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Die Zerbrechlichkeit der gläsernen Demokratie

Sie ist momentan menschenleer - die Reichstagskuppe. Der Grund: Terrordrohungen. Man könne nur hoffen, dass die Aussperrung der "eigentlichen Kuppel-Besitzer", gemeint ist das Volk, nicht von Dauer ist. Das meint Arno Orzessek.

Von Arno Orzessek | 25.11.2010
    Es spricht nicht gegen die Reichstagskuppel, dass sich fortgeschrittene Berlin-Touristen nur selten in die Menschenschlange auf dem Vorplatz einreihen, um dem Aufstieg entgegenzuwarten.

    Denn fast jeder ist ja ohnehin beim ersten oder zweiten Berlin-Besuch nach Beendigung des Reichstags-Umbaus 1999 auf der spiralförmig umlaufenden Rampe in die Kuppelspitze gewandert, um den Parlamentariern aufs Haupt zu schauen und der Hauptstadt ins frisch gestylte Nachwende-Gesicht.

    Schnell wurde die gläserne Kuppel samt dem erstaunlichen Panorama-Spazierweg zu einer Hauptattraktion und gleichzeitig zu einer Selbstverständlichkeit – für die Berliner, die Deutschen, die Touristen aus aller Welt.

    Und genau darin liegt wohl ihre Bedeutung: in der Selbstverständlichkeit, mit der die Menschen ein paar Meter über dem Machtzentrum der Demokratie flanieren und sich um die Politik, die zu ihren Füßen gemacht wird, kümmern oder nicht kümmern.

    Das Brandenburger Tor wurde 1989 zum weltweit verständlichen Zeichen für den Mauerfall, die Wende, das Ende des Kalten Krieges, das heißt: für revolutionäre Veränderungen. Die gläserne Kuppel – von Sir Norman Foster zunächst durchaus widerwillig dem Reichstag aufgesetzt, nachdem dieser 1995 von Christo und Jean Claude sinn¬reich verhüllt, man könnte auch sagen: von lastender Vergan¬gen¬heit entkleidet worden war –, die gläserne Kuppel also symbolisiert keinen Wandel, sondern einen idealen Zu¬stand, oder kurz: ein Ideal.

    Sie ist, überhöht gesprochen, der Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes – in Glas und Stahl gefasst: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Die erste Kuppel des Reichstagsgebäudes, die der Architekt Paul Wallot ab 1884 auch schon aus Glas und Stahl errichten ließ, war Wilhelm II. ein Är¬gernis, denn sie überragte die Kuppel des benachbarten Stadtschlosses um einige, symbolisch aussagekräftige Meter; und auch die Gie¬belinschrift des Reichstags, "Dem deutschen Volke", wurde zur Kaiserzeit noch als Provokation gelesen. Die heutige Kuppel ist hingegen ein architektonisches Ergebnisprotokoll der langwierigen Demokratisierungsprozesse.

    Das Kapitol in Washington wurde seinerzeit als architektonische Triumphgeste des jungen Staates errichtet, der sich von England befreit hatte. Das Kapitol indessen thront trutzig auf einem Hügel, es wurde vom Palais in Versailles inspiriert und steht längst nicht mehr für die Nahbarkeit staatlicher Macht – eher ist das Gegenteil der Fall.

    Der Reichstag würde ohne die begehbare Kuppel womöglich einen ähnlich zwiespältigen Charakter entfalten – dank der Kuppel jedoch wurde das Gebäude ein Teil des öffentlichen Raumes und repräsentiert in Gestalt der wandernden Körper buchstäblich das Volk.

    Das Münchener Olympia-Gelände von 1972 und namentlich das Olympiastadion gelten als die architektonische Geste, mit der die Bundesrepublik ihre nach 1945 mehr oder weniger mühselig gewonnene Weltoffenheit vor aller Welt bekundet hat. Dank der Kuppel setzt der Reichstag diese gute Tradition zu den Bedingungen der deutschen Wiedervereinigung fort und konterkariert die seltsam festungsartige Wirkung des Kanzleramtes auch wenn dieses nach den Intentionen seines Architekten Axel Schultes etwas Mediterran-Romantisches aufweisen soll.

    Nun aber ist die Reichstagskuppel menschenleer – die Herbstsonne scheint durch ein fleischloses Architekturskelett. Das Glas, das sonst mit der erwünschten Transparenz der Macht assoziiert wird, gemahnt plötzlich an die Zerbrechlichkeit und Gefährdung des Gemeinwesens.

    Natürlich ist kaum anzunehmen, dass sich irgendeine Terror-Clique mit der symbolischen Strahlkraft der Kuppel befasst hat. Umso massiver wirkt indessen der Eingriff ins öffentliche Leben, den die Aussperrung der eigentlichen Kuppel-Besitzer darstellt.

    Man wünscht sich, dass die Maßnahme eine Ausnahme bleibt. Ansonsten wandelt sich die Reichstagskuppel zum monströsen Gefährdungsbarometer, an dem man, je nachdem, ob Menschen darin herumwandeln oder nicht, vor allem abläse, wie die nationale Sicherheitslage gerade eingeschätzt wird eine Umnutzung, die allzu bedauerlich wäre.