Freitag, 19. April 2024

Archiv

Die Zukunft der Orthodoxie
Kirchen zwischen Erstarrung und Aufbruch

Das panorthodoxe Konzil sollte ein Zeichen für die Einheit der orthodoxen Kirchen setzen. Stattdessen hat die Versammlung auf Kreta im Sommer 2016 Differenzen offengelegt. Landeskirchen sind zerstritten, theologische Probleme können nicht einmal diskutiert werden. Kritiker sagen: Die Orthodoxie ist unfähig, sich der modernen Welt zu öffnen.

Von Benedikt Schulz | 15.03.2017
    Auf ein gemeinsames Zeichen der orthodoxen Einheit hofft man beim panorthodoxen Konzil auf Kreta.
    Nach dem panorthodoxen Konzil auf Kreta: Wo stehen die orthodoxen Kirchen heute? (Deutschlandradio / Andreas Main)
    "Das Heilige und Große Konzil der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche stellt ein authentisches Zeugnis des Glaubens an Christus dar, den Gottmenschen, den einziggezeugten Sohn und Logos Gottes."
    Elias Kattan:
    "Ich denke die meisten Dokumente des Konzils werden bedeutungslos bleiben für die orthodoxen Christen."
    Constantin Miron:
    "Das Konzil ist natürlich ein Prozess gewesen, schon in der Vorbereitung."
    Thomas Bremer:
    "Ich glaube, dass die Dokumente, die es gibt, gewisses Gewicht haben."
    Juni 2016. Zum ersten Mal in der Geschichte der Orthodoxie sollen alle 14 autokephalen, also alle eigenständigen und unabhängigen Kirchen zu einer Synode zusammenkommen. Aber das panorthodoxe Konzil auf Kreta steht kurz vor dem Scheitern - dabei hat es noch nicht einmal begonnen.
    "Wir müssen reden. Die Lage um das panorthodoxe Konzil ist verfahren."
    Kyrill I., Moskauer Patriarch spricht zu den Mitgliedern des Heiligen Synods, der russisch-orthodoxen Kirche.
    Wladimir Putin und der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche Kyrill
    Der russische Präsident Wladimir Putin und der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche Kyrill im Juli 2013 in Moskau. (picture alliance / dpa / Foto: Sergey Guneev)
    "Uns ist zu Ohren gekommen, dass bestimmte Kirchen nicht teilnehmen werden. Sie haben die vorbereiteten Dokumente heftig kritisiert. Wir müssen eine schnelle Entscheidung treffen."
    Drei der 14 autokephalen Landeskirchen hatten ihre Teilnahme abgesagt, die bulgarisch-orthodoxe Kirche, das Griechisch-orthodoxe Patriarchat von Antiochien und die Georgisch-orthodoxe Apostelkirche. Hilarion Alfejew, als Außenamtsleiter des Moskauer Patriarchats, eine Art Außenminister erklärt kurze Zeit später:
    "Wir haben heute entschieden, wenn diese Kirchen nicht kommen wollen, dann können auch wir nicht teilnehmen. Denn ein solches Konzil wäre nicht mehr panorthodox. Consensus wäre so unmöglich. Das Konzil muss verschoben werden, das ist die einzige Lösung. Dies werden wir dem Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomaios vorschlagen."
    100 Jahre Vorbereitung
    Aus orthodoxer Sicht ist es das erste Ökumenische Konzil seit dem Zweiten Konzil von Nicäa im Jahr 787 - und es findet statt mit Vertretern von zehn, statt 14 Landeskirchen. Die Absagen, so kurz vor dem Konzil - und das nach einer jahrzehntelangen Vorbereitungszeit - kamen überraschend. Die Begründung: Die Geschäftsordnung des Konzils sei mangelhaft, außerdem gab es starke Bedenken gegen die Texte, die auf dem Konzil verabschiedet werden sollten.
    "Das, was jetzt stattgefunden hat, wäre natürlich noch besser gewesen, wenn alle dagewesen wären, aber es ändert nichts an der Qualität des Konzils. Es ändert auch nichts daran, dass ein Rezeptionsprozess stattfinden muss."
