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Die Zerstörung der Zeitmaschine

Das Theater heute, sagen viele seiner Liebhaber, sei kein Theater mehr. Es sei irgendwas, man erkenne die Stücke nicht mehr, jeder zeige seine eigenen Einfälle. Was solle ein Hamlet, der - wie in Hamburg - den müden, depperten Clown spielt und mit Videokassetten um sich schmeißt oder, wie jetzt in Zürich in "Ha-Ha-Hamlet", einen verzogen-eitlen Faxenmacher?

Von Günther Rühle | 13.05.2007
    Was soll ein so irr-wirres, auf der Bühne also doch klar zu gliederndes Stück wie Shakespeares "Titus Andronicus", das von undefinierbaren Figuren zwischen Stuhlreihen zitierend absolviert wird? Was eine "Orestie", die - wie in Berlin - vor blutbeschmierten Wänden nur noch lauthals den zusammengestrichenen Text zelebriert, keine Handlung mehr entfaltet, oder - wie in Frankfurt - den politisch gemeinten Schlussteil, die 'Eumeniden' aus dem alten Athen, als moderne Talkshow mit einer lesbischen Athene lustig macht?

    Man konnte in Düsseldorf sehen: einen Tellheim, der in der "Minna von Barnhelm" mit dem Fahrstuhl von unten in die Szene fuhr, angekündigt mit Neon-Schrift "Tellheim kommt", in Frankfurt die Schiller'sche Räuberbande als Musikband. Das sind nur einige Beispiele aus dem ständig wechselnden Baukasten des Theaters. Manchem erscheint das alles wie ein Tollhaus.

    Das Theater ist in Bewegung geraten. In eine Bewegung, deren Ziel noch nicht auszumachen ist. Man spürt aber seine verwirrende, richtungsuchende Hast. Sein Wirkenwollen auf Teufel-komm-raus. Seine unterhaltsamen oder rätselhaften Zumutungen werden verwundert/belustigt als "event" betrachtet und beifällig akklamiert.

    Ein "Event" hat mit einem "Ereignis" in der Kunst nichts zu tun. Nein - es ist das bis in die achtziger Jahre vertraute Theater nicht mehr. Es repräsentiert nur noch in Rudimenten die einst hochgerühmte literarisch- geistige Kultur. Es repräsentiert in vielen Produktionen nur noch sich selbst, den Betrieb. Es zeigt sich dabei einfallsreich, auch oft virtuos gespielt, aber anders gedacht als bisher. Die, denen das nicht gefällt, gehen nicht mehr ins Theater. Die Reste des gern verachteten Bildungsbürgertums, das doch die Theater nach der Zerstörung wieder aufgebaut hat, ziehen sich zurück. Am liebsten in die Oper.

    Dafür sind andere Publikumsschichten in die Theater gekommen. Sie sind naiver, offener, weniger vorgeprägt in ihren Erwartungen und in ihren Anforderungen. Sie sind unkritischer und - wie die unvermutbaren Lacher zeigen - einfältiger. Man spürt den fehlenden Widerstand, die kritische Betrachtung. Das ist nicht so sehr gewachsene Toleranz als die Folge des Abbaus der Vorstellung von dem, was Theater war und doch sein kann oder sein soll.

    Es fehlt den Theatern in vielen Städten also nicht an Besuchern. Es zieht sie an - aber immer weniger aus Verlangen nach Bildung oder durch die magische Kraft seiner Schaustellungen. Das Schauspiel auf den deutschen Bühnen profitiert von vielerlei: von der Ermüdung an der technischen Konserve, die sich Kino oder Video nennt. Es profitiert vom Verlangen, mit anderen zusammen etwas zu erleben und die Isolation dröger Abende zu überwinden. Vor allem aber: weil es noch immer als die Stelle erfahren wird, an der der Mensch noch als lebendiges, merkwürdiges, bemerkenswertes, wandlungsreiches Wesen erlebbar wird. Erlebbar durch den Schauspieler.

    Der Schauspieler ist, wenn er auftritt, der aus der Anonymität hervorgehobene Mensch, der anderen Beispiele vor Augen führt, wie man sich in den Tollheiten und Ermüdungen des Lebens zu bewähren hat - auch, wie man sein Leben und sich selbst verspielen kann. Der Schauspieler muss sich Abend für Abend auf der Bühne behaupten. Er ist das Beispiel für den täglichen Lebenskampf. Er muss sich auf der Bühne Achtung verschaffen, den Raum durchdringen, für alle das gemeinsame Erlebnis schaffen. Erleben kann man den Schauspieler nur im Theater. Betrachten kann man Schauspieler überall, im Fernsehen, im Kino, auf Video, in den Illustrierten.

