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Die Weltmeere ringen um Luft - Todeszonen in den Ozeanen

Der Mensch hat lange nicht geglaubt, dass er das Meer als Gesamtsystem beeinflussen und verändern könne. Dabei ist das längst geschehen. In den Ozeanen dieser Welt gibt es bereits eine Vielzahl menschengemachter mariner Todeszonen, in denen kein Fischlein und kein Krebs überleben kann.

Von Dagmar Röhrlich | 26.12.2012
    "17. Juli 1867, Mobile Daily Register - Aufregung unter Fischen - Gestern schienen sich alle Fische der Bucht zum Ostufer aufgemacht zu haben. (...) Im flachen Wasser fanden sich große Mengen an Krebsen, Flundern und anderen Fischen ein, die scheffelweise herausgeholt werden konnten."

    Die Mobile Bay an der Golfküste Alabamas. Drei Jahre zuvor, während des Sezessionskriegs, waren dort die Konföderierten und die Union in einem Seegefecht aufeinander getroffen, denn Blockadebrecher hatten den Hafen von Mobile genutzt, um den Südstaaten Nachschub zu liefern. Jetzt macht Mobile Bay wegen eines ganz anderen Ereignisses Schlagzeilen – wegen des jubilee, des Jubeljahrs.

    "Der Begriff kommt daher, dass die Menschen die Tiere, die da aus dem Wasser sprangen, als großes Geschenk betrachteten, sie einsammelten und feierten."

    Es ist ein Schauspiel, das sich seit 1860 Sommer für Sommer wiederholt. So berichtete der Mobile Daily Register am 2. Juli 1912:

    Am Sonntag haben Hunderte lebender Krebse und Fische den Strand von Point Clear bedeckt. ( ... ) Wer je dieses wilde Gedränge am Strand gesehen hat, wird diesen Anblick nicht vergessen."

    Was die Touristen und Bewohner der Mobile-Bay feiern, ist ein alljährliches Öko-Desaster - eines aus Menschenhand:

    "Die Tiere fliehen vor einer Front sauerstoffarmen Wassers, die der Wind an die Küste drückt. In der Bucht sitzen sie in der Falle, geraten immer näher ans Land, bis sie schließlich am Strand enden, wo die Bevölkerung die durch den Sauerstoffmangel betäubten Krebse, Krabben und Fische einsammelt."

    Gleichgewichte. Ansichten eines belebten Planeten
    von Dagmar Röhrlich
    Teil 2 Meere


    Die Meere des Planeten Erde sind ungeheuer produktiv. In ihnen gibt es mehr Bakterien als Sterne im Universum, und alle diese Bakterien sind ununterbrochen damit beschäftigt, organische Substanz zu produzieren.

    "In einem gesunden Ozean dringt diese Biomasse dann Stufe für Stufe durch die Nahrungskette bis zur Spitze vor, zu den Walen, Haien, Thunfischen oder Seevögeln. Wir Menschen haben diese Kette bereits mehrfach durchbrochen. Die normalen Funktionen laufen nicht mehr ab."

    Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befinden sich die Ozeane im Umbruch, erklärt Stephen Palumbi von der Hopkins Marine Station der Stanford University in Monterey, Kalifornien. Es ist der Mensch, der tief in ihr dynamisches Gleichgewicht eingreift:

    "Lange hatten wir das Gefühl, dass das Meer so groß ist und unser Einfluss relativ zum Meer so klein, dass - wenn es Probleme gab - diese lokal sein werden. Wir haben lange nicht geglaubt, dass es möglich ist, dass die Menschen das Meer als Gesamtsystem beeinflussen und verändern können."

    Boris Worm forscht an der Dalhousie-University im kanadischen Halifax:

    "Das hat sich in den letzten 10 bis 20 Jahren drastisch verändert. Da hat sich gezeigt, dass verschiedene Einflüsse des Menschen wirklich globale Auswirkungen haben und das Meer als Gesamtsystem nicht nur verändern können, sondern stark verändert haben."

