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"Die Wirtschaft liegt brach"

Die Versorgungslage in Gaza sei unglaublich schlecht, sagt Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisation Grünhelme. Es herrsche Anarchie, die Wirtschaft liege brach und fast die Hälfte der Bevölkerung vor Ort könne sich keine Lebensmittel mehr leisten.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Christoph Heinemann | 08.03.2013
    Christoph Heinemann: Der einzige, für den Warenverkehr zugelassene Grenzübergang zwischen Israel und dem Gazastreifen ist wieder geöffnet. Das wurde am Dienstag dieser Woche gemeldet. Der Übergang war vor einer Woche nach einem palästinensischen Raketenangriff auf die israelische Stadt Ashkelon gesperrt worden. Israel riegelt den Gazastreifen seit 2006 ab, seither gelten strenge Bedingungen für den Waren- und Personenverkehr. Aus Gaza zurückgekehrt ist Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme. Guten Morgen.

    Rupert Neudeck: Guten Morgen, Herr Heinemann!

    Heinemann: Herr Neudeck, wie ist die Versorgungslage in Gaza?

    Neudeck: Die ist so schlecht, dass man es kaum begreifen kann, wie die Menschen dort überleben. Aber sie überleben. Es gibt immerhin noch eine Subsistenz: Landwirtschaft, die dazu führt, dass auf den Märkten eben Gemüse und Obst da ist und dass Brot, dass Mehl auch zur Verfügung steht für die Bäckereien und für das Fladenbrot, was für die Araber ja ganz besonders wichtig ist. 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung können sich das aber nicht mehr leisten. Es gibt einfach keine Verdienste mehr für die Bevölkerung. 40 Prozent der jungen Leute dieses Landes, dieses kleinen, winzigen Landes, das 42 Kilometer in der Ausdehnung an der Küste des Mittelmeeres beträgt, haben keinen Job.

    Das heißt, es gibt keine Mittel mehr für die Familien, sich die Nahrungsmittel zu besorgen. Es gibt auch keine Möglichkeit mehr, Handel zu treiben, die Wirtschaft liegt brach, und deshalb kann sich diese Welt diesen Platz auf Dauer nicht mehr leisten, denn man muss dazu wissen, dass jetzt die Bevölkerung auf 1,63 Millionen gewachsen ist und für 2020, also in nur sechs bis sieben Jahren, schätzt die UNO in einem neuen dramatischen Bericht die Bevölkerung dieses ganz wichtigen Landes an der Mittelmeerküste auf 2,1 Millionen, und dann ist praktisch der Zusammenbruch der Infrastruktur schon angesagt.

    Heinemann: Stichwort Zusammenbruch. Gibt es eine Zivilverwaltung, die diesen Namen verdient?

    Neudeck: Nein, die gibt es nicht. Es gibt eine Mischung von ganz viel Geld, das von außen kommt, mit dem eben auch ein bisschen das politisch schlechte Gewissen der Weltgemeinschaft sich reguliert. Es gibt ganz viele Mittel über Organisationen, über Regierungen. Wir wissen ja auch, dass die Bundesregierung über die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit dort tätig ist, auch ganz wichtig tätig ist, und zwar zum Beispiel in der Aufbereitung des Wassers für die Bevölkerung, denn es gibt genügend, was von außen kommt, aber das ersetzt ja nicht eine funktionierende Wirtschaft, die darin besteht, dass auch produziert wird, und es wird gar nichts produziert.

    Ich hatte mich erkundigt auch, ob es zum Beispiel jetzt eine Möglichkeit gibt, Solarenergie hier in einer Situation einzubringen, was ja ganz wichtig wäre, dezentrale Energie, weil dort die Elektrizität täglich zusammenbricht im Gazastreifen, aber das geht auch nicht, weil der zweite Zugang zu dem, den Sie eben erwähnt haben in der Moderation, ist der Zugang in Rafah im Süden des Landes nach Ägypten. Das ist aber kein regulärer oder kein legaler Zugang, sondern das ist der Tunnelzugang. Es sind Hunderte von Tunneln, in denen sich einige aus der Bevölkerung sehr reich machen – dadurch, dass sie die Materialien, zum Beispiel Baumaterialien und sonstige Dinge, die man im Leben braucht, schmuggeln über den Tunnel aus Ägypten. Also eigentlich im Wortsinn eine totale Anarchie, eine Abwesenheit von ziviler Herrschaft. Von einer Regierung zu sprechen, die dafür sorgt, dass die Bevölkerung eine Zukunft hat, ist eigentlich ein Hohn.

