Donnerstag, 25. April 2024

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Die Welt ist nicht genug (Teil 1)

In Immenstaad bei Friedrichshafen wird gefeiert: Vor genau 50 Jahren begann die damalige Dornier GmbH, seinerzeit ein wichtiger Hersteller von Flugzeugen, mit dem Bau von Weltraumsatelliten. Heute gilt das Nachfolgeunternehmen Astrium als eines der wichtigsten Entwicklungsunternehmen auf diesem Gebiet.

Von Thomas Wagner | 22.06.2012
    "Attention pur le deconte final: Dix, neuf, huit…"

    1.März 2002: Höchste Anspannung bei den Experten auf dem europäischen Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guyana.

    "Alumage … Decollage"

    Mit einer Ariane V-Rakete wird der acht Tonnen schwere europäische Umweltsatellit "Envisat" ins All geschossen. Der war zuvor in jahrelanger Arbeit am Standort Immenstaad des europäischen Raumfahrtkonzerns Astrium entwickelt und endmontiert worden – ein Moment, den Entwicklungsingenieur Albert Zaglauer nie mehr vergessen wird:

    "Man ist aufgeregt. Man hat Herzklopfen. Man hat Tränen in den Augen. Manche erwachsenen Männer habe ich da schon weinen sehen. Jeder hat einen anderen Charakter. Da spielen Emotionen schon eine große Rolle."

    Doch längst arbeitet Albert Zaglauer an einem neuen Projekt. Es geht um die so genannten "Swarm"-Satelliten – ein Auftrag der Europäischen Raumfahrtorganisation ESA. Die "Swarm"-Satelliten sollen das Erdmagnetfeld der Erde vermessen – ein Forschungsauftrag, von dem später einmal die ganze Menschheit profitieren wird, glaubt Albert Zaglauer:

    "Was bringt das? Das Magnetfeld der Erde. Wenn es das Magnetfeld der Erde nicht gäbe, hätten wir kein Leben auf der Erde. Das ist der Schutz vor der Strahlung aus dem Weltall. Das wäre schon Grund genug, das zu erforschen. Außerdem gibt das Magnetfeld der Erde eine gute Indikation über die Aktivitäten der Sonne. Und wenn wir Beobachtungen über das Magnetfeld machen, können wir etwas sagen über das Sonnenwetter."

    Envisat, Swarm, Terrar-Sar-X, Rosat – all diese Satelliten, die als Meilensteine in der europäischen Raumfahrtgeschichte gelten, sind in den Labors in Immenstaad bei Friedrichshafen entwickelt worden, gerade einen Steinwurf vom Bodenseeufer entfernt. Vor genau 50 Jahren begannen Experten des damaligen Flugzeugherstellers Dornier mit den Arbeiten für die ersten Satelliten – der Anfang der Weltraumtechnologie am Bodensee. Heute ist Dornier, gemeinsam mit den früheren Unternehmen Erno und MBB, im europäischen Raumfahrtkonzern Astrium aufgegangen, eine 100prozentige Unternehmenstochter des EADS-Konzerns. Immenstaad bei Friedrichshafen gilt mit 1200 Mitarbeitern, davon 80 Prozent Ingenieure, als größter deutscher Astrium-Standort. Die Experten bauen dort hauptsächlich Wissenschafts- und Wettersatelliten, Lebenserhaltungssysteme für Raumstationen, automatische Mini-Labors, in denen die Wissenschaftler ferngesteuert wichtige Experimente in Schwerelosigkeit durchführen können.

    "Frau Dietrich, guten Morgen! – Guten Morgen! Ich glaube, wir sollten nochmals über die Reiseplanung dieser Woche sprechen, das Programm nochmals kurz durchgehen."

    Dieser Mann ist ständig unterwegs: Morgen ein Gespräch bei der europäischen Raumfahrtorganisation ESA, tags darauf eine Abstimmung bei Astrium Toulouse, dem ein Termin am Astrium-Standort Ottobrunn bei München folgt: Wie viele der Raumfahrtexperten vom Bodensee lebt Eckkehard Stellelmeyer häufig aus dem Koffer – ein Tribut an die internationale Vernetzung des Unternehmens. Settelmeyer ist Standortleiter in Immenstaad und damit nicht nur für die Entwicklung, sondern auch für die Vermarktung der Satellitenprojekte verantwortlich:

    "Primärkunden sind die öffentlichen Auftraggeber, und zwar insbesondere die Raumfahrtagenturen hier aus Deutschland, das DLR, die Deutsche Agentur für Luft und Raumfahrt, und auf europäische Seite natürlich die ESA, die European Space Agency. Das sind unsere Hauptkunden. Das ESA-Auftragsvolumen macht ungefähr 80 Prozent unseres Geschäftes hier aus. Damit sehen Sie, dass wir eine sehr große Fokussierung auf die europäischen Raumfahrtprojekte hier haben."

