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Die Welt nicht mit den Augen alter Männer betrachten

In ihrer Streitschrift attackiert die Kunsttheoretikerin Rosalind Krauss ein zu starres, lineares Kunstgeschichtsmodell. Dabei analysiert sie auf der Suche nach dem optische Unbewussten in der modernen Kunst Künstler wie Max Ernst, Duchamp, Picasso, Pollock und Bataille. Das Standardwerk liegt nun endlich in vorzüglicher Übersetzung auch auf Deutsch vor.

Von Joachim Büthe | 19.12.2011
    Am Anfang dieses Buches steht John Ruskin, nicht der Verfasser der Modernen Maler, sondern der kleine John, der nichts darf und kein Spielzeug besitzt, einzig verwiesen auf die Beobachtung, auf seine Schaulust. Der mit seinen Eltern reist und die fremden Sprachen nicht versteht, die sich für ihn auf ihren Klang reduzieren. Das ist praktizierte Autonomie, kommentiert Rosalind Krauss. So gesehen steht Ruskin am Beginn der Theorie des Modernismus und seiner Abstraktionen. Es gibt jedoch einen zweiten Strang der Moderne, der sich der Selbstbezüglichkeit der reinen Malerei entzieht. Ihm, und damit den Erforschern des optischen Unbewussten, ist Rosalind Krauss auf der Spur. Beide Richtungen gehen, mit unterschiedlichen Ergebnissen, von den Grundlagen des Sehens aus, sodass sich die Frage stellt, ob sie in Opposition zueinander stehen und ob sich diese Frage in einem linearen Kunstgeschichtsmodell überhaupt lösen lässt.

    Kunsthistoriker denken wie Scholastiker. Sie denken in Typologien. In Revisionen. Sie sehen die Welt mit den Augen alter Männer, betrachten sie mit jenem starr rückwärts gewandten Blick, der nach bewährten sicheren Trittsteinen in Gestalt von Präzedenzfällen sucht, nach Leitern, auf denen man langsam und mühsam bis zur Gegenwart emporklettern kann. In eine Gegenwart, die allein schon dadurch gefestigt erscheint, dass man sie als längst angekündigt und vorausgesagt begreift.

    Rosalind Krauss verlässt dieses Modell und denkt sich einen Raum, dessen Grenzen zwar umrissen sind, der jedoch von innen unterminiert wird. So ist die Kunst des 20. Jahrhunderts zuvor nicht kartografiert worden. Es gibt Hauptdarsteller in den einzelnen Kapiteln, Max Ernst, Duchamp, Picasso, Pollock und Bataille, aber sie werden nicht der Übersichtlichkeit halber gegeneinander gesetzt. Picasso und Duchamps zum Beispiel werden zumeist als die fleischgewordenen Antithesen des 20. Jahrhunderts angesehen. Krauss führt vor, dass Duchamps Polemik gegen die retinale Kunst keineswegs mit Entsinnlichung einhergeht, im Gegenteil.

    So war Duchamps Ablehnung nicht einfach eine pauschale Verdammung all der Aspekte der Wissenschaft, die die Moderne sich anzueignen gedacht hatte. Was er ablehnt, ist vielmehr das "arrêt à la retine", die Beendigung des analytischen Prozesses an der Netzhaut, in dem die Interaktionen zwischen den Nervenenden – ihre koordinierte Stimulation und Innervation – in eine Art sich selbst genügenden oder autonomen Aktivitätsbereich verwiesen werden ... Das Projizieren des retinalen Feldes auf die Bildebene der modernen Malerei mit der positivistischen Erwartung, die Gesetze des einen würden die Autonomie der Operationen des anderen bestimmen und garantieren, ist typisch für die Form, in der die klassische Moderne den autonomen Bereich des Visuellen etablierte und ihn in der Folge zum Fetisch erhob.

    Die klassische Moderne reduziert den Betrachter auf das Auge, Duchamp gibt ihm den Körper zurück, den erotischen Blick, das Begehren. Und Picasso? Auch für ihn ist die Malerei der Stillstand der Bewegung, der vollendete Augen-Blick. Mit dem Konkurrenten Duchamp wusste er wenig anzufangen. Aber er war begeisterter Zuschauer des Trivialtheaters des Catchens, seine Skizzen mit ihren minimalen Abweichungen, zum Beispiel zum "Frühstück im Freien", lassen sich als Daumenkino auffassen und am Ende sagt er, dass ihn die Bewegung der Gedanken mehr interessiere als der Gedanke selbst. Bei der Bewegung, die den Puls der Populärkultur antreibt, setzen die Künstler des optischen Unbewussten an. Max Ernst zum Beispiel, der das Material populärer Zeitschriften in seinen Collagen verarbeitet, auch Abbildungen stereoskopischer Illusionsmaschinen, fertige Bilder, Ready Mades wie sie in Träumen erscheinen. Sie brechen die Form auf, liegen unterhalb des Systems der guten Form. Hier kommt Bataille und sein Begriff des Informe ins Spiel, der nicht mit Formlosigkeit gleichzusetzen ist. Es ist Formlosigkeit innerhalb der Form. Rosalind Krauss exemplifiziert ihn anhand von Giacomettis Plastik Boule suspendue, einer hängenden Kugel mit tiefem Einschnitt, die über einen liegenden Keil schwingt.

    Als Instrument der Penetration ist der Keil männlichen Geschlechts, während die verletzte Kugel weiblich ist. Aber als Labialfläche, die von ihrem aktiven, sie besitzenden Partner gestreichelt wird, kehrt sie ihr Geschlecht um und wird zum unverwechselbaren Bild der Genitalität der Frau. Schwung nach vorn. Dann der Umschlagpunkt. Änderung. Jedes Alternieren resultiert in einer Änderung. Und die Identitäten vervielfachen sich. Lippen. Hoden. Gesäß. Mund. Augen. Wie ein Uhrwerk. Eine Uhr, bei der jede Sekunde die Inversion aller Elemente markiert. Hetero-erotisch ... homo-erotisch ... auto-erotisch ... hetero-erotisch ... Wie ein Uhrwerk.

    Damit sind wir bei einem weiteren Element der Kunst des optischen Unbewussten: der Wiederholung. Sie geht auch in die Struktur des Buches ein. Im letzten Kapitel wiederholt sich ein Bild, eine Pose ihres Lehrers Clement Greenberg. Natürlich ist das Buch auch eine Befreiung von den Theorien der Väter Greenberg und Michael Fried. Und es spiegelt in seiner Form die Theorien, die es entwickelt. Theoretische Passagen alternieren mit tagebuchartigen Notizen, die Kunstgeschichte wird in Geschichten erzählt, dieses und noch viel mehr wird ineinander gefaltet. Dazu gehören auch die Abbildungen und das ist das Einzige, was man an dieser Ausgabe bemängeln kann. Durch die Stauchung auf das Format der Fundus-Bücher werden sie zu Briefmarken, die eine Argumentation in Bildern nicht mehr zulassen. Der ganze Reichtum von Rosalind Krauss Buch kann hier nur angedeutet werden. Es ist ein Standardwerk, in vorzüglicher Übersetzung, das nun endlich vorliegt.

    Rosalind E. Krauss: "Das optische Unbewusste".
    Übersetzt von Hans H. Harbort (verstorben, Kap. I-IV) u. Andreas Stuhlmann (Kap. V-VI u. Überarbeitung Kap. I-IV)
    Philo Fine Arts Hamburg (Fundus-Bücher Nr. 194) geboren, 537 S. Euro 22,00