    Constantin Radon Miron ist Erzpriester des Ökumenischen Patriarchats in der Kölner Gemeinde "Entschlafung der Gottesmutter", außerdem Beauftragter der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland für zwischenkirchliche Beziehungen. Vor allem hat Miron hat am Konzil teilgenommen - als Berater des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel.
    "Es klingt unglaublich, aber es ist so, dass die Vorbereitung dieses Konzils genau hundert Jahre gedauert hat, und dass die heiße Phase etwa 50 Jahre gedauert hat, seit Beginn der 60er Jahre, als es ein politisches Tauwetter gab, als die Sowjetunion sich nach außen öffnete und die Kirchen des damaligen sowjetischen Blocks über ihre Grenzen schauen konnten. Und damit ist ja auch schon angedeutet, dass die Kirche immer in einem, nie im luftleeren Raum lebt. Und so schön die Vision war, wir können mal etwas sagen als Kirche, ohne drauf zu achten, was um uns herum passiert, so unmöglich hat sich das erwiesen."
    Differenzen für alle sichtbar
    Denn eigentlich sollte das Konzil vor allem eines: ein sichtbares Zeichen der Einheit der Weltorthodoxie setzen - stattdessen hat die Versammlung auf Kreta Probleme und Differenzen in der orthodoxen Welt für alle sichtbar offengelegt. Assad Elias Kattan:
    "... dieses Problem, eine latente Konkurrenz zwischen dem Patriarchat von Konstantinopel und dem Patriarchat von Moskau."
    "Wir folgen in jeder Hinsicht den Entscheidungen der heiligen Väter und entscheiden dasselbe auch unsererseits über die Vorrechte der heiligen Kirche von Konstantinopel, dem Neuen Rom. Denn dem Stuhl des Alten Rom haben die Väter begreiflicherweise die Vorrechte zugestanden, weil jene Stadt Kaiserstadt war. Aus demselben Beweggrund haben die 150 gottgeliebten Bischöfe die gleichen Vorrechte dem Heiligen Stuhl des Neuen Rom zugesprochen, denn sie ist die zweite nach jener." (Kanon 28 aus den Kanones des Konzils von Chalcedon aus dem Jahr 451.)
    Der Erzbischof von Konstantinopel und ökumenische Patriarch Bartholomäus I. im Präsidentenpalast in Budapest/Ungarn am 3. März 2014.
    Bartholomaios I., Ökumenischer Patriarch und Ehren-Oberhaupt aller orthodoxen Christen (AFP PHOTO / ATTILA KISBENEDEK)
    Konstantinopel, das heutige Istanbul, ist der historische Mittelpunkt der Orthodoxie, gewissermaßen der Vatikan der Orthodoxen, auch wenn der Vergleich hinkt.
    "Da die orthodoxen Kirchen keine eucharistische Gemeinschaft mit Rom haben ist der Primus bei den Orthodoxen, also der Erste unter diesen Bischöfen, ist der Patriarch von Konstantinopel. So sind die Kanones. Und das ist kein Geheimnis, dass das Patriarchat von Konstantinopel eine maximalistische Interpretation hat und dass das Patriarchat von Moskau eine minimalistische Interpretation dieses Primats hat."
    Wer führt die Orthodoxie?
    Assad Elias Kattan ist Professor für orthodoxe Theologie. Der im Libanon geborene Wissenschaftler arbeitet am Centrum für religionsbezogene Studien der Universität Münster.
    Die Frage ist: wer führt die Orthodoxie? Sie hat nichts mit dem Primat des Papstes in der katholischen Kirche vergleichbares. Der Patriarch von Konstantinopel, Bartolomaios I. ist zwar primus inter pares; und er trägt seit dem frühen 6. Jahrhundert den Titel Ökumenischer Patriarch, doch mehr als ein Titel ist das nicht. Die russisch-orthodoxe Kirche dagegen vereint mit Abstand die meisten Gläubigen, etwa die Hälfte aller orthodoxen Christen weltweit – doch in der Rangfolge steht Moskau an fünfter Stelle.