    Heinemann: Es gibt immer wieder Meldungen darüber – Stichwort Führung -, die Hamas-Führung lebe in Saus und Braus und eben auf Kosten der eigenen Bevölkerung.

    Neudeck: Das ist nicht ganz falsch. Ich glaube, es ist ein bisschen übertrieben, aber es ist so: Gerade die Versuchung bei solchen Eliten, auf Kosten der Bevölkerung zu leben, ist ja auch in der Westbank festzustellen, also in dem Teil von Palästina, der sich um die Autonomiebehörde in Ramallah bildet. Auch da ist eine große Wut der Bevölkerung auf eine Elite, die sich aushalten lässt, sowohl von der internationalen Gemeinschaft. Sie lebt ja von unseren Geldern, von den EU-Geldern, von den arabischen Geldern, von den UNO-Geldern. Und das führt auch dazu, dass natürlich ein letzter Rest von Macht, eine Machtgier da ist.

    Ich habe eigentlich die Situation jetzt so erlebt, dass die Bevölkerung jetzt das schon satt hat, dieser Wechsel von zwei Regierungen, die eine in Ramallah mit der Fatah an der Spitze, mit Abbas an der Spitze, und die andere Regierung in Gaza City mit der Hamas . Das will man eigentlich nicht mehr, weil man weiß: Wenn es eine politische Bewegung gibt, die zu dem zweiten Staat Palästina führen soll, dann muss es eine gemeinsame Stimme geben. Aber die Eliten sitzen fest im Sattel. Es war ja der Scheich von Katar auch eigens zu einem Staatsbesuch praktisch nach Gaza City gekommen, und das hat natürlich die Situation verfestigt.

    Heinemann: Herr Neudeck, weiten wir den Blick noch auf die Region. Sie haben kürzlich auch Syrien besucht. Die Geiselnahme von 21 UN-Beobachtern auf den Golanhöhen hat die Furcht vor einer Ausweitung des Syrien-Konfliktes ja geschürt. Die Entführer haben jetzt gesagt, sie wollten die philippinischen UN-Soldaten in Kürze freilassen und der Obhut des Roten Kreuzes übergeben. Macht man sich hierzulande ein falsches Bild von den Widersachern des syrischen Machthabers Assad?

    Neudeck: Das weiß ich nicht, ob man sich überhaupt ein Bild macht, denn dieser Konflikt ist ja so unterdrückt und wird so mit Schweigen übergangen in der internationalen Welt und Diplomatie, dass wir nur davon hören, dass alle drei Monate mal die Freunde Syriens, wie man es euphemistisch nennt, sich treffen und dann wieder beraten, was sie nicht tun können und was sie tun können. Also dieser Konflikt führt dazu, dass eine junge Bevölkerung, die dort seit zwei Jahren – in diesen Tagen jährt sich das Datum, der 15. März 2011, zum zweiten Jahrestag – dabei ist, eine junge Bevölkerung, 50 Prozent unter 22 Jahren, die will einfach Aufmerksamkeit in der internationalen Welt. Die bekommt sie aber nicht. Im Grunde wird dieser Konflikt stillgeschwiegen in der internationalen Welt.

    Natürlich ist das, was Sie eben zitiert haben, was auf den Golanhöhen passiert ist, total gegen die Absicht der nationalen Koalition, die vor einigen Monaten, Ende November, in Katar gegründet wurde unter einem mittlerweile doch sehr anerkannten Mann, aber der noch nicht genügend bekannt ist, Moaz al Khatib, der auch verhandelt hat mittlerweile jetzt mit dem US-Außenminister und auch mit dem russischen Außenminister. Das ist nach allem, was ich weiß, eben ein sehr vernünftiger Mann. Der kann sich nur die Haare raufen darüber, was Youngsters dort jetzt anstellen. Aber man muss das ein bisschen von daher verstehen, dass dieser Konflikt eben völlig auf die Ratlosigkeit, auf die totale Ratlosigkeit der internationalen Staatengemeinschaft stößt und deshalb auch zu Wut und zu solchen völlig unsinnigen und irrationalen Reaktionen jetzt führt, wie wir die jetzt erleben auf den Golanhöhen.

    Heinemann: Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Neudeck: Auf Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Rupert Neudeck
    Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme. (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)