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Die Welt aus den Fugen

Erst seit der Publikumsverlag Eichborn das Wagnis eingegangen ist, seine monologischen, meditativ mäandernden Romane zu veröffentlichen, haben die hiesigen Feuilletons in David Albahari einen großen Schriftsteller erkannt. Bravourös übersetzt erzählt "Die Ohrfeige", Albaharis fünfter auf deutsch vorliegender Roman, von einer erkenntnisverwirrenden Verschwörung.

Eine Rezension Von Dorothea Dieckmann | 30.08.2007
    "Eine Ohrfeige verändert manchmal den ganzen Kosmos." Als der - wie immer bei Albahari - namenlose Erzähler im März 1998 eine Zeitungsannonce mit diesem Text entdeckt, ist seine Welt schon aus den Fugen geraten. Kurz zuvor war er Zeuge, wie ein Mann am Belgrader Donauufer eine Frau ohrfeigte. Seit diesem Tag ist die Stadt für ihn voller Zeichen. An allen Ecken stößt er auf ein Doppeldreieck, dessen Bedeutung ihm selbst ein Mathematiker nicht erklären kann; im jüdischen Stadtteil Zemun empfängt er eine seltsame übersinnliche Schwingung. Zwei Monate später wird er das Land verlassen, ohne zu wissen, ob er Akteur oder Opfer einer gespenstischen Dynamik war. Bisher hatte er die Zeit mit Übersetzungen, einer wöchentlichen Kolumne und den Joints mit seinem Freund Marco verbracht. Als er sich auf die Anzeige meldet, wird ihm ein Manuskript zugespielt, das die Geschichte der Zemuner Juden mit der Kabbala verbindet. Verwirrt vertraut er sich Marco an.

    Nichts existiert für sich allein, sagte ich, alles ist miteinander verbunden, alles ist Teil eines großen oder kleinen Netzes, das seinerseits Teil eines noch größeren ist, und so weiter(...). Nur wer das letzte Netz knüpft, kennt die Struktur aller anderen, diejenigen jedoch, die die kleineren machen, wissen nichts von den anderen und verstricken sich unweigerlich darin, denn sie wissen nicht, was die Netze bedeuten und was sie ihnen antun. In ihrem eigenen Netz, bemerkte Marco, ist die Spinne eine Spinne, aber im fremden ist sie auch nur eine Fliege. Ja, sagte ich, aber ich möchte weder die Fliege noch die Spinne sein. Das klebrige Netz unserer Wirklichkeit, aus dem sich niemand befreien kann, reicht mir vollkommen.

    Bald aber wächst das Netz über die Grenzen des Imaginären in eben diese Wirklichkeit hinein. Nachdem sich der Erzähler, angeregt durch das Manuskript, mit einer Gruppe Juden getroffen und in die verschlungenen Wege der Kabbala hat einführen lassen, findet er an seiner Wohnungstür eine antisemitische Parole. Die Schikanen werden schlimmer, als er in seiner Kolumne die ethnische Verfolgung in Serbien analysiert. Zugleich wuchern die Rätsel in der mit der Ohrfeige angestoßenen Ereigniskette. Eine junge Frau hinterläßt in einem Café einen Zettel mit einem Satz aus dem Manuskript und einer Telefonnummer, die ihn sofort zu zahlenmystischen Gedankenspielen motiviert. Längst ist er in ein Spiel verstrickt, das zwischen obskurer Verschwörung und zielgerichtetem Plan changiert:

    Im nächsten Augenblick fragte ich mich, was ich da eigentlich tat: Mein Land war dabei auseinanderzufallen, Bombendrohungen hinten in der Luft wie überreifes Obst, Menschen zerbrachen, als wären sie aus Legosteinen zusammengesetzt, der Irrsinn war nahe daran, zum Normalzustand erklärt zu werden, und ich vergeudete meine Stunden und Tage mit kabbalistischen Geheimnissen und antijüdischen Verschwörungen, um dahinter zu kommen, wer im Morast des Flusses Spuren hinterlassen hatte, die längst verwischt waren.

    Das Verschwinden des Menschen in der Geschichte und die Unentzifferbarkeit des Daseins sind stets David Albaharis Themen gewesen. In seinem bei Zsolnay erschienenen Roman "Tagelanger Schneefall" hat er das Verstummen im Exil beschrieben, in "Mutterland" den Verlust der Erinnerung anhand der Biographie der serbischen Mutter, in "Götz und Meyer" die wahnhafte Verwicklung in die historische Vernichtung der Juden, Albaharis väterlichem Erbe. Mit bodenloser Trauer und trockenem Humor hat er dabei immer auch das Versagen der Sprache angesichts der Katastrophe reflektiert, die Eroberung der Worte durch eine Stille, in der Traum und Wirklichkeit verschwimmen - wie hier in diesem radikalen Bild:

    Ich wurde im Traum wach, weil ich meinte, jemand sitze an meinem Bett und betrachte, über mich gebeugt, meine geschlossenen Augen. Da ich träumte, meine Lider seien geschlossen, war Dunkelheit alles, was ich im Traum sah. Im meinem Traum war ich wach, wagte aber nicht, die Augen aufzumachen, weil ich Angst vor dem hatte, was ich sehen würde ...

    Postmoderne Auflösung des Erzählens oder nicht - in diesem Roman erlangt der Strudel der Fiktion zunehmend Tempo und Spannung, bis sich aus der mystischen Verbindung von Mathematik, Kabbala und harter politischer Gegenwart das Muster einer realen Verwicklung herausschält, ja auf den letzten Seiten aufklärt. Doch bis dahin hat sich der Leser im Strudel einer mystischen Transformation verloren, die ihm, wie dem Erzähler das jüdische Manuskript, durch die Finger rinnt wie Sand. Und trotzdem:

    ... dies hier ist kein Sandbuch, in dem man nach Belieben lesen kann, sondern ein Text, bei dem die Seele des Lesers ebenso mühsam hinaufsteigen soll, wie meine mit jeder geschriebenen Seite hinunterstieg und sich dem unvermeidbaren Ende näherte. Ja, es ist schon schlimm, dass die Bücher ein Ende haben, während das Leben weitergeht (...), obwohl man genauso gut auch das Gegenteil behaupten kann: dass uns gerade die Endlichkeit des Buches hilft, die Illusion vom ewigen Leben (...) zu begraben.