    Die guten Schauspieler tragen im Augenblick das Theater. Sie sind derzeit sein Reichtum und seine Lebenskraft.

    Und die Regisseure? Machen sie nicht auch die Sensation eines Theaterabends? Sie sind noch immer die Herrn der Veranstaltungen, die Initiatoren der Szene. Wenn einer von den älteren, bekannten Regisseuren, die einmal dem Theater Kraft gegeben haben und eine ganz neue Bildlichkeit ins Theater einbrachten, wenn also Peter Zadek oder Luc Bondy, Claus Peymann, Peter Stein oder Andrea Breth inszenieren, öffnen die Kritiker noch ihre Köpfe. Da ist ernsthafte Arbeit das Selbstverständliche. Spielereien gibt es da nicht, und Spinnereien schon gar nicht.

    Hinter ihnen aber ist eine ganz neue Generation von Theatermachern ins Theater gekommen. Sie kämpfen einen harten Kampf gegeneinander um Beachtung und Geltung. Jeder sucht einen eigenen Ausdruck, einen eigenen Stil. Man spürt hinter ihrer Arbeit den Druck, auffallen und sich durchsetzen zu müssen. Man spürt den Generationsbruch. Das Theater der Älteren ist als "Regietheater" auch oft beschimpft, aber noch mehr umjubelt worden. Heute - heißt es - sei aus dem "Regietheater" ein "Regisseurstheater" geworden. Die Beobachtung ist nicht falsch. Aber was ist der Unterschied?

    Das "Regietheater" erwuchs aus dem Verlangen, alte Stücke neu, aktuell zu interpretieren und diese Interpretation in ein dramatisches Bild zu verwandeln. Es ging aus vom Stück, von der Achtung des Stücks. Der Regisseur entdeckte in ihm bisher Ungesehenes. Beispiele sind: die Inszenierung des "Tasso" von Peter Stein, oder die der "Iphigenie" von Claus Peymann. Das Stück erschien im Ablauf, im Text bewahrt, aber in neuer Perspektive. Das "Regisseurstheater" dieser Tage ist auf Deutung, Interpretation und Erkenntnis nicht aus. Es entwickelt sein Ergebnis nicht aus dem Stück, sondern es zeigt das Stück, wie das regieführende Ich sich darin sieht. Es wird ihm Material seines Ich, wird gebrochen, verkürzt, kondensiert, ferngerückt, belebt mit wilden Gefühlen oder Einfällen des inszenierenden Subjekts. Nicht: Wer ist Shakespeares Hamlet? Sondern: wie sehe ich diesen Kaspar, dieses Bürschchen, das nichts zustande bringt? Ist er nicht ein Clown? Ein lustiger Verdriesling? So sehe ich ihn, also zeige ich ihn so.

    Dabei fliegt das Stück auf, verliert seine Bedeutung, seine immanente Philosophie. Von Sein oder Nicht-Sein ist da nicht mehr die Rede. Das ist ein Zitat, weiter nichts. So wird man ausgeliefert der Eigenwilligkeit des Regisseurs, der sich alte Stücke vornimmt, um die eigene Befindlichkeit ihnen gegenüber zu demonstrieren. Soviel Subjektivität wie jetzt war im deutschen Theater nie. Nie hat das deutsche Theater soviel junge Regietalente gesucht, probiert und verbraucht wie in diesen Jahren.

    Unser Theater begründet und rechtfertigt sich derzeit also nicht durch die neue große Interpretation, wie Hans Neuenfels sie einst für Ibsens "Nora", Klaus Michael Grüber für "Die Bakchen" oder den "Faust" gab. Es rechtfertigt sich auch nicht durch die Aufführung neuer, die Öffentlichkeit wirklich erregender Stücke und nicht aus der Setzung neuer Themen. Es gibt nichts dergleichen.

    Die deutsche dramatische Produktion dieser Jahre ist - obwohl es Probleme genug gäbe - gefällig im Privaten, aber ohne Energie und Vision. Summiert: gehobener Boulevard mit Ambitionen. So unterhält das Theater in Deutschland sein Publikum derzeit vor allem mit dem Herausgleiten aus seinen Traditionen und Normen und mit seinem taumelnden Suchen und Probieren. Vorschläge machen, sagt man, sich an Brecht erinnernd, ohne ihn zu ehren. Dieses Suchen und Probieren macht im Augenblick die Lebendigkeit des Theaters.
    Schon seit dem Ende der nachklassischen Zeit, also seit 1890, ruht unser Theater nicht mehr in sich selbst. Der Aufbruch aus der Ruhe war damals enorm. Seitdem wird es getrieben und geprägt von den Entwicklungen in der Welt, in der es zu spielen hat. Bis zur deutschen Wende, bis 1990, stand es in der Grundspannung, in der es sich zu Lessings Zeit gebildet hatte. Zweihundertfünfzig Jahre rieb es sich am jeweiligen Zustand der Landes und seiner Gesellschaft. Lessings "Emilia Galotti", Hauptmanns "Die Weber", Brechts "Heilige Johanna der Schlachthöfe", Dürrenmatts "Besuch der alten Dame", Thomas Bernhards "Heldenplatz" sind sprechende Beispiele.

