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Die Wiederkehr der Klassengesellschaft

Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst in Deutschland rapide. Das ruft die Soziologie auf den Plan: Mit sozialer Ungleichheit setzten sich am Wochenende Wissenschaftler auf einer Tagung in Essen auseinander, und sie fragten: "Gibt es eine Wiederkehr der Klassengesellschaft?"

Von Peter Leusch | 03.06.2010
    "Ich meine, dass es entgegen der Vermutung sehr vieler die Klassengesellschaft - und das muss natürlich näher erklärt werden, die Bedeutung bestimmter Besitz- und Verfügungsklassen vor allem, - nicht untergegangen ist, nicht eine Sache des 19. Jahrhunderts ist, aber dass sie in der ausdifferenzierten, in der kompliziert gewordenen, auch Individualisierungs- und Aufstiegsprozesse kennenden Gesellschaft eben unsichtbar ist."
    Die Bundesrepublik Deutschland sei eine - allerdings - "unsichtbare Klassengesellschaft", das behauptet Karl-Siegbert Rehberg, Soziologe an der Technischen Universität Dresden. Und mit dieser These übt er Kritik an seiner Zunft.

    "Interessant ist, dass die Soziologen mit gutem Recht sich um die Benachteiligten kümmern, dass sie sehr viel wissen von den Benachteiligten, den Arbeitslosen, von prekären Lebenslagen, dass sie aber keine entsprechenden Kenntnisse von den Reichen haben, die ihrerseits sich hinter die Barrieren nicht nur ihrer Häuser, sondern auch ihrer Auskunftsarmut begeben. Und diese Tatsache, dass wir von den Reichen sehr wenig wissen, auch statistisch, bedeutet, dass wir eigentlich nicht wissen, welche Führungsgruppen mit welchen Einflüssen, welchen Lebensformen existieren in unserer Gesellschaft."
    Lange Zeit folgte die Soziologie der Annahme, dass sich die Rede von den Klassen in Deutschland erledigt habe. Der Soziologe Helmut Schelsky prägte nach dem Krieg in der Ära des Wirtschaftswunders das Wort von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft". Und Ulrich Beck schrieb in den 80ern ein Buch mit dem Titel "Jenseits von Stand und Klasse?" Wenn auch mit einem Fragezeichen versehen, beschrieb das Werk doch eine Gesellschaft, die zwar erhebliche soziale Unterschiede kennt, aber sich in der Zuteilung von Chancen und Risiken zunehmend individualisiert habe.
    Im neuen Jahrtausend jedoch, so Andreas Reckwitz, Soziologe an der Universität Frankfurt/Oder signalisiert die öffentlichen Debatte, zum Beispiel über die sogenannte Unterschicht, einen Perspektivwechsel.

    "Unterschicht das wäre schon ein Beispiel für so eine klassentheoretische Thematisierung. Ich würde jetzt nicht so sehr einen Begriff wie Klasse gegen Schicht oder Milieu ausspielen, sondern überhaupt, dass Großgruppen sich voneinander different setzen, voneinander unterscheiden, ein Komplementärphänomen zu der Debatte um die neue Unterschicht ist die Debatte um die neue Bürgerlichkeit und bei beiden wird die Unterscheidung von Großgruppen als ungleich zu einem Kriterium, das für die gegenseitige Wahrnehmung wieder interessant wird."
    Gibt es eine Wiederkehr der Klassengesellschaft? Bei Marx und Engels, die den Klassenbegriff zwar nicht erfunden, aber ideologisch geschärft haben, meint Klassengesellschaft eine sozioökonomische Ordnung, in der die einen, die Kapitalisten, über die Produktionsmittel verfügen, während die anderen, die Proletarier, nichts besitzen außer ihrer Arbeitskraft. Mit diesem einfachen rein ökonomischen Gegensatz lässt sich die moderne Gesellschaft nicht mehr erfassen. Will man den Klassenbegriff weiter verwenden, so müsse man neben der ökonomischen auch andere Ebenen berücksichtigen, erklärt die Essener Soziologin Anja Weiß, die die Tagung gemeinsam mit Andreas Reckwitz organisiert hat.

    "Eine große Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist die Erkenntnis, dass Ungleichheit nicht nur ökonomisch, sondern auch sehr stark kulturell reproduziert wird, deswegen ist hier ständig von Bourdieu die Rede, der diesen Gedanken nicht nur erwähnt hat, sondern auch sehr stark gemacht hat."
    Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hatte bereits in den 80er-Jahren mit seinem Werk "Die feinen Unterschiede" eine Neudiskussion angestoßen. Bourdieu betonte, dass neben den ökonomischen auch kulturelle Faktoren eine Rolle spielen. Kultur sei nämlich auch ein Unterfangen, in dem eine soziale Gruppe qua Lebensstil, Mode und Habitus sich von den anderen abzugrenzen trachte, auch in ihrem Körperideal. Andreas Reckwitz:

    "Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass auch in den Anforderungen an den Körper klassenspezifische Kriterien deutlich werden, also etwa der schlanke Körper, der gesunde Körper, der trainierte aber nicht übertrainierte Körper ist ein Mittelschichtsmodell, in das die entsprechenden Individuen auch hineinsozialisiert werden, hingegen der korpulente Körper - wenn Sie ein Beispiel aus der Populärkultur nehmen, ein Spielfilm im Kino wie "Precious", ein amerikanischer Film, der in einem Unterklassemilieu in den USA spielt, in einem schwarzen Milieu, wo die Hauptfigur extrem übergewichtig ist, - da wird deutlich: die Klasse geht durch den Körper hindurch, sie hat etwas zu tun mit einem bestimmten Ernährungsverhalten, wie man mit dem Körper umgeht, wie man ihn kultiviert und pflegt, da zeigen sich dann auch Ungleichheitseffekte."
    In der gegenwärtigen Gesellschaft gibt es keinen Klassenkampf, wie Marx und Engels ihn prognostizierten, aber andere Kriterien des Klassenbegriffs scheinen sehr wohl erfüllt: eine soziale Lage, die kein Einzelschicksal darstellt, relativ dauerhaft ist und die meist an die Kinder weitergegeben wird, wie die Analysen der sogenannten bildungsfernen Schichten und ihrer Probleme auf dem Arbeitsmarkt belegen. Darüber hinaus arbeitet die Gesellschaft mit weiteren Deklassierungskriterien, die verdeckt sind. Anja Weiß:

    "Das wurde sehr sichtbar, als die Migrationsberichterstattung umgestellt hat auf Geburtsland der Eltern, also auf die Kategorie Migrationshintergrund, da waren plötzlich sehr viele Leute von Migrationshintergrund betroffen, die den Mittelschichten angehören, die gesagt haben, 'Moment mal wir sind doch keine Ausländer'. Davor konnte man so tun, also könnte man mit dem Kriterium Migrant eine ganz bestimmte Problemlage beschreiben, nämlich die Problemlage, dass kein Zugang zur Bildung gefunden wird und dann auch sehr schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt bestehen, das betrifft natürlich einen Teil der Migranten, aber bei Weitem nicht alle."
    Migrant gleich ungebildet, gleich Unterschicht - das ist eines der Vorurteile und sozialen Deklassierungen, so eine Erkenntnis der Tagung, mit denen sich die Soziologie intensiver auseinandersetzen muss.