Freitag, 29. März 2024

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"Diese Anzahl ist fatal"

Hansjörg Geiger erschreckt die Zahl der Altnazis, die im Nachkriegsdeutschland beim Bundesnachrichtendienst anheuerten. Dies zeige, dass man damals "bewusst die Augen verschlossen hat". Wie bekannt wurde, will der BND jetzt seine Vergangenheit aufarbeiten.

Hansjörg Geiger im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 20.03.2010
    Jürgen Zurheide: Die Vergangenheit aufzuarbeiten, ist ein ständiges Thema, und bei manchen Organisationen dauert es etwas länger, zum Beispiel beim Bundesnachrichtendienst. Da sind erst jetzt Akten bekannt geworden und öffentlich gemacht worden über die Frage: Wie hat man es denn nach dem Krieg mit jenen gehalten, die vorher schon verstrickt waren im Naziregime. Und die erschreckende Erkenntnis ist wohl, dass ein erheblicher Teil der Mitarbeiter zumindest in den 50er-Jahren verstrickt war. Das alles ist jetzt bekannt geworden, es soll jetzt aufgearbeitet werden, der BND will offener mit seiner Vergangenheit umgehen – das ist zumindest das, was uns inzwischen berichtet wird. Über dieses Thema wollen wir reden mit einem, der selbst Präsident war zwischen 1996 und 1998: Hansjörg Geiger. Er ist jetzt am Telefon im Deutschlandfunk. Guten Morgen, Herr Geiger!

    Hansjörg Geiger: Guten Morgen, Herr Zurheide!

    Zurheide: Herr Geiger, zunächst einmal, es gab ja diese Organisationseinheit 85, die da irgendwann zumindest diskret intern aufgearbeitet hat, was nach dem Krieg passiert ist. Haben Sie eigentlich in Ihrer Amtszeit je von dieser Organisationseinheit gehört, oder war das auch geheim?

    Geiger: Nein, auch davon habe ich nichts gewusst, obwohl der Leiter der Organisationseinheit in meiner Zeit noch im Dienst war, ist darüber nicht gesprochen worden, hat er sich nie mir gegenüber geäußert, dass er da diesen Spezialauftrag hatte. Man sieht doch, die Dinge lagen damals lange schon zurück und sind quasi nicht im präsenten Gedächtnis der Mitarbeiter gewesen.

    Zurheide: Das heißt, auch Sie als Chef wussten nicht, dass da wichtige Dinge passiert sind? Das mutet fast kurios an, aber auf der anderen Seite, Geheimhaltung ist natürlich das oberste Leitprinzip eines Nachrichtendienstes. War denn in Ihrer Zeit überhaupt diese Aufarbeitung und die Frage, waren da möglicherweise Nazis oder Altnazis noch dabei, war das irgendwie je ein Thema?

    Geiger: Es war mir bekannt; als ich den Dienst angetreten habe, da habe ich natürlich versucht, einige Bücher zu lesen, die öffentlich waren, auch die sich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt hatten. Und da gab es immer wieder Hinweise, dass in der Anfangsphase, insbesondere in der Vorphase des Bundesnachrichtendienstes in der Organisation Gehlen wohl, sage ich jetzt mal bewusst, wohl eine Reihe von ehemaligen SS-Leuten und mit dem Nazisystem Verstrickte tätig waren. Was da genau war, war im Dunkeln, und es war klar, dass die gesetzlichen Bestimmungen des Archivrechts es verbieten würden, diese Dinge einem wissenschaftlichen Gremium zur Aufarbeitung übergeben zu können.

    Zurheide: Was natürlich insgesamt problematisch ist, denn jetzt sieht man, dass nach so langer Zeit etwas herauskommt und quasi Amtszeiten noch unter eine Art Verdacht geraten, die möglicherweise nicht unter Verdacht geraten wären, wenn man eher was gewusst hätte. Muss man da vielleicht auch über Fristen mal nachdenken, bei allem Verständnis dafür, dass natürlich Geheimdienste besondere Geheimhaltungen brauchen?

