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Die wilde Schweiz der 50er-Jahre

Der Roman von Gisela Rudolf ist ein Familienroman, der Erinnerung an die Alltagsmuster der 50er-Jahre in der Schweiz weckt. Und das aus der Kinderperspektive. Es geht um eine Zahnarztfamilie mit drei Kindern und handelt von Tennistunieren, an denen die Mutter erfolgreich teilnimmt und dann im Finale verliert.

Von Martin Lüdke | 20.10.2010
    Da wird die ganze Zeit einfach so dahingeplappert. Eine Kinderstimme spricht. Ein kleines Mädchen, das vieles von dem, was um sie herum passiert, zwar noch nicht verstehen kann und es dennoch, hellwach, mit großen Ohren und offenen Augen wahrnimmt. Sie hört auch das, was sie nicht hören soll. Sieht, was sie nicht sehen soll und ahnt oft, dass etwas nicht stimmt. Langsam ändern sich die Zeiten. Das Mädchen wird älter, spürt zuweilen schon ein -
    gutes Gefühl zwischen den zusammengepressten Beinen und bekennt darum bei der nächsten Beichte: "Ich habe Unkeusches angerührt", worauf der Pfarrer durchs Gitter flüstert: "Du musst sagen, ich habe beim Berühren unkeusche Gedanken gehabt." Das Mädchen korrigiert ihren Beichtvater: "Das habe ich aber nicht, es hat mir einfach gefallen …"

    Gisela Rudolfs Roman "Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen", spielt, leicht erkennbar, ohne dass eine Jahreszahl genannt werden müsste, in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Auch die mehr oder minder großen Ereignisse der Zeitgeschichte, der Ungarnaufstand, die Fußballweltmeisterschaft in der Schweiz, der Mord an der Frankfurter Prostituierten Nitribitt, der Kalte Krieg, Laika, der russische Hund im Weltall, werden allenfalls beiläufig gestreift. Viel wichtiger erscheint dem Kind die Anschaffung eines eigenen Hundes, der Kauf eines neuen Autos, das schicke Kleid der Mutter.

    Gisela Rudolf erzählt vom Leben einer Zahnarztfamilie mit drei Kindern, häufig wechselnden Dienstmädchen, oft sehr ansehnlichen Sprechstundenhilfen, den möglichen, nur erahnten kleinen Affären in ihrer auch engsten Umgebung, und einer teils unausstehlichen bigotten Verwandtschaft. Sie berichtet über kantonale Tennisturniere, an denen die Mutter erfolgreich teilnimmt und dann im Finale verliert. Und das alles in epischer Breite.

    Es ist bekanntlich schwierig, eine solche kindliche Perspektive auf längere Strecken durchzuhalten. Gisela Rudolf gelingt es weitgehend. Schon nach wenigen Seiten spürt man, dass sich unter dem oberflächlichen Geplapper eine mächtige Unterströmung entwickelt. Durch den Alltag, durch die Stoffmassen, die hier ausgebreitet werden, hindurch und dank einer faszinierenden Sinnlichkeit der Beschreibung, scheint etwas anderes auf: nämlich Zeitgeschichte an einer Zeitenwende.

    Anders gesagt: in diese Familiengeschichte eingeschrieben ist die Geschichte des letzten Jahrhunderts, der späte und überfällige Abschied vom 19. Jahrhundert, der endgültige Durchbruch der Moderne. Noch gelten die alten Tabus. Noch herrschen schier unglaubliche Glaubensvorstellungen. Noch orientieren sich die Menschen an den Normen, Werten, Verhaltensmustern einer eigentlich längst vergangenen Zeit. Doch immer deutlich werden die Risse in der alten Ordnung sichtbar. "Die Risse in der Mauer" hatte der schwedische Erzähler Lars Gustafsson einst seinen Zyklus von Romanen genannt, in dem er genau diesen Prozess, mit ungleich größerem Aufwand, zu beschreiben versuchte. Gisela Rudolf gelingt es wie nebenher. Sie erzählt uns von Hunden, Nachthemden und Bettwärmflaschen, von Kindergeburtstagen und Krankheiten, von privaten Affären, über die man "nicht spricht", von Lachgas und Lustmolchen, von Liebe und Tod – und zeigt uns dabei, dass die sechziger Jahre vor der Tür stehen. Das heißt: eine völlig andere, nämlich unsere Welt.

    Ein kleiner Roman. Und doch ein großes Buch.
    Gisela Rudolf: "Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen." weissbooks