    "Dieses latente Konkurrenzverhältnis zwischen Moskau und Konstantinopel, das muss endlich mal beendet werden. Mittlerweile sieht es ein bisschen wie ein Kinderspiel aus."
    Spaltung der orthodoxen Welt?
    Beobachter sprechen inzwischen von einer Spaltung der orthodoxen Welt in einen slawisch und einen griechisch-hellenisch orientierten Teil. Dazu passen auch diese Gerüchte: Die vermeintlich russlandhörigen Kirchen Antiochien, Bulgarien und Georgien hätten mit ihren Absagen nur einen Vorwand für das Moskauer Patriarchat liefern sollen, ebenfalls dem Konzil fernzubleiben – und damit dem Ökumenischen Patriarchen zu schaden.
    Verlaufen die Frontlinien in der Orthodoxie tatsächlich so eindeutig? Viel spricht dafür, dass alles noch komplexer ist. So streitet das griechisch-orthodoxe Patriarchat von Antiochien erbittert mit dem Jerusalemer Patriarchat. Es geht um die Jurisdiktion über die orthodoxen Christen in Katar. Die orthodoxe Kirche Griechenlands steht in beinahe traditioneller Feindschaft zum Patriarchat von Konstantinopel, und die serbisch-orthodoxe Kirche wird zwar zur slawischen Welt gezählt, hat aber enge Verbindungen zu Griechenland.
    Gelähmte Orthodoxie
    Die orthodoxe Welt ist widersprüchlich: Einerseits das Pochen der autokephalen Kirchen auf ihre, oft entlang nationaler Grenzen bestehende Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. Eine Autonomie, die kein Eindringen anderer orthodoxer Kirchen in den eigenen Hoheitsbereich duldet. Andererseits das gemeinsame Bewusstsein, einer einheitlichen Kirche anzugehören, einig in Glauben, Liturgie und Kirchenrecht, die als einzige für sich den Begriff Kirche in Anspruch nehmen darf. Dieser Widerspruch lähmt die Orthodoxie meint Kattan:
    "Die orthodoxen Kirchen führen sich selbst, sie sind autonom, oder autokephal, aber immerhin bräuchten wir auch innerhalb der Orthodoxie eine Person, einen Patriarchen, ein Kirchenoberhaupt, das eine Koordinationsrolle spielt, das sich irgendwie einschaltet, wenn Probleme auftauchen unter den Orthodoxen."
    Filaret Denyssenk, Patriarch der "Ukrainisch-Orthodoxen Kirche - Kiewer Patriarchat", segnet im Herbst 2014 Mitglieder des ukrainischen Battalions Zolotye Vorota in einem Trainingslager der Nationalgarde nahe Kiew.
    Filaret Denyssenk, Patriarch der "Ukrainisch-Orthodoxen Kirche - Kiewer Patriarchat", segnet im Herbst 2014 Mitglieder des ukrainischen Battalions Zolotye Vorota in einem Trainingslager der Nationalgarde nahe Kiew. (picture alliance / dpa / Tatyana Zenkovich)
    Eine besonders kritische Frage wurde deshalb auf Kreta gar nicht erst gestellt. Wer verleiht die Autokephalie, also die Eigenständigkeit einer Kirche? Denn es gibt keine Entscheidungsinstanz. Gerade an der Frage der Autokephalie lässt sich zudem beobachten, wie sehr in der orthodoxen Welt, in der die Kirchen oft Nationalkirchen sind, Politik und Religion ineinandergreifen – Stichwort Ukraine.
    Ukraine contra Russland - auch auf Kirchenebene
    Das orthodoxe Interessengeflecht dort ist derzeit kaum zu entwirren. Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats ist autonom aber nicht eigenständig, und sie wird von allen 14 autokephalen Kirchen anerkannt. Dann aber gibt es noch die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats. Die hat sich nach dem Zerfall der Sowjetunion von Moskau für unabhängig erklärt, ihr Führer wurde von Moskau exkommuniziert. Und schließlich gibt es noch eine dritte ukrainisch-orthodoxe Kirche, die ebenfalls nicht anerkannt ist und dem Patriarchat von Konstantinopel nahestehen soll.