    Ein heißer Tag im August. Das flache Wasser der Mobile Bay hat sich aufgeheizt. Seit gestern weht der Wind aus Osten. Jetzt läuft die Flut auf: Als erstes sammeln sich die Flundern am Strand, liegen wie ein Teppich dichtgedrängt im fingertiefen Wasser. Manche schlittern über die anderen hinweg an Land, ebenso ein paar junge Rochen. Wo die Wellen auf dem Sand auslaufen, drängen sich silbrige Catfish-Schwärme zusammen, schnappen nach Luft. Krebse streben aus dem Wasser, ohne sich um die sterbenden Fische um sie herum zu kümmern.

    Bereits im frühen 18. Jahrhundert hatte der Mensch durch die Landwirtschaft das Hinterland der Mobile Bay massiv verändert: Statt Wäldern und Feuchtgebieten erstreckten sich nun in Tennessee, Georgia oder Alabama Baumwoll- und Tabakfelder, auf denen die Sklaven arbeiteten. Siedlungen entstanden, Städte:

    "Der Mobile und der Tensaw-River schafften aus ihren Einzugsgebieten gewaltige Mengen an Schlamm, Sand und organischen Nährstoffen in die Bucht. Die ist sehr flach und damit anfällig für Sauerstoffmangel. So war schon die erste dieser Todeszonen hier menschengemacht."

    Robert Diaz vom Virginia Institute of Marine Science. Sommer für Sommer treibt der Wind das warme, sauerstoffarme Wasser in Richtung Strand - und die Fische, Krebse und Krabben sitzen in der Falle. Erst Anfang der 1960er-Jahre enträtselte der Meeresbiologe Harald Loesch von der Louisiana State University, dass die Jubilee für eine marine "Todeszone" stehen. Die erhielten ihren populären Namen, weil die Fischer nichts in ihnen finden: Was fliehen kann, ist fort, alles andere tot.

    "In einer Todeszone gibt es zu wenig Sauerstoff, als dass die Fische, Krebse und Krabben dort überleben könnten. Wir Menschen verursachen fast alle dieser Zonen. Einmal durch das Wachstum der Städte, weil wir immer mehr Abwässer in die Flüsse und Buchten leiten. Zum anderen setzen wir in der Landwirtschaft so große Mengen an Dünger ein, dass die Nutzpflanzen ihn nicht aufnehmen können und er im Meer landet. Dort erledigt er seinen Job, nur dass er jetzt Algen und Phytoplankton düngt."

    Die wachsen und gedeihen. Sterben sie ab, sinken sie zu Boden, wo Bakterien sie zersetzen. Das zehrt den Sauerstoff im Wasser auf, erklärt Stephen Palumbi:

    "In diesen Todeszonen, die immer häufiger in den Meeren auftauchen, läuft im Grunde eine wilde, chaotische, verrückte Bakterienparty."

    Der Rekordhalter unter den Todeszonen ist die Ostsee: Dort schwindet der Sauerstoff durch den Stickstoff- und Phosphatüberschuss aus der Landwirtschaft in einem mindestens 70.000 Quadratkilometer großen Gebiet. Die berühmteste Zone ist jedoch die im Golf von Mexiko, vor dem Mississippi-Delta. Der Mississippi entwässert rund die Hälfte der US-Fläche, und in den vergangenen 50 Jahren hat sich seine Fracht an Düngern, Abwässern und Schadstoffen verdreifacht. Im Sommer 1974 entdeckten Forscher die Todeszone vor dem Delta. Niemand interessierte sich dafür, bis 1993, als sie plötzlich riesig wurde. Seitdem geht dem Meer dort während der Sommermonate in einem Gebiet von der Größe Hessens der Sauerstoff aus.

