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"Die zehn Gebote"
Stationen-Drama voller Seelenmorde

Regisseurin Karin Henkel hat am Züricher Schauspielhaus "Die zehn Gebote" inszeniert. Inspiriert von dem legendären Zehnteiler des polnischen Filmemachers Krzysztof Kieslowski liefert sie Denkanstöße statt moralischer Appelle.

Von Cornelie Ueding | 25.09.2015
    Rote Theaterstühle
    Von wegen sitzen, die Zuschauer werden in vier Gruppen geteilt und gruppenweise durch verschiedene Spiel-Räumen zu ihren Szenen geleitet. (picture-alliance / dpa-ZB / Patrick Pleul)
    Jeder, der diesen vierstündigen Theaterabend einmal besucht, wird nur sechs von zehn Episoden sehen können. Und es kann sein, dass Menschen, die sich über den Abend unterhalten, zwei ganz verschiedene Inszenierungen gesehen haben. Denn die Zuschauer werden in vier Gruppen geteilt und gruppenweise durch das Labyrinth aus einem halben Dutzend Spiel-Räumen zu ihren Szenen geleitet. Im Zentrum der riesigen Schiffbauhalle ein öffentlicher Raum, gleichermaßen tauglich für Beerdigungen wie lautstark umjubelte Rockkonzerte. Vorne ist eine Apsis angedeutet, davor ein Treppenpodest. An der Rückseite: die Glaswand einer von beiden Seiten einsehbaren Bühne. Düstere Seitengänge führen zu den einzelnen Spielstätten: eine ganze Wohnung steht bereit, mit Zusatzstühlen für Besucher, die hautnah und hilflos in die emotionalen Verstrickungen fremder Menschen hineingezogen werden. Videoprojektionen zeigen mal die Lichter einer Hochhaussiedlung, mal Figuren, die durch lange Kellerfluchten irren. Und wenn die Zuschauer im Keller ankommen, finden sie dort eine Kombination aus Krankenzimmer und Klinik-Wartesaal vor. Intime Momente – in aller Öffentlichkeit.
    Ausschnitte lebensentscheidender Situationen
    Dieses komplizierte Arrangement ist ebenso kunstvoll wie klug: Jeder Zuschauer sieht jede Situation aus einer anderen Perspektive. Jeder gewinnt Einblicke, nie einen Überblick. Es gibt keine Rangfolge der Zehn Gebote. Alle sehen immer nur, wie im richtigen Leben, Ausschnitte, Teilaspekte lebensentscheidender Situationen. In unterschiedlicher Reihenfolge und nie eindeutig zu werten. Karin Henkel hat mit diesem Zugriff auf Kieslowskis filmisches Meisterwerk seine Grundidee mit fantastischen Schauspielern in unsere Gegenwart fortgeschrieben – in intimen Nachbarschaftsgeschichten. Die dünnen Wände erleichtern das Mithören von Lebensgeräuschen. Ein Verdacht, eine Nachricht wird schnell von Mund zu Mund weitergereicht. Erinnerungen, Berichte im Wechsel mit Dialogfragmenten. Keine Belehrungen, keine Schuldzuweisungen. Nur Fragen, keine Antworten. Ist der Vater schuld, dessen Kind ins Eis einbricht? Er hatte die Belastbarkeit der Eisfläche pro Quadratdezimeter genau vorausberechnet – aber nicht berücksichtigen können, dass eine Fabrik ihr Kühlwasser in den See leiten würde.
    Denkanstöße statt moralischer Appelle
    Oder: Die Mutter ist tot – hat nur einen verschlossenen Brief hinterlassen. Bekenntnisse? Vielleicht ist der geliebte Vater ja gar nicht ihr Vater? Zweifel sind der Nährboden für Spekulationen, Identitätskrisen, Notlügen, verbotene Gefühle, die Angst machen. Die Ethik Professorin vertraut ihre Lebensbeichte nur einer Videokamera an: Wir sitzen als heimliche Mithörer und Zuseher in einer Art Sprachlabor im Dunklen, die Kopfhörer übergestülpt, und schauen ihr dabei ins Gesicht, hören und fühlen ihre Zerrissenheit. Vor einem halben Jahrhundert hatte sie, damals Mitglied einer Untergrundbewegung, sich und andere über ihre Beweggründe täuschend und entgegen ihrer erklärten Absicht einem jüdischen Mädchen nicht zu einem sicheren Versteck verholfen.
    Am Ende dieses Stationen-Dramas voller Seelenmorde beschreibt ein Mörder emotionslos alle Schritte des für ihn sehr anstrengenden Tathergangs. Der Ekel vor seinem blutenden Opfer ist seine einzige Gefühlsregung. Keine Gewissensbisse. Erst kurz vor dem Erhängen kommt eine andere, sehr kindliche Seite seiner Persönlichkeit zum Ausdruck. Um ihn herum, so als gäbe es einen richtigen und einen falschen Mord: Amtspersonen, befasst mit den verschiedenen Schritten des gesetzlich legitimierten Tötens: Henker, Vollstrecker, Juristen. Bestenfalls Drückeberger, keine fühlenden Menschen. Ein ganz großer Theaterabend. Denkanstöße statt moralischer Appelle. Es ist an der Zeit, unsere Werte neu zu überdenken, zu vertreten – und zu leben.