    Somit gibt es in der Ukraine nur eine anerkannte orthodoxe Kirche, die zum Moskauer Patriarchat gehört - mit Patriarch Kyrill an der Spitze. Er gilt als enger Vertrauter des russischen Präsidenten Putin. In der aktuellen Gemengelage in der Ukraine bekommt die Frage nach kirchlicher Eigenständigkeit also eine politische Dimension.
    Im Juli 2016 marschieren mehrere tausend orthodoxe Gläubige im Rahmen eines so genannten Friedensmarsches durch die Ukraine in Richtung Kiew. Eine Aktion, die offenbar vom russischen Patriarchen gefördert wurde, die aber nach Meinung vieler ukrainischer Politiker vor allem für Chaos in Kiew sorgen soll.
    "Wir müssen sie davon abhalten, nach Kiew zu kommen, die sind da nur auf Ärger aus."
    Noch vor dem Konzil hatte das ukrainische Parlament in Kiew den Ökumenischen Patriarchen darum gebeten, die drei ukrainischen Kirchen miteinander zu vereinen und sie für unabhängig zu erklären. In Konstantinopel hieß es, die Frage solle wohlwollend geprüft werden – ein Affront gegen den Moskauer Patriarchen und dessen Interessen in der Ukraine. Eine Ankündigung ohne Folgen, meint Thomas Bremer, Professor für Ökumene und Ostkirchenkunde an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Münster.
    "Momentan gibt es niemanden, der diese Frage, außer Politikern in der Ukraine, der diese Frage ernsthaft stellt, und wenn das Ökumenische Patriarchat Jurisdiktion beanspruchen würde und zum Beispiel die Ukraine für autokephal erklären würde, dann wäre das der Casus Belli. Dann würde das wirklich die Einheit der Orthodoxie zerbrechen, und ich sehe nicht, dass das irgendjemand will."
    Die Diaspora - ungelöste Frage auch auf Kreta
    Eine zentrale Frage, die auf Kreta ebenfalls ungelöst blieb: die Diaspora. Wer ist zuständig für die vielen orthodoxen Christen, die nicht in den traditionellen orthodoxen Gesellschaften leben? In vielen typischen Diaspora-Ländern existieren mehrere orthodoxe Gemeinschaften nebeneinander in ein und derselben Stadt. Nach orthodoxem Kirchenrecht ist das eigentlich ausgeschlossen. Ein Problem für die Integration, sagt Assad Elias Kattan.
    "Solange die orthodoxen Kirchen in der Diaspora sich als rumänisch-orthodoxe, oder als griechisch-orthodoxe, als arabisch-orthodoxe oder als russisch-orthodoxe Kirche verstehen, dann werden sie ihre Liturgie nicht in der Muttersprache des Landes, sondern in den Sprachen der Herkunftsländer halten - und das ist problematisch für die jüngeren Generationen. Was man ja machen kann, ist eine Art Roadmap für die Zukunft zu entwerfen, und theologisch und jurisdiktionell das zu ermöglichen, dass so etwas entstehen kann. Und gerade das ist in Kreta nicht passiert."
    Der erste syrisch-orthodoxe Kirchentag in Deutschland wurde am Sonntag (17.05.15) in der Klosterkirche im nordrhein-westfaelischen Warburg mit einem Gottesdienst beendet. Der Abschlussgottesdienst wurde vom Oberhaupt der Kirche, Ignatius Aphrem II. Karim aus Damaskus, zelebriert. Die dreitaegige Zusammenkunft auf der Anlage des Warburger Klosters mit Gottesdiensten, Vortraegen und spirituellen Veranstaltungen hatte am Freitag begonnen. Die syrisch-orthodoxe Kirche zaehlt zu den aeltesten Kirchen weltweit. In Deutschland hat sie nach eigenen Angaben etwa 100.000 Glaeubige in rund 60 Gemeinden.
    Diaspora: der erste syrisch-orthodoxe Kirchentag in Deutschland im Mai 2015 (imago / Friedrich Stark)
    Die Diaspora ist für die Orthodoxie von großer Bedeutung: In der Vergangenheit kamen die kritische Impulse, die die orthodoxe Theologie erneuert haben, fast immer aus den Diaspora-Gesellschaften, vor allem aus den USA, aber auch aus Frankreich.