    Immer hatte es ein Gegenüber, gegen das es seine Vorstellungen von menschenwürdigem Leben einklagte. Es zog Kraft und Aufgabe aus seiner Kritik und seinem Widerspruch gegen die Verhältnisse, die es vorfand. Es wuchs mit dem Aufgreifen seiner aufstörenden Themen. So stand es immer - in allen Systemen - unter politischer Spannung. Noch im gespaltenen Deutschland war es eingespannt in diese Rolle. In der Bundesrepublik galt es als Ausweis der Freiheit und der Emanzipation, in der DDR wurde es beansprucht als Baustein für eine sozialistische Kultur. Es hatte öffentliche, bewusstseinprägende Funktion. Selbst der Widerspruch und Widerstand gegen solche Beanspruchung lebte von diesem Gegenüber.

    Mit der Wende, dem Ineinanderrutschen der beiden deutschen Staaten zu einer lange gesuchten Einheit, brach diese Grundspannung zusammen. Das Theater in West und Ost fiel aus der politischen Beanspruchung in seine selbstbestimmte Freiheit. Wo war noch ein Gegenüber? In welcher Welt war man? Wo war noch Widerspruch, gegen wen? Und was war eine Aufgabe? Man musste sich zurechtfinden.

    Zwar sprach man - um im Politischen zu bleiben - von der neuen Einheit als endlich wieder erreichter deutscher Identität. Aber der neu sich bildende nationale Zusammenhang gab kein neues Bewußtsein, keine neue Basis für das Lebensgefühl, weil in dem Augenblick nationaler Identitätsbildung deren Auflösung durch die europäischen Instanzen begann. Das Land treibt konturlos, nur definiert als tüchtigster Arbeitsplatz, irgendwohin in seine Zukunft, die nicht mehr Deutschland ist, aber noch so heißt, weil die deutsche Sprache gesprochen wird. Wofür noch die Stimme erheben, Stücke schreiben?

    In dem bis zur Wende anscheinend fest gefügten, nun plötzlich zusammenfließenden staatlichen Feld, das heißt: in den beiden deutschen Staaten, war doch ein hoch motiviertes Theater entwickelt worden. Im Theater der Bundesrepublik hatte sich seit 1962, seit dem Auftreten junger Kräfte aus der Nachkriegsgeneration, ein Verlangen nach Wahrnehmung der Wirklichkeit gezeigt: Ende der Nachkriegsromantik, Kenntnisnahme der deutschen Geschichte, der Verbrechen, der Verantwortung.

    Das Theater lief der Protestbewegung von 1968 voraus und wurde dann von ihr mitgerissen. Dabei verstärkte sich der Impuls, die Bühne wieder zur führenden, eingreifenden Kunst zu machen. Heinar Kipphardt, Walser, Hochhuth, Peter Weiß, Kroetz, Sperr, Dieter Forte, Thomas Brasch, Handke, Tankred Dorst, Thomas Bernhard - es gab eine Flut von Autoren, Stücken, von Spielimpulsen, die das Theater nicht nur als moralische Anstalt erscheinen ließen; sie leiteten auch die bewegten, faszinierenden Siebziger Jahre ein. Mit Peter Palitzsch, Stein und Zadek, mit Niels-Peter Rudolph, Peymann, Werner Düggelin, Hans Hollmann, Neuenfels, Minks und Schaaf, mit Grüber, Hübner, Steckel und Everding wuchsen Regisseure ins öffentlichen Bewusstsein, die bedeutende Bühnenerlebnisse stifteten. Den literarischen und kritischen Elan jener Jahre spürte man als szenischen im Theater.