    Wer am Strand steht, ahnt nicht, was sich unter den Wellen abspielt. Der Sonnenaufgang ist so romantisch wie immer, das Wetter warm, das Wasser lockt. Den Tauchern zeigt sich die andere Welt: Nahe der Oberfläche schwimmen ein paar Fische, darunter - nichts. Die Seesterne, Muscheln, Seeanomen und Schnecken sind tot, erstickt. Weiße Bakterienmatten wuchern über den Boden. Über Monate müssen die Fischer weit hinausfahren, um auf Fischschwärme zu treffen. Erst wenn im Herbst die Winde auffrischen, wird der Spuk vorüber sein. Bis dahin wird es immer wieder Berichte darüber geben, dass an irgendeinem Strand Krebse zu Hunderten an Land flüchten, und dass die Muschelzüchter hoffen, dass das giftige Wasser nicht in ihre Anlagen schwappt.

    Dass der Sauerstoffgehalt in Küstengewässern sinkt, ist kein neues Phänomen. Es existiert seit Jahrhunderten. Die Landwirtschaft verstärkte die Erosion, und als Feuchtgebiete und Auenwälder urbar gemacht wurden, fielen sie als natürliche Filter weg. Dazu kam dann der Düngereinsatz. Und so sind auch Todeszonen nichts Neues.

    "Die ersten Berichte über durch Menschen verursachte Sauerstoffmangelgebiete stammen aus Europa, und sie drehen sich um Fischsterben in stinkenden Gewässern. Im Mündungsgebiet der Themse gab es Jahrhunderte lang solche Todeszonen, ebenso in denen von Elbe oder Rhein. Das sind große Flüsse mit einer langen Geschichte der menschlichen Besiedlung - und der Sauerstoffmangelgebiete, die in eine Zeit zurückreichen, bevor man Sauerstoff überhaupt messen konnte."

    Neu ist das Ausmaß dieser Todeszonen: Obwohl sich die Situation an Themse, Rhein und Elbe durch Kläranlagen verbessert hat, reihen sie sich doch entlang vieler Küsten wie Perlen auf einer Schnur: an Ost- und Nordsee, rund um Großbritannien, der Ost- und der Golfküste der USA.

    "Derzeit sind uns rund um die Welt 500 Todeszonen bekannt, die meisten vor Europa und Nordamerika. Anscheinend tauchen sie neuerdings vor Südamerika auf, einige gibt es auch vor Afrika. Was vor den Küsten Indiens oder Chinas los ist, darüber wissen wir allerdings nicht viel. Weil nirgends sonst auf der Welt so viele Menschen leben, sollte es dort Hunderte von Todeszonen geben, von denen wir nichts ahnen. Die Kenntnis um die Existenz dieser Sauerstoffmangelzonen steht in direktem Verhältnis zur Zahl der Wissenschaftler, die sich mit der Wasserqualität beschäftigen. Ich glaube, das Problem ist sehr viel größer, als uns bewusst ist."

    Entwickelt sich eine Todeszone, reagieren die Tiere immer gleich. Sobald der Sauerstoffgehalt zu sinken beginnt, fliehen die empfindlichen. Fällt er weiter, schalten alle, die nicht entkommen konnten, auf Sparflamme: Sie reduzieren ihren Stoffwechsel, hören auf zu fressen und zu wachsen. Wenn sie im Sediment leben, kriechen sie heraus, liegen auf dem Schlamm, versuchen, ein wenig Sauerstoff aus dem Wasser zu bekommen.

    "Wenn der Sauerstoff noch weiter abnimmt, sterben sie. An diesem Punkt übernehmen die Bakterien. Bakterienmatten wachsen, zersetzen die Kadaver."

    Todeszonen sind vergängliche Phänomene: Nach ein paar Tagen, Wochen oder Monaten löst ein Wetterwechsel sie auf, ein sich drehender Wind oder ein Sturm. Nur - es tauchen immer mehr Todeszonen auf. Und seit einigen Jahren kommt ein anderer Trend hinzu - ein beunruhigender - denn er betrifft alle Ozeane.

