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Die wirre Welt des Serj Tankian

Mit der Crossover-Metal-Band "System of a Down" sprengte Sänger Serj Tankian um die Jahrtausendwende Stilgrenzen. Alle Projekte des gebürtigen Armeniers verbindet der Hang zum skurillen Humor und der unbedingte Wille zur politischen Aussage. Darin bleibt sich Tankian auch auf seinem aktuellen Album "Harakiri" treu, presst aber noch deutlich mehr Stahl in seine Songs.

Von Marcel Anders | 14.07.2012
    "Keine wissenschaftliche Analyse kann dieses Phänomen erklären. Dabei ist es für mich eine eindeutige Warnung. Eben dass sich Tiere freiwillig entscheiden, diese Welt zu verlassen. Was die Frage aufwirft, was als Nächstes passiert. Was das für die Umwelt bedeutet – und die Menschheit. Das sind Themen, denen wir uns stellen müssen. Und ich schreibe Songs, um einen Prozess der Auseinandersetzung zu starten - und ein paar Antworten zu erhalten."

    Wenn man dem gebürtigen Armenier, der seit seinem siebtem Lebensjahr in Los Angeles wohnt, Glauben schenkt, stehen wir kurz vor der Apokalypse. Sei es, weil wir systematischen Raubbau an der Erde betreiben. Die Warnsignale ignorieren - oder so von der Politik eingelullt werden, dass wir unsere demokratischen Rechte und Pflichten vernachlässigen. Dabei, so Tankian, ist deren Wahrnehmung wichtiger denn je.

    "Das ist das Entscheidende an Occupy und anderen Protestbewegungen. Sie klopfen unseren Volksvertretern auf die Schulter und sagen: "Hey, du tendierst zu stark nach Rechts. Das ist nicht cool." Und ich bin froh, dass ich in einer Zeit lebe, in der Leute sagen, was sie denken. Denn dieser Missbrauch des globalen kapitalistischen Systems existiert seit Jahren. Und es gibt eine Menge Länder, die ihm entwachsen sind. Südamerika geht es zum Beispiel viel besser, seit es aufhört, sich Geld zu leihen und progressive Führer wählt. Jedem Land, das aus der Abhängigkeit von den USA erwacht, geht es besser."

    Obwohl er eine starke Meinung hat – und sie äußert: Serj Tankian ist kein zweiter Bono. Kein Weltverbesserer, Gutmensch oder humanitärer Chefankläger. Der 44-Jährige sagt einfach, was er denkt. Auch, wenn er damit Missverständnisse und offene Ablehnung riskiert. Wie mit seiner Kritik an der amerikanischen Terrorparanoia, die auch elf Jahre nach 9/11 kein bisschen abgeschwächt ist. Worüber er sich in selbst gedrehten Videos amüsiert.

    "Ich hatte einen Briefkasten, den ich entsorgen wollte. Aber ich hatte ein schlechtes Gewissen, ihn einfach wegzuschmeißen, weil ich das für eine ökologische Katastrophe hielt. Also dachte ich mir: "Wie wäre es, wenn ich ihn kidnappe, foltere und zum Reden bringe - und zwar für die Kunst?" Daraus ist ein witziges Video geworden, das für wüste Spekulationen sorgt. Etwa: "Ist es eine Botschaft in Sachen Umweltschutz? Hat es mit den Schließungen der Post-Filialen in den USA zu tun?" Denn am Schluss des Videos kann man wählen, ob die Mailbox leben oder sterben soll. Was für ein nettes, soziologisches Experiment sorgt."

    Womit der studierte Philosoph genauso viel schrägen Humor beweist, wie mit den übrigen zehn Songs seines dritten Solo-Albums. Da paart er lauten, schnellen Punkrock mit bissigen Ausführungen über seichte TV-Unterhaltung, das Bildungsdefizit der US-Jugend sowie die Folgen des Arabischen Frühlings, der von einem Extrem zum anderen führt. Gleichzeitig – und da ist er genauso überzeugend – legt er mit "Ocra" eine klassische Sinfonie und mit "Jazz-Iz Christ" ein subversives Jazz-Album vor:

    "Ich habe es mit drei Freunden aufgenommen. Einer phänomenalen Flötistin namens Valery Tolstoy aus der Schweiz. Einem umwerfenden Trompeter, mit dem ich auch an meinem Musical gearbeitet habe – Tom Duprey. Und meinem Freund Tigran Hamasyan – ein großartiger Pianist. Wir alle ziehen mit unserer Musik um die Welt und haben eine Hommage an unsere Art von Jazz aufgenommen. Wobei der Titel perfekt ist, um religiöse Fanatiker wie Jazz-Puristen zu ärgern. Was mich sehr glücklich macht."

    Und als wäre er nicht ausgelastet genug, ist Serj Tankian auch wieder mit seiner Stammformation System Of A Down aktiv. Eine Band, die in den späten 90ern und frühen 2000ern fünf wegweisende Alben aufgenommen hat. Metal und Punk mit armenischer Folklore kombiniert, und weltweit über zwölf Millionen Tonträger umsetzt hat. Als solche füllt sie immer noch Stadien und Amphitheater – auch ohne neuen Tonträger, den sich viele Fans wünschen.

    "Wir hatten einen Riesenspaß, als wir letztes Jahr mit System getourt sind. Und wir werden das dieses Jahr an der Ostküste der USA fortsetzen – weil wir da seit unserer Reunion noch nicht aufgetreten sind. Ich könnte mir durchaus vorstellen, noch mehr zu machen. Aber was ein neues Album betrifft: System ist eine Band, die tut, was sie will."