    In der DDR gab es - nach Brechts Tod, freilich weiter gebremst durch die Staatsaufsicht - doch ähnliche Entwicklungen. Die politischen Konflikte um Stücke wie Brechts "Lukullus" oder Hartmut Langes "Marski", um "Moritz Tassow" und "Die Sorgen und die Macht" von Peter Hacks, um " Die Bauern" und den "Bau" von Heiner Müller, der den sozialistischen Optimismus Brechts in seiner Trauer begrub, um Adolf Dresens "Faust", um Uta Birnbaums Brecht-Inszenierungen zeugen davon. Und auch die Intendantenstürze von Wolfgang Langhoff am Deutschen Theater und Ruth Berghaus am Berliner Ensemble, die Querelen um die Arbeit von Horst Schönemann, Christoph Schroth oder dem jungen Frank Castorf spiegeln diese Auseinandersetzungen wieder.

    Hier wie dort waren die politischen Motivationen Triebkraft der szenischen Arbeit. Wer in der DDR nicht mehr weiterarbeiten konnte, kam in den Westen. Kipphardt, Manfred Karge, Brasch, Tragelehn, Jürgen Gosch, Peter Kupke, Einar Schleef - die Reihe ist lang. Die politischen Konfrontationen verloren sich erst in der Mitte der achtziger Jahre. Im Westen wurde der Konflikt um Faßbinders "Der Müll, die Stadt und der Tod" der spektakuläre Endpunkt des politisch motivierten Theaters, in der DDR setzte Volker Brauns "Übergangsgesellschaft" und Heiner Müllers "Der Auftrag" wenig später ein ähnliches Signal.

    Von heute her gesehen waren es auch Endpunkte des dramatischen Theaters, des Theaters, das sich ableitete von dramatisch zupackenden Stücken, die öffentliche Diskussion hervorriefen.

    Als mit der Wende von 1989 die politische Spannung zusammenbrach, zeigte sich: Im Theater der beiden deutschen Staaten waren längst ganz andere Entwicklungen in Gang. Auch sie begründeten sich aus jenen emanzipatorischen Kräften, die das deutsche Theater von jeher prägten. In Westdeutschland bildete sich unterhalb der öffentlichen Theater eine zweite Theaterszene aus, die immer mehr Kräfte an sich zog. Erst sprach man vom " Anti-Theater", dann sagte man "Underground-Theater", später "Off-Theater" und nannte die Szene endlich, Ende der achtziger Jahre: "Freie Theater".

    Lange waren die Grenzen zwischen beiden Theaterformen deutlich. Lange hielt man eine Verschmelzung beider weder für möglich noch wünschbar. Zu roh, zu wild, zu despektierlich, zu scharf war das Milieu des Undergrounds. Zu simpel waren viele Spielimpulse. Aber hier wurden neue Formen des Zusammenlebens und Produzierens eingelebt, unter oft großen Opfern Aufführungen zustande gebracht. Rainer Werner Fassbinder hat sich in dieser Szene gebildet. Aufstiege wie seiner aus dem Anti-Theater in München ins etablierte Stadttheater waren noch um 1970 selten.

    Die Annäherung beider Szenen vollzog sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Damals richteten etablierte Häuser - die Tendenzen erkennend - sich laborartige Nebenbühnen ein. Malersäle, Schlossereien wurden begehrte Spielplätze, in manchen Städten gründeten sich eigene Foren für die wachsenden und wechselnden Freien Gruppen wie die "Kampnagel-Fabrik" in Hamburg. Mit der politischen Wende von 1989 sind auch hier alle Sperren gebrochen und von den "Sophiensälen" in Berlin oder dem neuen "Ballhaus Ost", wo auch die als Nora an der Schaubühne berühmt gewordene Anne Tismer jetzt spielt, über die "Hallen" in Frankfurt bis hin zum "Marstall" in München haben heute die etablierten Theater Spielplätze für die wilden Talente und Phantasien der aus der freien Szene heraufdrängenden Kräfte.

    In der DDR wurde die Ausbildung einer ähnlichen "freien Szene" unterdrückt, aber Opposition rührte sich auch hier. Frank Castorfs Inszenierung von Heiner Müllers "Der Bau" in Chemnitz, 1986, zeigte, wie listenreich man vorgehen konnte und musste. Die im Sozialismus hochzuziehenden Mauern des Staatsbaus waren auf dieser Bühne flatternde Plastikfolien, die Aura der Bühne machte aus dem Parteifunktionär einen hilflosen Angestellten, die rote Fahne flog in den Keller. Das Umkrempeln der Stücke, die andere Sprache des szenischen Materials begann hier, die Inszenierungen wurden geöffnet für die Improvisation, sie gärten in sich. Chaos statt Ordnung wurde Prinzip des Spielens, das kein Darstellen mehr war, sondern ein fließender Vorgang lustvollen Demonstrierens eigener Phantasien.