    Es herrscht Hochbetrieb auf dem Deck der Håkon Mosby. Der Trawler des Havforskningsinstituttet an der Universität Bergen ist wieder einmal vor der Küste Norwegens unterwegs. Im Flutlicht macht Tom Sørnes eine Batterie von Sensoren einsatzbereit:

    Langsam lässt die Winde das CTD ins Wasser ab. Die Messungen von Temperatur, Salzgehalt und Sauerstoffgehalt laufen ein. Sauerstoffreich ist das Wasser nur in den obersten 150, 200 Metern. Dann ist es zu dunkel für die Photosynthese, und auch der Wind arbeitet nichts mehr ein. Dort beginnt eine Zone, in der Sauerstoff von den Tieren und Bakterien, die in den dunklen Wassern schweben, nur noch verbraucht wird. Je tiefer die Sensoren sinken, umso weniger werden sie messen. Über Hunderte von Metern hinweg. Bis irgendwann eine sauerstoffreiche Tiefenströmung spürbar wird, die für Nachschub sorgt.

    Diese natürlichen, sauerstoffarmen Zonen durchziehen die Meere meist in Tiefen von 200 bis 1000 Metern. Messungen zufolge scheint hier jedoch in weiten Ozeanbereichen der Sauerstoffgehalt über das gewohnte Maß hinaus zu sinken, erklärt Lothar Stramma vom Geomar in Kiel:

    "Es gibt Beobachtungen zum Beispiel von Wetterschiffen im Pazifik, wo man in den letzten 50 Jahren eine starke Abnahme des Sauerstoffs gesehen hat. Das ist aber in Regionen, wo der Sauerstoffgehalt relativ hoch ist, so, dass man dort noch keine drastischen Konsequenzen erwarten muss."

    In den tropischen Ozeanen ist das jedoch anders. Weil warmes Wasser weniger Sauerstoff löst als kaltes, ist der Gehalt dort von vorneherein geringer. Zusätzlich senken die Strömungsverhältnisse den Sauerstoffgehalt vor den Ostküsten Südamerikas und Afrikas sowie im nördlichen Indischen Ozean weiter. Das sind die Gebiete, in denen ein menschengemachter Effekt jetzt schon messbar wird. Boris Worm:

    "Diese sauerstoffarmen Zonen breiten sich aus. Und das wird vor allen Dingen der Erderwärmung angeschuldet, dass nämlich die Oberflächenschichten der Ozeane sich erwärmen und damit stabil wie ein Deckel auf dem Ozean sitzen und den Sauerstoffaustausch behindern und dass über lange Zeiträume auch die globale Zirkulation, sozusagen die Atmung der Ozeane, durch die Erderwärmung verringert werden könnte."

    "Das Zusammenspiel zwischen Sauerstoff im Meer und Klimawandel gehört zu den beunruhigendsten Problemen, die mit dem menschengemachten Treibhauseffekt verbunden sind. Alle reden von der Erwärmung, aber jeder höhere Organismus braucht Sauerstoff, bekommt er den nicht, stirbt er sehr schnell."

    Klimamodelle legen nahe, dass die Sauerstoffminimumzonen immer weiter anwachsen. Und die Tropen könnten nur der Anfang sein:

    "Diese Abnahme soll den gesamten Ozean betreffen, wobei der Bereich in mittleren Tiefen von etwa 200 bis 1000 Meter am stärksten beeinflusst wird."

    Es ist eine Entwicklung mit möglicherweise weitreichenden Konsequenzen, urteilt Lothar Stramma:

    "Es gibt zwei, sagen wir, kritische Bereiche für die Sauerstoffabnahme: ein Bereich, das ist die Grenze, wo größere Fische wie Raubfische, nicht mehr existieren können und das ist das, vielleicht, was die Menschen in den Küstenregionen als erstes im Auge haben. Was aber ein vielleicht noch kritischerer Punkt ist, dort passiert ein Umschlag in der Biogeochemie, dass nicht mehr Sauerstoff abgebaut wird, sondern Nitrat abgebaut wird."