    Für Deutschland erhofft sich Konzilsteilnehmer Miron irgendwann eine deutsch-orthodoxe Kirche. Aber das kann dauern.
    "Wobei Sie ja merken, an den Jahren der Konzilsvorbereitung, dass die Orthodoxen einen anderen Umgang mit der Zeit haben."
    Die Moderne - zentrale Herausforderung für orthodoxe Kirchen
    Viele Fragen sind offen. Wem würde eine deutsch-orthodoxe Kirche unterstehen? Oder wer würde ihr die Eigenständigkeit verleihen – darauf haben die Bischöfe auf Kreta keine Antwort gefunden.
    Doch die möglicherweise wichtigste Herausforderung, der sich die orthodoxen Kirchen der Gegenwart stellen müssen, ist die Gegenwart selbst. Thomas Bremer von der Uni Münster:
    "Also die orthodoxe Kirche lebt in der Moderne, ob sie das will oder nicht, sie kommt überhaupt nicht drum rum. Und es gibt zwar Leute, die sagen, die Moderne sei ein westliches Konzept und da wolle man sich nicht beteiligen. Aber das ist ein bisschen so, als wenn man sagt, ich beteilige mich nicht am Wetter."
    Vergleiche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil
    Im Vorfeld des Konzils wurden immer wieder Vergleiche angestellt mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, auf dem die katholische Kirche vor rund 50 Jahren den Anschluss an die Moderne gesucht hat und in Dokumenten wie "Dignitatis humanae" die Religionsfreiheit des Menschen anerkannt hat. In der erst während des Konzils verfassten Erklärung "Gaudium et spes", betonte man die Notwendigkeit des Dialogs der Kirche mit der Welt der Gegenwart. Die orthodoxen Bischöfe auf Kreta haben Ähnliches versucht.
    "Durch die gegenwärtige Entwicklung von Wissenschaft und Technologie ändert sich unser Leben radikal…"
    Aus der Enzyklika des Heiligen und Großen Konzils der orthodoxen Kirche.
    "Und was eine solche Änderung im Leben des Menschen mit sich bringt, erfordert von seiner Seite Besorgnis, da abgesehen von den offenkundigen Wohltaten wie einer Erleichterung des alltäglichen Lebens, erfolgreichen Behandlungen schwerer Krankheiten und der Erforschung des Weltalls wir auch mit negativen Folgen des wissenschaftlichen Fortschritts konfrontiert werden. Unglücklicherweise besitzt die Wissenschaft ihrer eigentlichen Natur nach nicht die notwendigen Mittel, um viele der Probleme, die sie direkt oder indirekt schafft, zu verhindern oder anzugehen."
    "Also der Duktus dieses Dokuments ist sehr, sehr besserwisserisch, hier haben wir das Bild einer Kirche, die im Grunde genommen alles weiß."
    Verpasste Chancen
    Für den orthodoxen Theologen Assad Elias Kattan ist die Enzyklika eine verpasste Chance des Konzils.
    "Was ich in diesem Dokument vermisse, ist einfach die Bereitschaft zu sagen: Wir haben das und das und das von der Welt gelernt. Die Enzyklika ist sehr problematisch an einigen Stellen. Es gibt einen Versuch, die Rechte des Individuums und die Rechte des Kollektivs oder der Gemeinschaft gegeneinander auszuspielen."
    Die sechs Hauptdokumente des Konzils sollten - nach jahrzehntelanger Vorbereitung - auf Kreta im Prinzip nur noch durchgewinkt werden. Diskussion unerwünscht. Beim Zweiten Vatikanischen Konzil war das anders. Der Ostkirchenexperte Thomas Bremer:
    "Man wollte von dieser Idee, Einheit zu demonstrieren, davon wollte man möglichst wenig dem Zufall überlassen. Und das hat dann eben zur Folge gehabt, dass es zum Beispiel verboten war laut Tagesordnung, Themen überhaupt anzusprechen, die nicht vorgesehen waren."