    Als Castorf nach der Wende die Volksbühne in Berlin übernahm, setzen sich die gestauten Kräfte frei. Mit ihm und den in den Westen vordringenden Regisseuren Andreas Kriegenburg und Armin Petras kam die Stücke-brechende und Stücke-verwandelnde Castorf- Schule ins gesamtdeutsche Theater. Was Castorfs lange bedrängte und gebremste Phantasie nach der Wende wie in einer großen Explosion an der Volksbühne freisetze, ist ungeheuer. Nirgendwo wurden die ironischen Energien, der polemische Übermut, wurden auch die neuen Techniken von Fernsehen und Video so szenen- und bühnennah, so die Bühne belebend und perspektivierend, so die Schauspieler treibend eingesetzt wie hier. Es war frischer Wind aus Ost. Viele der Aufführungen auf den großen Bühnen leben heute noch von diesen Impulsen.

    Die Theaterleute der DDR haben die Auseinandersetzung mit den Vorgängen von 1989 heftiger und intensiver geführt als das schon Mitte der achtziger Jahre apolitisch gewordene Theater in Westdeutschland. Freilich. Sie waren auch direkter betroffen. Der von den politischen Ereignissen am meisten berührte Autor, Heiner Müller, wurde in die Leitung von Brechts Theater berufen. In seiner schweren Trauer über die von ihm vorausgesagten Ereignisse wurde er noch einmal ein Regisseur bedeutender Inszenierungen. Es wurden Abgesänge, Abschiedsbilder. Sein "Hamlet" mit Ulrich Mühe, sein "Mauser", selbst noch einmal sein "Lohndrücker" von ehedem sind als Wegmarken nicht zu vergessen.

    Im Vergehen hatten die freigewordenen Kräfte der DDR noch einmal Hohe Zeit. Doch Heiner Müllers Versuch, Ost und West an einem Theater, im Hause Brechts am Schiffbauerdamm, zusammenzuführen, schlug fehl. Den zurückgekehrten Peter Palitzsch, den Westler Peter Zadek, den DDR-Flüchtling Einar Schleef und ihn selbst, Heiner Müller, in gemeinsamer Arbeit zu binden und ein führendes Theater aufzubauen, war ihm nicht möglich. Zu disparat waren die Vorstellungen, zu gereizt die Situation im Haus, zu unklar, was werden konnte und sollte. Die Neuordnung im Theater brauchte Zeit. Heiner Müllers Tod im Jahre 1995 bezeichnete im Nachbeben des sozialistischen Zusammenbruchs das Ende des ernsten DDR-Theaters.

    Frank Castorf betrieb das Nachleben: Er machte die Satyrspiele auf das System und zeigte dem Westen die Lust an der Frechheit, der Freiheit, am Spaß im Totentanz. Er führte vor ein von den Konventionen, den Rücksichten, den Kunsterwartungen befreites Theater. Christoph Marthalers großer Abgesang auf die DDR "Murx, Murx den Europäer" wurde an seinem Theater erarbeitet. Und Castorfs Inszenierungen wie die "Rheinischen Rebellen" von Arnold Bronnen, seine hinreißende Mixtur von "Pension Schöller" mit Texten von Heiner Müller oder das ironische Spiel mit Honecker auf dem Sofa in "Golden fließt der Stahl": das waren Erinnerungen und Übergänge bis in die zersetzende Bravour von Zuckmayers "Des Teufels General".

    Hier wurde die Zerstörung des bürgerlichen Theaters und seiner kleinbürgerlichen sozialistischen Spielart mit Lust betrieben - Castorfs Klassiker-Inszenierungen der "Räuber" und des "Lear" belegten es. Die einst verehrten Stücke zerrannen auf der Szene, man erlebte das Zerbröseln oder An-die-Wand Knallen von Texten und Figuren. Was man in den Inszenierungen im Westen nicht spürte: hier war explosive Energie, die junge Leute anzog, die ins Theater als einer freigewordenen Szene wollten.

    Spiellust, Schauspieler und Phantasie reichten Castorf aus für seine Polemik gegen alles Etablierte. Er machte das Chaos zu seiner Form: Off-Theater in höchster Potenz am besten Platz.

    Castorfs Theater wirkte weit in den Westen und traf sich dort mit den Tendenzen der Off-Szene, ihrer freien Erfindungskraft, ihrem Durchsetzungselan, ihrer Grimmig- und Deftig- und Saftigkeit und ihrem unverhohlenen sozialen Groll. Es traf sich mit ihren Intentionen zum Abbau der literarischen Kultur, des Bildungswillens, der geistigen Zielsetzungen, die vor fünfzig Jahren - im Theater von Gründgens, Karl Heinz Stroux oder Hans Schalla - noch Maxime des Inszenierens waren. Und es traf sich im Abbau aller Tabus, die in Begriffen wie Takt, Persönlichkeit, Rücksicht, Freundlichkeit, Konversation und Gespräch noch erhalten waren.