    Solche Projekte werden stets international ausgeschrieben; ein Erdbeobachtungssatellit ist in der Regel nicht unter 180 Millionen Euro zu haben. Von der ersten Idee bis zum Start dauert es dann schon mal bis zu zehn Jahren. Die Internationalität des Geschäftes ist das eine, die Ansiedlung der größten deutschen Satelliten-Schmiede ausgerechnet im eher kleinteiligen Bodenseeraum, fernab aller großen Ballungszentren, das andere:

    "Wir schauen natürlich auf ganz traditionelle, historische Wurzeln. Viele der Firmen, die hier am Bodensee tätig sind, sind natürlich aus den Zeppelin-Aktivitäten aus der Jahrhundertwende entstanden. Und viele dieser Firmen sind immer noch am Bodensee aktiv und aus den frühen Wurzeln rausgewachsen."

    Dazu gehört eben auch Astrium, hervorgegangen aus den Dornier-Flugzeugwerken – auch dies seinerzeit ein Unternehmen der Zeppelin-Produktion.

    Auf dem Weg zum so genannten "Clean-Raum", in dem die Satelliten endmontiert werden. Erst mit einem elektronischen Spezialschlüssel öffnet sich die Tür. Dahinter tritt man auf Bürsten, die in den Fußboden eingelassen sind. Sie reinigen die Schuhe von Schmutzteilchen. Die Szene im "Clean-Raum" erinnert eher an einen modernen Operationssaal eines Krankenhauses denn an eine Werkstatt zur Endmontage moderner Forschungssatelliten. Die Ingenieure tragen Mundschutz und sterile Kleidung. Das hat seinen Grund: Die hochempfindlichen Bauteile müssen nach dem Start über Jahre, manche über Jahrzehnte hinweg ohne weitere Wartung funktionieren. Das ist für Astrium in doppelter Hinsicht wichtig: Längst entwickelt und montiert das Unternehmen nicht nur Satelliten – es beteiligt sich auch finanziell an einzelnen Projekten. Beispiel: die Erdbeobachtungs-Satelliten Terrar-X-Sar und Tandem-X. Sie sind am Bodensee im Auftrag der europäischen Weltraumorganisation ESA entstanden. Astrium hat die Kosten von rund 150 Millionen Euro zur Hälfte mitfinanziert – und darf dafür die Erdbeobachtungsdaten auch kommerziell vermarkten. Das ist ein Zukunftstrend im Satellitengeschäft. Frank Hensler von der Astrium-Tochter Infoterra-GmbH schildert dies an einem Beispiel:

    "Wir waren letztes Jahr auf einer Tunnelbaumesse. Was machen wir? Wir können wirklich mit dem Terrar-Sar-X aus dem All heraus millimetergenaue Erdhebungen und Senkungen messen? Nehmen wir einen großen Tunnelbau oder einen großen Tiefgaragenbau: Da wird viel Erdreich extrahiert. Da wird der Grundwasserspiegel abgesenkt. Es werden Instabilitäten an der Oberfläche erzeugt. Und diese Instabilitäten können wir zum Beispiel nachweisen mit der Technik, millimetergenau."

    Umweltsünder, die aus Tankschiffen illegal auf den Weltmeeren Öl ablassen, können mit Hilfe der Terrar-Sar-X-Daten überführt werden. Ebenso lassen sich neue Ölfelder mit diesen Daten finden – die Fülle der Vermarktungsmöglichkeiten ist groß.

    Stillstand ist Rückschritt – gerade im Raumfahrtgeschäft. Zum Geschäft von Standortleiter Eckkehard Settelmeyer gehört es auch, weit in die Zukunft zu blicken. Welche Aufgaben kommen auf die Raumfahrt-Schmiede am Bodensee in den nächsten Jahrzehnten zu?

    "Menschen wollen immer schon explorieren, unterwegs sein, Grenzen sprengen, über das rausschauen, was auf der Erde zu finden ist. Und ich glaube, dass diese Faszination weiter anhält. Unterwegs zu sein im Weltraum, andere Planeten zu erforschen, vielleicht auch außerhalb des Sonnensystems zu forschen. Ich glaube, das ist weiterhin eine Faszination. Und können wir ein Stück weit mithelfen, zu einer Klärung beizutragen mit Missionen, die wir für die ESA realisieren, die wir für Wissenschaftler realisieren."