    Und: – auch das eine Folge der langen Vorbereitungszeit – die Dokumente waren die Folge einer Agenda, die vor rund fünf Jahrzehnten beschlossen wurde, als die Welt noch eine andere war, ein modernes Konzil mit einer vormodernen Agenda.
    Ein Blick nach vorne
    Wie geht es nun weiter? Die Konzilsdokumente werden nun gelesen, auch in den Ländern, deren Kirchen nicht teilgenommen haben. Das Moskauer Patriarchat hat angekündigt, die Beschlüsse zu prüfen, hat aber in einer ersten Stellungnahme darauf verwiesen, sie könnten nicht verbindlich sein, da das Konzil ja nicht panorthodox gewesen sei, die Versammlung sei lediglich ein "wichtiges Ereignis in der Geschichte des konziliaren Prozesses in der orthodoxen Kirche" gewesen.
    Aber auch von Teilnehmern kam Kritik, unter anderem am Dokument zur Ökumene. Tatsächlich hat sich die Orthodoxie auf Kreta in Sachen Ökumene für ihre Verhältnisse weit vorgewagt.
    "Die Einheit, welcher der Kirche gemäß ihrer eigenen ontologischen Natur eigen ist, kann nicht zerstört werden. Trotzdem akzeptiert die Orthodoxe Kirche den historischen Namen anderer nichtorthodoxer christlicher Kirchen und Konfessionen."
    Aus dem Dokument über die Beziehungen der Orthodoxen Kirche zur übrigen christlichen Welt.
    Die Bischöfe auf Kreta konnten sich also lediglich dazu durchringen: Die anderen Kirchen heißen Kirchen, weil das ihr historischer Name ist, nicht etwa, weil sie echte Kirchen seien. Da war das Zweite Vatikanische Konzil schon 1964 weiter.
    Doch selbst diese höflich-abfällige Formulierung ging manchem orthodoxen Bischof schon zu weit. Etwa Irinej Bulovic, Bischof der serbisch-orthodoxen Kirche in der serbischen Stadt Novi Sad. Er erklärte nach dem Konzil, er habe das Dokument nicht unterschrieben, weil die anderen Konfessionen Sektierer seien.
    Konzil gescheitert? Oder Erfolg?
    Doch es wäre voreilig, das Konzil als gänzlich gescheitert zu bewerten, von vielen Seiten wird es sogar als Erfolg betrachtet. Das Argument: Es sei ein Erfolg, weil es überhaupt stattgefunden hat. Aber, meint der Ostkirchenexperte und katholische Theologe Thomas Bremer:
    "Wenn man sich die katholische Kirche des Jahres 1957 anguckt, dann wäre man auch sehr pessimistisch gewesen und niemand hätte gedacht, was fünf Jahre später stattfinden wird, das Zweite Vatikanische Konzil mit der Öffnung der Welt und so weiter."
    Viele orthodoxe Christen wie Assad Elias Kattan hoffen nun darauf, dass man auf das nächste Konzil nicht wieder mehr als tausend Jahre warten muss. Einer der Beschlüsse des Konzils sagt, dass in kurzen Abständen weitere Konzilien folgen sollen, alle sieben bis zehn Jahre.
    Sollte es dazu kommen, hätte das weitreichende Folgen. Denn damit würde man langfristig eine den 14 autokephalen Kirchen übergeordnete Entscheidungsinstanz etablieren: das Konzil. Der sich dann - theoretisch - auch die machtbewussten Patriarchen von Konstantinopel und Moskau unterwerfen müssten. Ob und wann es soweit kommt, weiß niemand, und es gibt keinen Anlass zu glauben, dass es ohne große Widerstände passieren wird. Assad Elias Kattan:
    "Ich bin ein optimistischer Mensch und es gibt den schönen Spruch, der soll von Augustinus stammen, dass Gott gerade Zeilen mit krummen Buchstaben schreibt. Ich habe die Hoffnung, dass sich das ändert und was wir jetzt machen, sich kritisch mit Kreta auseinanderzusetzen, ist ja auch ein Beitrag, dass sich die Situation ändert in der Zukunft."