    Die Freisetzung sexueller Zeichen und Gebärden, die Entblößung der Körper, die Enthemmung der Sprache, die Neigung zu Obszönität, Brutalität, zu roten Blutorgien, zu Schreien und Brüllen, zu exzessiven Gebärden, Läufen, zu Musik-, Fernseh- und Videoeinspielungen gehören heute zum Arbeitsmaterial der nachrückenden jungen Regisseure. Es gab jetzt schnellere Aufstiege aus dieser Szene ins etablierte Theater wie die von Stefan Bachmann oder Albrecht Hierche, Volker Lösch, Lars-Ole Wallburg und René Pollesch. Sie drangen mit ihren Inszenierungen zum Teil bis in die strenge Auswahl des Berliner Theatertreffens vor. Das Off-Theater hat heute das Stadttheater erobert und mischt sich mit den Resten der bürgerlichen Überlieferungen.

    Für die Übernahme dieser aufstörenden Arbeitsmethoden und Mittel gibt es freilich Begründungen aus der Wahrnehmung der Wirklichkeit: dem Menschenschlachten ringsum, dem Bildterror der Medien, der Talkshows, in denen die Probleme eher zersprochen als begriffen werden. Und noch immer spürt man die Lust am Abbau einst großer oder schöner Figuren und den Kampf gegen die Traditionen: So trifft man auf Goethes Klärchen als Hürchen mit zerrissenen Strümpfen, Egmont: ein Irgendwer, der Prinz von Homburg: ein Prolet. Es gibt bei etlichen Regisseuren noch immer Freude und Genuss am Verkleinern, am Herabsetzen edler Figuren. Und in der Regie den Abbau der sich steigernden dramatischen Strukturen. Für den Antrieb, etwas "Besonderes" zu machen, sind die alten Formen nur Hemmung, die neuen steigern die Energie.

    Der Ende der neunziger Jahre schnell durchgesetzte Begriff vom "Postdramatischen Theater" ging aus von der Erkenntnis, dass das zeitgenössische Theater sich nicht mehr aus dem Aufbau und der Steigerung eines Dramas entwickelt. Denn - anscheinend und angeblich - gibt es keine dramatischen Lebensabläufe in dieser polyphonen Gesellschaft mehr, die sich - wie einst Götz von Berlichingen oder auch Woyzeck - zum Inbild ihrer, unserer Zeit steigern lassen. Es werden keine Dramen, es werden höchstens stückähnliche Texte geschrieben. Textflächen nennt man die der Elfriede Jelinek, die das Theater als Theater, in seiner Erfindungskraft für Bilder und Bewegungen, herausfordern. Da ist nicht mehr Sprache und Gestalt und Handlungsaufbau das Maßgebende, sondern die szenische Phantasie des Regisseurs.

    Auch dieses Verfahren hat große Abende des Theaters zustande gebracht, bei Robert Wilson und Schleef, bei Castorf und Marthaler. Voraussetzung des Gelingens war da immer die Beherrschung und Ordnung der neuen Mittel zum sprechenden, eindringlichen Bild durch ein künstlerisch geprägtes und denkendes Ingenium. Aber wer erfüllt diese Voraussetzungen eben unter dem Nachwuchs?

    Michael Thalheimers Inszenierungen kommen ihnen noch am nächsten. Sie bestehen aus Textkonzentrationen, Texterlebnissen und strengen, formalisierten Bewegungen der Figuren. Doch diese Figuren verkörpern keine Personen, schon gar keine Schicksale mehr, sondern sind Vollstrecker des Inszenierungsablaufs. Umfassende Intensität macht hier die Wirkung, der exakte Vollzug des hochkalkulierten Schemas die Spannung. Und die auch optische Entfernung der Texte aus unserem Bewusstsein berührt unser ästhetisches Gefühl.

    Nein, Dramen werden heute nicht mehr geschrieben, aber den dramatischen Akt kann das Theater auch heute noch hervorbringen. Er besteht in der entschlossenen Konfrontation des konzentrierten, streng geformten szenischen Gebildes gegen die lax gewordenen Erwartungen des Publikums.