    Geiger: Gut, man muss natürlich eins sagen: Das singuläre Geschehen des Dritten Reiches und diese schrecklichen Verbrechen, die insbesondere unter Ägide der SS gelaufen sind, waren wie ein Unikat, Gott sei Dank, und ich hoffe immer, dass sie weltweit so etwas bleiben. So gesehen kann man aus diesem Schluss vielleicht nicht für künftige Verhältnisse immer gleich eine grundsätzliche Forderung stellen. Aber ich bin – und glaube ich, das ist bekannt – generell jemand, der sich für Transparenz einsetzt, und ich meine auch Transparenz sollte so früh wie möglich einsetzen. Wir sind nur, wenn es um Archivfragen geht, immer mit diesem Konflikt zwischen Persönlichkeitsrechten ganz generell – der Einzelne muss geschützt werden, seine Tätigkeit – und dem Interesse der Öffentlichkeit. Wenn es aber um solche Vorgehen wie hier geht, dann sollte sehr klar sein, dass der Persönlichkeitsschutz nicht in den Vordergrund treten kann, sondern dass das Recht der Allgemeinheit, zu wissen, fast die Pflicht, zu wissen, dem Recht des Einzelnen noch geschützt zu werden vorgeht. Also ich bin der Auffassung, so wie man das jetzt machen will, jetzt müssen die Dinge endgültig klar an die Öffentlichkeit kommen, jetzt darf es keine Zurückhaltung mehr geben. Die Dinge liegen so weit zurück, dass jetzt definitiv die Öffentlichkeit Interesse hat. Und wissen Sie, warum ich auch glaube, warum es so wichtig ist, dass man jetzt endgültig im Detail auch Klarheit schafft? Es geht auch um die Mitarbeiter, die heute im Dienst sind. Die haben einen Anspruch darauf, dass deutlich wird, was früh in der Vergangenheit, in der Frühphase des Dienstes noch war, um deutlich zu machen, dass heute in ganz anderer Ethos da ist, dass diese Schatten der braunen Vergangenheit, die den Dienst in den Anfangsjahren offensichtlich verdüstert haben, dass diese Schatten weg sind, dass es da auch nicht im Ansatz irgendeinen Geist noch im Dienst gibt. Das ist, glaube ich, ganz wichtig. Heute herrscht ein ganz anderer Ethos im Dienst, und man kann sich nur von etwas distanzieren, von dem man auch genau weiß, was gewesen ist.

    Zurheide: Wie wirkt das alles auf Sie, denn ich möchte dazu sagen, Sie selbst sind engagiert beim Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie. Sie setzen sich auseinander a) mit der Nazivergangenheit, aber auch mit dem schwierigen SED-Erbe. Gerade vor dem Hintergrund dieses eigenen, sehr persönlichen Engagements, wie wirkt das auf Sie, wenn Sie dann hören, dass fast zehn Prozent der Mitarbeiter zumindest in der ersten Nachkriegszeit möglicherweise stark belastet waren, so stark, dass man gewiss fragen kann, ob das alles so richtig gewesen ist?

    Geiger: Das ist natürlich erschreckend. Es ist deswegen erschreckend, weil zwar Deutschland diese Verbrecher in seinen Reihen nach dem Zweiten Weltkrieg hatte, aber das waren natürlich nicht zehn Prozent. Und wenn diese schrecklichen Verbrecher in so einem hohen Anteil, nämlich etwa zehn Prozent, an einem Dienst, der für die Sicherheit des Staates eintreten soll, der damit ja auch Rechtsstaat verteidigen soll, tätig sind, dann ist das eine, muss sich sagen, schon erschreckende Zahl. Und das ... wenn Einzelne reinrutschen, ist das schlimm genug, aber diese Anzahl ist fatal und zeigt eben, dass man im Nachkriegsdeutschland an manchen Stellen weitestgehend kritiklos sich mit Mitarbeitern umgeben hat und überhaupt nicht auf deren Vergangenheit geschaut hat, offensichtlich einfach bewusst die Augen verschlossen hat, manches nicht sehen wollte. Und das ist bei einer Organisation wie beim Bundesnachrichtendienst in der Frühphase eben besonders fatal.

    Zurheide: Und deshalb ist er Ihnen auch heute gerade noch wichtig, und das tun Sie in Ihrem Verein zum Beispiel.

    Geiger: Ja, also der Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie will gerade deutlich machen, man muss sich der Vergangenheit stellen, um für die Gegenwart und Zukunft zu lernen. Wir wollen uns, wir müssen uns alle für die Demokratie einsetzen. Demokratie fällt nicht vom Himmel, Demokratie muss täglich neu verteidigt werden, und dazu gehört auch, zu wissen, was kann passieren, wie kann es zu Diktaturen kommen, was geschieht in Diktaturen, was sind dann die Folgen. Und nur, wenn wir uns diese Aufgabe überall stellen in Deutschland und ständig stellen und nicht vergessen und sagen, jetzt ist es lang genug zurück, jetzt hören wir endlich auf, ich kann es nicht mehr hören – mit dieser Einstellung darf man nicht an diese Zeit herangehen, sondern das, was geschehen ist, muss wachgehalten werden. Und dazu gehört natürlich auch, die Wahrheit überhaupt mal erst zu erforschen, wenn sie an manchen Stellen noch gar nicht im Detail an das Licht der Öffentlichkeit geraten ist.

    Zurheide: Ich bedanke mich für das Gespräch. Das war Hansjörg Geiger, der Präsident des Bundesnachrichtendienstes von 96 bis 98 im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Herzlichen Dank, Herr Geiger!

    Geiger: Ich danke Ihnen auch!

    Zurheide: Wiederhören!