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Die Wollemie

Es gibt Tiere und Pflanzen, die im wahrsten Sinne des Wortes weit mehr als einzigartig sind: Arten nämlich, die keine nahen Verwandten haben. Sie sind nicht nur die einzigen Vertreter ihrer Art, sondern auch ihrer Gattung.

Von Monika Seynsche | 11.10.2010
    Es ist kalt an diesem Samstagmorgen im September 1994. David Noble und seine Freunde kontrollieren den Sitz ihrer Klettergurte und Knoten. Langsam seilen sie sich ab, in einen schmalen Canyon inmitten endloser Wälder.

    Unten angekommen, erzählt John Benson vom Botanischen Garten in Sydney, stießen die Männer auf einen Baum mit ganz ungewöhnlichen Blättern. Aus reiner Neugierde bricht der Nationalparkranger David Noble einen Zweig ab und bringt ihn in den botanischen Garten von Sydney. Die Forscher dort können ihren Augen nicht trauen: Der Zweig stammt von einer Pflanze, die vor zwei Millionen Jahren ausgestorben ist oder zumindest als ausgestorben galt – bis zu jenem 10. September 1994.

    "Es hätte mich nicht überrascht, wenn man dort draußen im Wollemi Nationalpark einen kleinen Strauch oder eine bislang übersehene Grasart gefunden hätte, aber doch nicht einen 40 Meter hohen Baum! Es ist unglaublich, eine so große neue Art zu finden."

    Bis heute haben die Forscher in den engen Schluchten weitere Exemplare gefunden. Insgesamt allerdings sind es weniger als 100 Bäume, die von ihrem Wuchs an Kiefern erinnern, aber farnartige Blätter besitzen. Die Forscher haben sie nach ihrem Fundort und ihrem Entdecker benannt: Wollemia nobilis. Fossilienfunde deuten darauf hin, dass die Art seit mehr als 100 Millionen Jahren existiert und früher neben Australien auch Neuseeland, die Antarktis, Indien und Südamerika bevölkerte.

    "Eine der faszinierenden Eigenschaften der Wollemie ist ihr Mangel an genetischer Vielfalt. Wir haben alle bekannten Bäume und zahlreiche Samen untersucht. Aber bislang konnten wir keinerlei genetische Variation entdecken."


    Hinweis: Beiträge zum Jahr der Biodiversität wie die anderen Teile der Reihe "Die Einzigen ihrer Art" finden Sie auf unserer Spezialseite Der Rückzug der Vielfalt.
    Alle Wollemien scheinen ein identisches Erbgut zu haben. John Benson will aber nicht ausschließen, dass es einen gewissen, noch unentdeckten Grad an genetischer Variation gibt, denn sonst würde die Wollemie eines der Grundgesetze der Evolution auf den Kopf stellen, demzufolge genetische Vielfalt existenziell für das langfristige Überleben einer Art ist

    "Das ist eine wirklich bizarre Pflanze, denn sie produziert immer noch lebensfähige Samen. Das dürfte sie eigentlich nicht. Bei so starker Inzucht und ohne genetische Variation dürfte sie sich nach allem was wir wissen höchstens vegetativ, also über Ableger, fortpflanzen können. Aber zehn Prozent ihrer Samen sind lebensfähig und wachsen sowohl in der Wildnis als auch im Labor ganz wunderbar."

    Der Botaniker deutet auf die etwa zwei Meter hohe Wollemie, die vor ihm im botanischen Garten von Sydney steht. Sie wurde im Labor aus Samen der wilden Pflanzen gezüchtet, genauso wie Tausende anderer Wollemien, die seit vier Jahren weltweit in Gartencentern verkauft werden. In Gärten wird die Art deshalb vermutlich überleben, in ihrer ursprünglichen Heimat aber sieht es düster aus.

    "Eine große Gefahr auf lange Sicht könnten zu häufige Feuer infolge des Klimawandels darstellen, die einige der Bäume und der Keimlinge töten. Aber vor allem haben wir seit fünf, sechs Jahren Probleme mit einem Krankheitserreger, Phytophthora cinnamoni. Er wurde aus Südostasien eingeschleppt, und verursacht bei einigen australischen Pflanzen Wurzelfäule. Aus Versuchen im Labor ist bekannt, dass auch Wollemien daran sterben, und wir wissen, dass zwei Bäume in der Wildnis schon befallen sind. Wir versuchen dieses Problem in den Griff zu bekommen, aber wir sind nicht sehr optimistisch."

    Die beiden Schluchten, in denen die letzten Wollemien leben, sind absolutes Sperrgebiet. Ihr genauer Standort wird geheim gehalten und unbefugten Eindringlingen drohen mehrjährige Haftstrafen. Trotzdem gehen immer wieder Menschen dorthin und bringen – mit dem Dreck ihrer Autoreifen oder Schuhsohlen – die Wurzelfäule mit. Einmal angekommen verbreitet sie sich rasch übers Wasser oder über Tiere und lässt sich kaum bekämpfen.

    Hinweis: Beiträge zum Jahr der Biodiversität wie die anderen Teile der Reihe "Die Einzigen ihrer Art" finden Sie auf unserer Spezialseite Der Rückzug der Vielfalt.