    Thalheimers Wirkungen entspringen dieser Konfrontation. Die alten Texte bietet er nur noch als Erinnerung, als Abläufe. "Faust" lässt er zitieren und baut die Figuren zu bewegten oder statischen Gruppenbildern zusammen, dies freilich vortrefflich. Aber auch diese Schaustellungen rutschen weg in eine Kategorie, die sich gegen das dramatische Theater entwickelt hat und das Feld mehr und mehr beherrscht.

    Darum geht ein Begriff um, der alles auffrisst: Im Weggleiten der Traditionen wird alles zur "Performance". Zur Vorstellung der schweifenden, bildnerischen Phantasie. Sie ist entwickelt worden, als die bildende Kunst in Bewegung zu kommen versuchte, Raum um sich bildete, Körper benutzte und Bewegungen für neuartige Expressionen der Phantasie erfand und Konstellationen suchte, die ihren fremden Reiz aus dem Gegensatz zur trivialen Wirklichkeit zogen. So wie die Pop-Konzerte eine eigene szenische Dynamik entwickelten, so entfaltete die Performance-Bewegung ihre eigene theatralische Energie.

    Bedeutung und Erkenntnis, Ergriffenheit und Erschütterung zu erreichen, zählten einst zu den Tugenden des Theaters. Sie verloren sich in den beschriebenen Aggressionen und Verzichten im torkelnden, suchenden Theater nach der Wende. Performance ist nun der kleinste gemeinsame Nenner für den Synkretismus, für die ineinander strömenden Bewegungen und Erfindungen aus der Hoch- und der Untergrundkultur, die wir derzeit auf dem Theater erleben.

    Was dort geschieht, ist am Schicksal des Brechtschen Werks am deutlichsten zu sehen. Brecht schrieb die letzten großen Dramen für das Theater. Neue Stoffe und Themen waren hier mit Schicksalsbildern von Menschen und dem gesellschaftlichen Gestaltungswillen des Dichters verbunden. Sie definierten Raum und Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und das gesellschaftliche Gefüge des gezeigten Vorgangs.

    "Die Heilige Johanna der Schlachthöfe" "Mutter Courage", " Galileo Galilei": Diese Stücke, diese Dramen erschienen einst als Modelle zukünftigen Theaters. Die vielen Brechtaufführungen des letzten Jahres bedienten nur die Erinnerung an den 100. Geburtstag dieses Dichters, der das dramatische Theater in ein episches verwandeln wollte. Aber die neuen Aufführungen erschlossen keinen neuen Zugang zu seinem großen Werk. Es wurden eher Tests, ob das Werk noch sein Publikum fände. Das Publikum kam und hält sich daran fest als den letzten großen Beispielen des Theaters. Brecht aber erscheint von den Inszenierungen heutiger Regisseure her gesehen, nicht mehr als der Anfang einer Epoche wie einst: Brechts Werk erscheint nun als das Ende der Epoche bürgerlichen Theaters, die mit Ibsens sozialkritischen Stücken begann.

    Thalheimers Inszenierung von Brechts "Puntila" belegte die Auszehrung: Kein Ort, keine Zeit, kein Gestern und Heute, nichts mehr von Herr und Knecht, von Klassenkampf oder gar von Psychologie. Dafür Bewegungsvollzüge von Einzelnen und Gruppen in einem Kunstraum, präziser Rhythmus, Kunst der Beleuchtung, ästhetisch ein Genuss. Das Leben: ein perpetuum, ein immer wiederholbares Geschiebe ohne Sinn? In diesen Inszenierungen stehen wir vor den Stücken wie Fremde, Verlorene und reproduzieren nur noch die Erinnerung an sie.

    Vernehmen wir aus der "Orestie" des Aisschylos nur noch das Schreien der Körper und des Blutes? Sehen wir den "Prinz von Homburg" nur noch durch den Regenvorhang, den Armin Petras, einer der unruhegetriebenen Regisseure aus dem Ost-Theater, fast zwei Stunden lang, die Schauspieler nässend, vor Kleists Dichtung hängte?

    Durch die Reduzierung der Stücke auf absolute Gegenwartsnähe, auf ein Bild äußerster Subjektivität verliert das Theater, was es durch die seit den Tagen Lessings vergangene Zeit für sich gewinnen konnte: geschichtliche Dimension. Alte Stücke bewahren alte Zeit in sich, bewahren das vergangene Leben, Denken und Handeln von einst, das doch nicht beispiellos ist für uns.

    Der Verlust an historischem Sinn hat ja viele Bereiche unseres kulturellen Lebens erfasst. Die Theater zeigen es ganz direkt und trivial. Die Kostüme verschwinden und die Interieurs. Die Kleider von der Stange, die Kaufhausware (selbst wenn sie noch in Werkstätten geschneidert wird), der Gammellook bestimmen die Szene, die Szenarien werden durch die entleerten Bühnengehäuse ersetzt (und dies nicht nur aus Ersparnisgründen).

