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"Dieser Augenblick hat seine Geschichte"

Den 2003 erschienenen Roman "Schnee in den Ardennen" nannte Jürgen Becker im Untertitel einen "Journalroman", 2006 folgten mit "Die folgenden Seiten" "Journalgeschichten" und nun hat der 1932 in Köln geborene Autor ein Buch mit dem Titel "Im Radio das Meer" vorgelegt, das "Journalsätze" versammelt.

Von Joachim Büthe | 13.01.2010
    "Bevor man sich schlafen legt, hört man auf zu sprechen."

    Nicht alle Journalsätze sind so lapidar wie dieser, aber viele von ihnen kreisen um die alltäglichen Verrichtungen, die unser Leben ausmachen. Natürlich gibt es auch andere, die Erinnerungen mischen sich ein und werden zu wenigen Sätzen komprimiert, Geschichten werden angedeutet, aber nicht erzählt, Fundstücke kommen hinzu. Es ist eine Form des Erzählens, die den Raum zwischen den Sätzen miterzählt, der vom Leser mit eigenen Erfahrungen und Erinnerungen gefüllt werden kann.

    Jürgen Becker lotet aus, was man erzählen kann, wenn man fast nichts mehr sagt. In diesem Bereich verschwimmen die Grenzen, und es wird fraglich, was eigentlich ein Ereignis ist. Das Alltagsleben ist vielleicht das Fundament, das dieses Experiment erdet. Aber so sicher ist es auch nicht.

    "Oft bewegt mich die Frage: Was tue ich eigentlich? Wie verbringe ich einen Tag? Und dann stelle ich fest, dass ein Tag aus lauter Banalitäten besteht. Es wäre eigentlich ein verlorener Tag. Es wäre eigentlich ein Tag, über den man kein Wort verlieren könnte. Es sind diese Banalitäten alle notwendig. Sie gehören zum Leben, nur nimmt man sie nicht wahr, man vergisst sie, man lässt sie vorübergehen. Versucht man einmal, sich diese Banalitäten vor Augen zu führen, dann werden sie auf einmal sehr interessant. Dann kann es sein, dass diese Banalitäten sehr absurd sind oder sie haben einen Abgrund oder einen Hintergrund. Es ging mir auch darum, all diesen Augenblicken, diesen banalen Augenblicken, die Bedeutung zu geben, die sie für sich haben."

    "Beim Gang ins Badezimmer bemerkte er in der Wand einen kleinen Nagel. Er überlegte, wann es war, als er das Bild abgehängt hatte."

    Wer sich einlässt auf diese meist unscheinbaren Sätze, bemerkt bald, wie sich der kleine Kosmos weitet in Raum und Zeit. Der Klappentext nimmt Bezug auf Stockhausens 1957 uraufgeführtes Stück "Gruppen für drei Orchester". Drei Orchester mit drei Dirigenten, die miteinander spielen, auch gegeneinander, sich überschneidend. Alles geschieht zur gleichen Zeit und im gleichen Raum. Eine solche Simultanität lässt sich mit den Mitteln der Literatur, auf einem Blatt, nicht herstellen. Aber solche Ereignisse können den Weg weisen zu einem Verfahren, das dem nahe kommt.

    "Das ist nicht Programm meines Buches, nur, ich erinnerte mich daran, wie damals dieses Gefühl für Zeit, für Gleichzeitigkeit in mir wach wurde und das in meinem Schreiben immer eine bestimmte Rolle gespielt hat. Das Arbeiten mit der Zeit, mit der biografischen Zeit, mit der Zeit eines Tages, der kurz sein kann, der unendlich lang sein kann. Ein Tag ist ein Zeitraum, in dem sich sehr viele Tage versammeln, das Vergangene, das Mögliche, das Imaginierte. Dieser Umgang ist hier, beim Schreiben dieses Buches, wieder sehr bestimmend geworden, denn jeder Satz hinterlässt ja eine Spur, wo er herkommt. Die Spur eines Tages, die Spur eines Gedankens, den man hatte, die Spur einer Geschichte, einer nicht erzählten Geschichte. Das kommt entweder aus dem jetzigen Augenblick, dieser Augenblick hat seine Geschichte oder es kommt aus der Erinnerung, die man beim Schreiben entdeckt, oder es kommt aus dem, was man in der Wirklichkeit wahrnimmt, hört, sieht. Und all das führt zu einem imaginären Zusammenhang, der sich nur im Kopf herstellen lässt. Denn nicht immer bilden diese Sätze ja einen Zusammenhang. Es gibt Sätze, die Zusammenhänge suchen und finden, es gibt Sätze, die finden keinen Zusammenhang, und es gibt Sätze, die wollen keinen Zusammenhang finden. Sie stehen für sich."

