beteiligen: die obere Fettschicht und die allgemeine um sich greifende Bevölkerungsverdummung ... nun gut: wir befinden uns in einem Stadium der absoluten Verwahrlosung: unser Staat, sagte der Doktor, ist ein Hotel der Zweideutigkeit ... das Bordell Europas, mit einem ausgezeichneten überseeischen Ruf."

    Der mit einem Nachwort von Raimund Fellinger und Martin Huber versehene Band, der auch Faksimiles des "Leichtlebig"-Typoskripts enthält, dokumentiert mit den beiden Fragmenten den entscheidenden Wendepunkt in Bernhards Prosaschaffen. Das macht die Bedeutung dieses Bandes aus, der darüber hinaus zu zeigen vermag, wie zentral das Motiv des Kopfes in Bernhards Werk ist.

    Literaturhinweis: Thomas Bernhard, Argumente eines Winterspaziergängers, Zwei Fragmente zu Frost, Herausgegeben von Raimund Fellinger und Martin Huber, Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 146 Seiten, 18,95 Euro.