    Die Zeitmaschine, die das Theater doch ist, weil es vergangene Zeiten durch die erinnernde Phantasie ins Leben zurückholen kann, gerät außer Dienst. Als wäre es keine Erkenntnis wert, wie und mit welchen Problemen andere gestern, vorgestern, einst gelebt haben, und wie die Probleme oft noch immer die unseren sind. Auch die Tiefe der Zeit enthält Schrecken und Erkenntnis für uns. Daran muss man heute erinnern, weil die Tendenz zur Oberfläche und Oberflächlichkeit auch das Theater erfasst hat, obwohl ihr vom Theater her zu begegnen wäre.

    Zu fürchten ist, dass solche Erinnerung schnell wieder mit dem Wort "reaktionär" weggeworfen wird. Dabei wäre sie nur eine Reaktion auf den aktuellen Prozess des Ausstoßens der Zeit aus dem Theater.

    Freilich: Auch im Theater geschieht nichts ohne Grund. Es ist erfasst von der Effektivität des Augenblicks, die den Alltag beherrscht. Aber das Theater besteht nicht nur aus Gegenwart, nicht nur aus Augenblicksarbeit. Wer sich in seiner Arbeit und wer durch seine Arbeit daran erinnert - Peter Stein oder Claus Peymann etwa - erscheint heute vielen Jungen als uralt, als längst überholt. Das darf nicht verstören. Erinnerung gehört zur Dialektik des aktuellen Theaters. Sie enthält den Widerspruch gegen die unbekümmerte Suche nach Wirkung und Selbstgefälligkeit.

    Wir leben im Wechsel der Epochen. Schauspieler, die in der vergehenden Epoche, wohl der letzten des bürgerlichen Theaters, Hauptkräfte waren, spüren die Härte des Wechsels. Einer von ihnen, Udo Samel, sagte jüngst: " Ich erlebe gerade, dass eine neue Generation dabei ist, mich zu überholen, auf einer Spur, die nicht meinen Idealen entspricht. Auch für uns ist ein Jahrhundert vorüber. Auch ich suche das Neue nicht abrupt, sondern eher vorsichtig." Sein "auch ich" heißt: es geht den anderen nicht anders.

    Jeder Wechsel braucht Geduld und Vertrauen. Vier Mal haben im letzten Jahrhundert Wechsel zu großem Theater geführt. Nach Ende des Ersten Weltkriegs im "Expressionismus", in den ungestümen Zwanziger Jahren, nach dem Zweiten Weltkrieg und in den Siebziger Jahren, als neue Themen und neue Formen sich ein neues Theater schufen.

    Jedes Mal war geistige Leidenschaft der Antrieb, formulierten sich schnell mit den neuen Themen auch die Ziele. Noch warten wir darauf, dass auch der Wechsel dieser Jahre getrieben ist von geistiger Leidenschaft, und dass er sich an den Zielen erkennt. Derzeit spüren wir nur die Unruhe, die Unrast des Suchens, den Fleiß, aber auch die Not. Immer waren die Wechsel von starken Autoren, starken Stücken begleitet. Wir haben heute zwar oft gespielte, aber keine führenden, Themen setzenden Autoren auf dem Theater.

    Der Mangel begründet die sich häufenden Rückgriffe auf die Stücke der fünfziger Jahre, die von der Theaterrevolte von 1968 alle verworfen wurden. "Hexenjagd", "Tod eines Handlungsreisenden", "Eines langen Tages Reise in die Nacht", "Trauer muss Elektra tragen". Arthur Miller und O'Neill sind wieder in den Spielplänen, Tennessee Williams und Edward Albee ebenso. Noch sehen wir darin kein Zeichen der Stabilisierung, der Reorientierung: zurück zum dramatischen Stück. Wohl aber eines für ein Nachdenken, wie und wohin es gehen kann und soll.

    Ein pures "Zurück" gibt es nicht im Theater. Wir haben aus der Diktatur die Erfahrung, wohin es führt, wenn es verlangt wird: in die sterile Schaustellung. Also bleibt uns nichts als die Neugier der Jungen und der Mut der Älteren, ihnen zu antworten aus ihrem Begriff von Theater. - Und die Hoffnung auf eine Theaterkritik, die nicht nur beschreibt, was sie sieht, sondern diese Spannung aufnimmt, stützt und auch bedenkt, was zu sehen sein sollte in einem Theater, das uns wirklich packt und angeht.