    Ein Phänomen, das sich in den Küstengewässern Perus schon zeigt. Mit ihren Delfinen, Walen und Seelöwen scheinen sie auf den ersten Blick vor Leben zu wimmeln. Aber das täuscht: Südlich von Lima gibt es sogar unterhalb von fünf Metern keinen freien Sauerstoff mehr. Stattdessen wallt nährstoffreiches Tiefenwasser auf, regt das Planktonwachstum an – der Sauerstoffgehalt sinkt. Dort leben dann Mikroorganismen, die Nitrat abbauen. Wo wenig Sauerstoff verfügbar ist, sind sie im Vorteil, und der Klimawandel soll dafür sorgen, dass sich ihre "Wohlfühlzonen" weiter ausdehnen:

    "Wenn also in Zukunft mehr Nitrat abgebaut wird und verloren geht, so hat das zur Folge, dass es weniger Photosynthese und biologische Prozesse im Oberflächenwasser gibt, und das hätte auch wieder die Folge, dass weniger Kohlenstoff im Ozean fixiert wird, so dass es eine sehr komplizierte und komplexe Wechselwirkung der biologischen und chemischen Komponenten gibt, die aber dann langfristig Konsequenzen für den Ozean insgesamt und die Biologie und Ökologie haben könnte."

    Die peruanische Sauerstoffminimumzone ist heute eine von nur drei Meeresregionen weltweit, in denen Stickstoff aus dem Ozeanwasser entweicht. Der Mensch attackiert also gleich von zwei Seiten den Sauerstoffgehalt der Meere: durch den Klimawandel und durch den Düngerüberschuss. Daraus leiten die Meeresforscher eine erschreckende Vision ab. Robert Diaz:

    "Wir fürchten, dass diese menschengemachten, regionalen Todeszonen durch Überdüngung zusammenwachsen mit den natürlichen Sauerstoffminimumzonen, die sich durch den Klimawandel ausdehnen. Dafür gibt es bereits Anzeichen. So könnte ein Punkt erreicht werden, bei dem es für einige Fischereien zu ernsten Konsequenzen kommt."

    Zunächst könnten sich die Fischer freuen: Die Tiere ziehen sich in flacheres Wasser zurück und lassen sich leichter fangen. Aber der Vorteil währt kurz: Durch den schrumpfenden Lebensraum verkleinert sich das Futterangebot - die Bestände gehen zurück. Und zwar immer schneller, weil im offenen Meer durch den Nährstoffmangel die Photosyntheserate sinkt - und damit die Sauerstoffproduktion. Erste Warnzeichen dieses Teufelskreises gibt es bereits: Das pflanzliche Plankton zieht sich zurück. Boris Worm:

    "Das korreliert relativ gut mit der Erderwärmung, also mit der Erwärmung der Ozeane natürlich vor allem, wodurch es eben zu einer Verringerung des Nährstoffeintrags in die Oberflächenschichten kommt. Und das kann man auch im Modell nachstellen, dass, ja, wenn es zu einer weiteren Erwärmung kommen wird, zum Beispiel im Nordatlantik, dass das Phytoplankton weiter abnehmen wird, bis zu 50 Prozent im Jahre 2100."

    Was Sauerstoffmangel in einem Meeresgebiet anrichten kann, dafür gibt es durchaus unerfreuliche Beispiele in der Erdgeschichte.

    "Was sich derzeit in den Meeren abspielt, ist eine moderne Version dessen, was sich vor Hunderten Millionen Jahren an den sauerstoffarmen Meeresböden des Ordoviziums oder Silurs abgespielt hat."

    Jan Zalasiewicz von der University of Leicester. Er zählt zu den prominentesten Protagonisten der wissenschaftlichen Diskussion, ob der Mensch inzwischen so tief in das System Erde eingreift, dass ein neues geologische Zeitalter begonnen hat: das Anthropozän, das Zeitalter des Menschen.

