Donnerstag, 25. April 2024

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Die Welt der Steine

Die Zeit zwischen den Jahren ist auch die Zeit, in der all die schönen neuen Geschenke eingeweiht werden. Doch ob DVD-Player oder Raclette-Set: Vor den Genuss haben die Götter die Gebrauchanweisung gesetzt. Wie gut tun da Geschenke, die einem keine Steine in den Weg legen. Zum Beispiel Steine.

Von Ulla Hahn, Schriftstellerin | 02.01.2010
    Der erste, leicht gewölbte Umschlag, dessen Inhalt sich hart und klobig anfühlte, wurde mir von einer Zuhörerin in Köln hingeschoben. Auf Lesereise mit meinem Roman "Das verborgene Wort" saß ich am Tisch und signierte, und ich steckte das Päckchen unbesehen in die Tasche. Wenig später legte mir eine junge Frau mein Buch zur Unterschrift auf den Tisch - zusammen mit einem Stein. Einem glatten, schwarzgrauen beinah vollkommenen Oval. "Aus Lesbos", erklärte sie, dort habe sie im Urlaub den Roman gelesen; hier, sie gab noch ein Foto dazu, habe sie den Stein gefunden.

    Ich konnte nur schnell zwischen zwei Unterschriften Danke sagen, konnte gar nicht zeigen, wie beglückt und berührt ich war, dass die Steine aus dem Buch plötzlich in die Wirklichkeit hinüberreichten.

    Zwei Steine spielen ja im "Verborgenen Wort" eine wichtige Rolle, der Buchstein und der Wutstein. Aus dem Buchstein, einem geäderten Rheinkiesel, liest der Großvater der kleinen Hilla und ihrem Bruder Geschichten vor. Den Wutstein muss man solange anschauen, bis das Gesicht des Menschen, der einem Unrecht getan hat, aus dem Stein heraufsteigt. Dann ab damit, in den Rhein, ins Wasser.

    Die Symbolik des Steins hat viele Menschen angesprochen. Mit der Lesung in Köln begann eine Steine-Sammlung, die meine beiden Fensterbänke im Arbeitszimmer zusehends füllte. Manchmal war es schon beschwerlich, die Steine von einer Stadt in die andere zu tragen, oft war ich ja vier oder fünf Tage hintereinander unterwegs. Doch wie beschwingt kehrte ich jedes Mal mit meiner steinernen Gabe in das fremde Hotelzimmer zurück!

    Steckten die Steine in einem Umschlag, war jedes Mal eine Geschichte dabei, die oft mit großem Vertrauen vom Leben des Schenkenden erzählte. Meist Erinnerungen an anrührende oder beklemmende Ereignisse, Betrachtungen, die offensichtlich von der Lektüre des "Verborgenen Worts" ausgelöst worden waren. Diese Leser waren mit meinem Buch ins Gespräch gekommen, hatten das Buch nicht nur verschlungen, sich nicht verschlingen lassen, hatten sich vielmehr mit ihrem eigenen Leben zu dem der Heldin Hilla Palm in Beziehung gebracht. Waren sich dadurch selbst ein Stück näher gekommen. Ein derart aktives Lesen ist das schönste Geschenk für einen Autor.

    In meinem neuen Roman "Aufbruch", dem zweiten Band zum "Verborgenen Wort", habe ich das Motiv der Steine wieder aufgenommen, allerdings auf eine verspieltere Art. Da gibt es zum Beispiel Lachsteine, Traumsteine, Lügensteine. Und was glauben Sie? Auch meine Steine-Sammlung hat eine neue Wendung genommen. Oft kommen die Steine nun in kleinen Schmuckkästchen, auf Watte und sind - bemalt! Mal vorne mit einem lachenden, hinten einem weinenden Gesicht, mal fantasievoll mit Ornamenten verziert. Und einmal schenkte man mir sogar ein richtiges Kunstwerk: ein kleiner Achat in einer riesigen Kiste unter Unmengen Seidenpapier. Titel: Prinzessin auf der Erbse. Auch aus fernen Ländern reisten sie diesmal bis auf meine Fensterbank, von der Hohen Tatra bis zum Kita Kinabalu. Aber vor allem und immer wieder kommen sie aus dem Bett von meinem geliebten Vater Rhein.