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Die Wahrheit über das Ehepaar Tolstoi

Ursula Keller hat die einseitige Sicht des neuen Tolstoi-Films auf die Rolle von Sofia Tolstaja kritisiert. Sie werde in Michael Hofmanns Kinofilm "Ein russischer Sommer" als habgierig und hysterisch dargestellt.

Ursula Keller im Gespräch mit Katja Lückert | 31.01.2010
    Katja Lückert: Leo Tolstoi, der Autor von Klassikern des realistischen russischen Romans wie "Anna Karenina" und "Krieg und Frieden", in diesem Jahr jährt sich sein 100. Todestag. Und wie immer gibt es bei solchen Anlässen eine Welle von Publikationen, die sich mit dieser so widersprüchlichen Persönlichkeit beschäftigen. Auch ein biografisch orientierter Spielfilm kommt in diesen Tagen in die Kinos: Unter dem Titel "Ein russischer Sommer" verfilmte der amerikanische Regisseur Michael Hoffmann die Romanvorlage von Jay Parinis Buch "Tolstois letztes Jahr", und es geht um das letzte turbulente Lebensjahr des Schriftstellers, der am Ende seines über 80-jährigen Lebens zu einer Art Guru, fast einem Popstar ähnlich von Journalisten und Fans umschwärmten Star wurde. Die Frage ging an Ursula Keller, die zusammen mit der Kunsthistorikerin Natalja Sharandak eine Biografie über Tolstois Frau Sofia Tolstaja geschrieben hat. Sie wird im Film von der Schauspielerin Helen Mirren dargestellt. Kommt sie Ihrer Vorstellung von Tolstois Frau nahe?

    Ursula Keller: Ja. Sofia Tolstaja wurde eigentlich immer dargestellt als die Xanthippe, die hysterische Frau, die ihrem Mann das Leben schwer machte, die in Habgier sozusagen gefangen war und seine Ideen nicht verstanden hat. Wir haben halt versucht anhand der Quellen zu zeigen, dass die Sache, wie immer, nicht so einfach ist. Also sie war eine ganz, künstlerisch sehr begabte Frau, sie hat gemalt, fotografiert, sie hat sehr gut Klavier gespielt, und sie hat in der zweiten Hälfte ihres Lebens auch angefangen zu schreiben. Und das war halt eine Facette in der Biografie dieser Frau, die eigentlich bis vor Kurzem ganz unbekannt war. Und das wirft halt noch mal ein neues Licht auch auf die Frau an der Seite des Schriftstellers, die, wie ich finde, auch in dem Film nicht genügend dargestellt wird.

    Lückert: Sie hat 13 Kinder geboren, seine Werke bearbeitet – allein sechsmal soll sie "Krieg und Frieden" abgeschrieben haben, so liest man immer. Andererseits hatte das Ehepaar Tolstoi auch die Angewohnheit, seine Tagebücher gegenseitig zu lesen. War es eigentlich ein moderneres Paar, als es im Film dargestellt wird?

    Keller: Ganz im Gegenteil! Tolstoi war eigentlich schon in seiner Zeit, zumindest was das Frauenbild betrifft, eher konservativ eingestellt. Also es gab in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus auch in Russland Ansätze eines Feminismus, und Tolstoi war in, also was sein Frauenbild betrifft, sehr rückwärts gewandt. Also so erklären sich dann eben auch die 13 Schwangerschaften. Also er, Tolstoi sah die Bestimmung der Frau in der Rolle der Mutter, Ehefrau und für die Familie sozusagen.

    Lückert: Aber sie war ihm aber mehr?

    Keller: Sie war ihm viel mehr, aber das passte eigentlich nicht in sein Konzept und das hat sozusagen dann auch eben die Konflikte in der Ehe hervorgerufen. Also nachdem er eben auf dem, auf seinem schöpferischen Höhepunkt in eine Krise geraten war und sich der Sozialkritik und Religionsphilosophie zugewandt hatte, danach hat Tolstoi schon die Urheberrechte an seinen Werken abgetreten. Das war zum Beispiel ein Punkt für ganz extreme Konflikte, aber hier hat das Ehepaar eben den Kompromiss gefunden, dass die Werke, die in den ersten zwei Jahrzehnten der Ehe geschrieben wurden, auf Sofia Tolstaja überschrieben wurden, übertragen wurden, und die Werke danach, die waren sozusagen eben urheberrechtsfrei.

    Lückert: Wie war es dann am Ende? Tolstoi hat sich dann von der Familie zurückgezogen in einen alten Bahnhof und ist dort auch gestorben, und sie durfte ihn auch nicht mehr sehen. War das so eine etwas dramatische Endgeschichte?

    Keller: Tolstoi geriet in seine Krise und das führte zu sehr heftigen und dramatischen Auseinandersetzungen in der Familie und mit seiner Frau. Aber diese Schlachten waren dann so Anfang des 20. Jahrhunderts geschlagen und das Ehepaar lebte eigentlich mehr oder weniger harmonisch zusammen. Und die Konflikte brachen erst wieder auf, nachdem Tschertkow, der Obertolstoianer, Tolstoi dazu drängte, ein Testament zu verfassen, in dem er, Tschertkow, als alleiniger Nachlassverwalter der Werke Tolstois bestimmt wurde. Und diese ganze Geschichte vollzog sich hinter dem Rücken von Sofia Tolstaja. Und im Film wird es eben so dargestellt, als wenn Sofia Tolstaja die habgierige Frau ist, die sich nicht damit einverstanden erklären möchte, dass die Urheberrechte freigegeben werden. Aber nach meiner Ansicht liegt der Konflikt eben darin, dass auch für Tolstoi das unerträglich war, dass er damit seine Frau hintergangen hat. Also er hat es ihr, es wurden immer die Fragen gestellt: Hast du ein Testament geschrieben? Er hat darauf nicht geantwortet, auf diese Frage. Und das wichtigste Prinzip in der Ehe der Tolstois war absolute Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit. Und dieses Prinzip hat Tolstoi selbst verletzt. Und nach meiner Interpretation ist das auch der Grund, warum er seine Frau dann oder sein Heim und seine Frau dann verlassen hat, weil er diese Unaufrichtigkeit, die er selber begangen hatte, nicht mehr ertragen konnte.

    Lückert: Die Slawistin und Tolstoja-Biografin Ursula Keller, sie gab sich für uns heute auch als Filmkritikerin her.