    Moffat ist ein 2500 Seelen-Dorf im Süden des Schottischen Hochlands. Im 17. Jahrhundert machten seine Schwefelquellen Moffat zum Kurort. Allerdings zu einem, der wieder in Vergessenheit geriet. Kurz hinter Moffat hat sich der Dobb's Lin in die Hügel eingegraben und dabei Gesteinsschichten einer fernen Vergangenheit freigelegt:

    "Sie klettern den Hügel hinunter, laufen den Bach entlang, springen darüber und dann stehen sie davor: vor zwei, drei Meter aus grauem Gestein, das sich während einer Eiszeit gebildet hat, überlagert von schwarzen Schichten, die nach dem Ende dieser Eiszeit in einem Ozean entstanden, der wieder warm war, in dem sich Kohlenstoff anreicherte und der stagnierte."

    Schwarze Gesteine jedoch stehen für ein Meer, dem die Luft ausgegangen ist.

    Die Schichten am Ufer des Dobb's Lin lagerten vor etwas mehr als 440 Millionen Jahren in einem Meer ab. Es war eine Zeit, in der die Beziehung zwischen Leben und Erde schwierig war. Am Ende des Ordoviziums gab es ein Massenaussterben, ausgelöst durch Klima- und Meeresspiegelschwankungen und extreme Veränderungen in der Meereschemie. Rund 80 Prozent aller bekannten Arten in den Meeren verschwanden, viel mehr als vor 65 Millionen Jahren, als die Saurier ausstarben. Dann setzte das Silur mit seiner Treibhauswelt ein.

    "Wenn wir mit einer Zeitmaschine dorthin zurückkehren könnten, würden wir die Veränderungen im Sauerstoffgehalt der Meere spüren. Sie gehören zu den Schlüsseln für die Umweltveränderungen damals, für die fragilen Ökosysteme, die so leicht aus der Balance gerieten. Fische gab es nur wenige. Die Tiere lebten vor allem am Boden, in Landnähe. Wenn diese sauerstofflosen Wassermassen in die Flachwasserzonen vordrangen, töteten sie alles, was größer war als ein Bakterium."

    Stehen wir also am Beginn einer Zeit, die in den Meeren schwarze Gesteine hinterlassen wird, die davon zeugen werden, dass die Ozeane erstickten?

    Kalifornien, 1919. Langsam kreisen Navy-Flugzeuge über der Bucht. Es ist ein Routineeinsatz für die Besatzung der Doppeldecker. Die Nacht ist dunkel. Die Männer halten Ausschau nach einer Lichtsichel im Meer. Einem grün-roten Schimmer. Entdecken sie ihn, geht die Nachricht an die US Navy Air Station. Die informiert die Küstenwache - und die Jagd beginnt. Fischerboote schwärmen aus, kreisen die Beute ein: Sardinops sagax, die Pazifische Sardine. Noch vor dem Morgengrauen soll der Schwarm in Monterey angelandet werden. 1895 war in der Cannery Row die erste Sardinenfabrik eröffnet worden. Andere folgten. 1918 werden anderthalb Millionen Fischdosen produziert. Sobald die Fischer in die Bucht einlaufen, werden die Fabriksirenen heulen. An den Fließbändern und Hochdrucköfen wird die Arbeit beginnen, die erst endet, wenn der letzte Fisch in einer Dose steckt. Monterey ist die "Welthauptstadt der Sardine". Bis 1950. Dann bricht der Bestand zusammen.

    Während sich der menschengemachte und menschenverstärkte Sauerstoffmangel noch langsam über die Weltmeere ausdehnt, hat eine andere Entwicklung ihre zerstörerische Kraft längst offenbart: die Überfischung.