    "Im Drahtfunk die Luftlagemeldungen. Sie waren zuverlässig. Meldeten sie einen Bomberverband, war er auch bald da."

    Von Beginn an hat Jürgen Beckers Schreibmethode den Charakter eines Journal gehabt. Nicht im Sinne eines linearen Tagebuchs, sondern als ein Verfahren, Bewusstseinsvorgänge und –zustände herzustellen und darzustellen ohne diese Prozesse von vornherein durch die Festlegung auf eine literarische Gattung einzuengen. Nun ist sie bei der kleinsten literarischen Einheit, dem Satz, angelangt. Es geht sogar noch einen Schritt weiter, bis zur Aufzählung von Wörtern, in denen Erinnerungen konserviert sind und die noch einmal festgehalten werden, bevor sie endgültig dem Vergessen nachfolgender Generationen anheim gegeben werden. Diese Konsequenz könnte man als eine Vorstufe des Verstummens deuten, Abgesang, Bestandsaufnahme. Doch eher ist es die Einsicht, dass ein offener Schreibprozess keinen Abschluss finden kann, auch wenn die Motive schon bekannt sind.

    "Das ist jetzt kein Sichten von Beständen, sondern es ist die Frage, was ist da an Beständen überhaupt noch vorhanden? Oder ist sehr vieles übersehen worden, habe ich vieles noch nicht gesagt? Das ist ein merkwürdiger Zustand, das man sich mit sich selbst beschäftigt, vor allem mit Erinnerungen, die immer wieder zum Schreiben geführt haben und von denen man meint, sie seien erschöpft. Ist es möglich, durch das Schreiben neue Erinnerungen zu entdecken und auch herzustellen? Und das ist ein Prinzip bei diesem Buch gewesen. Also keine Bestandsaufnahme, kein Abgesang, sondern ein Überprüfen dessen, was schon gesagt ist. Man sagt es noch mal, man wiederholt sich und zwar ganz bewusst. Aber der Akt der Wiederholung ist für mich zugleich eine Art von Neuentdeckung. Das finde ich oft ganz abenteuerlich in der Wiederholung zu sehen, dass es gar keine Wiederholung gibt. Man schreibt ja nicht denselben Satz noch einmal. Man nimmt nur ein Motiv, einen Impuls wieder vor und sieht, ins Licht gerückt, dass sich auf einmal etwas ganz Anderes damit verbindet. Eine neue Sprechweise, ein neuer Satz. Jeder Satz ist immer wieder ein neuer Satz."

    "Es beginnt zu dämmern. Es ist der Abend oder es ist der Morgen."

    Nach einem Journalroman und nach Journalgeschichten nun Journalsätze. "Im Radio das Meer". Es kann das Meeresrauschen sein, das im Radio wiedergegeben wird, es kann auch das Rauschen der Radiowellen sein, wenn man keinen Sender finden kann. Ungeduldige Leser werden diesen kargen Sätzen vermutlich nicht viel abgewinnen können. Geduldige Leser aber werden den Reichtum, der sich hinter ihnen verbirgt, entdecken und ihn anreichern mit dem, was sie schon mitgebracht haben. Und sie werden bemerken, dass dieses Buch nicht unstrukturiert ist, die Motive kommen und gehen wie die Wellen des Meeres.

    Ich empfehle das Buch von Anfang an zu lesen, nicht nur darin herumzublättern. Das kann man auch machen, aber man sollte es anfangen wie man einen Roman anfängt. Dann gerät man natürlich sehr schnell in dieses Delta hinein, in die vielen Abzweigungen und Nebenlinien. Das ist nicht gemacht, um den Leser zu verwirren, sondern um diesen ganzen Kosmos zu zeigen, der hier aus einzelnen Sätzen besteht und sich dann doch wieder reduzieren lässt auf ein paar Lebenslinien, ein paar historische Erfahrungen, einen Haufen Banalitäten. Auf all das, was eigentlich mein Leben ist.

    "Der Feldweg endete im Acker. Wir gingen weiter bis der Feldweg wieder anfing. Für den Rückweg suchten wir einen anderen Weg. Vergeblich, aber wir wussten, es gibt einen anderen Weg."

    Jürgen Becker: "Im Radio das Meer. Journalsätze " Suhrkamp Verlag, Berlin 2009, 244 Seiten, 19, 80 Euro