    "Fischerei in 1000 Meter Tiefe war vor 30 oder 40 Jahren noch undenkbar, das musste man ja auch nicht, weil, es gab auch genug Fisch in vielleicht 100 oder 200 Meter Tiefe. Und heute sind die technischen Möglichkeiten eben so, dass kaum noch ein Ökosystem von der Nutzung verschont bleibt. Weil man überall hinkommen kann und eben auch nutzbare Fischbestände sehr gut orten kann und die Technologie hat, eben auch sehr zu dezimieren",

    beschreibt Boris Worm. Aus Trawlern sind Supertrawler geworden, vollgestopft mit Hightech und Kommandobrücken, die an Science-Fiction-Filme erinnern, mit leistungsstarken Winden, die mehr als 1000 Tonnen schwere Beute an Bord ziehen und mit einer kompletten Fischfabrik an Bord. Trotzdem stagnieren seit Mitte der 1990er-Jahre die globalen Fischfänge, gehen sogar leicht zurück. Die Meere sind anscheinend an der Grenze ihrer Kapazität angelangt:

    "Seit mehr als 100 Jahren ist die Fischerei ein globales Unternehmen. Allein in den vergangenen 20 Jahren hat die Menschheit 90 Millionen Tonnen Fisch und Meeresfrüchte herausgeholt. Der ökologische Druck durch die Fischerei ist enorm, wir verändern die Balance, weil wir tief in die Fischpopulationen eingreifen."

    Da der Mensch 90 Prozent der Meerestiere an der Spitze der Nahrungskette herausgeholt hat, verschiebt sich das Zusammenspiel, wer wen frisst. Er ist sogar ein treibender Faktor in der Evolution, schließlich fängt er die großen Fische. Nur wer durch die Maschen der Netze schlüpfen kann, pflanzt sich fort. Das Ergebnis sind kleinere Fische - und neue dynamische Gleichgewichte in den Meeren:

    "Die Frage ist nicht, ob eine neue Balance entsteht. Es muss eine geben. Selbst ein Ökosystem, in dem kein Lebewesen größer ist als fünf Zentimeter, kann im Gleichgewicht sein. Es geht viel mehr darum, was für eine Balance das sein wird. Denn ob wir mit einem Ökosystem etwas anfangen können, ist eine ganz andere Frage."

    Heute stecken die meisten der marinen Ökosysteme in Schwierigkeiten. Sauerstofflose Zonen, Überfischung, Umweltverschmutzung - und das Kohlendioxid, das der Mensch in die Luft bläst, lässt nicht nur die Temperaturen steigen.

    "Wir befinden uns gerade auf dem Weg in eine Welt, in der die Meere immer wärmer werden. Das Kohlendioxid löst sich auch im Wasser, macht es immer saurer. Und wir können nichts dagegen tun. Wir haben schon jetzt so viel Kohlendioxid in die Atmosphäre freigesetzt, das es nicht mehr zu verhindern ist. Selbst wenn wir sofort damit aufhören würden, Kohlendioxid freizusetzen, so könnte es doch zehntausend, vielleicht sogar hunderttausend Jahre dauern, ehe die Meere wieder ihre "normale" Chemie haben werden."

    Die Frage ist, wie die Veränderungen, die der Mensch angestoßen hat, ablaufen werden. Langsam, wie so oft in der Erdgeschichte, ein allmählicher Übergang in ein neues dynamisches Gleichgewicht? Oder werden sie abrupt sein, katastrophal, ein Kippen in einen neuen Zustand. Auch dafür gibt es Beispiele. Damit die Meere diese schwierigen Zeiten so gut wie möglich überstehen, könnte der Mensch die Überfischung stoppen und Schutzzonen einrichten. Hier kann er noch handeln, meint Stephen Palumbi.

    Das Meer schimmert blau, wie eh und je, und das Wasser ist voll von Bakterien und Algen. Zu Blütezeiten treiben sie heftig Photosynthese. Aber kaum jemand frisst sie. Nur noch Schwärme kleiner Fische, die sehr darauf achten, nicht zu tief zu tauchen. Dicht unter der Oberfläche lauert sauerstoffloses Wasser: Hier beginnt das Reich der Bakterien. So kräuselt sich das Wasser im Wind, die Sonne scheint, aber niemand nähert sich mehr den erstickenden, stinkenden Meeren.

    Sie hörten: Gleichgewichte. Ansichten eines belebten Planeten. Teil 2: Meere.
    Von Dagmar Röhrlich.
    Produktion: Axel Scheibchen, Redaktion: Christiane Knoll.