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"Dieses Album ist meine Schutzhülle"

Die US-amerikanische Indie-Rock-Band Polica fiel bislang mit melancholischer und trauriger Musik auf, in der zwei Schlagzeuge spielten und der Autotune-Effekt die Gesangsstimme übermäßig verfremdete. Auf dem neuen Album "Shulamith" hat Sängerin Channy Leaneagh zu neuer und alter Stärke gefunden.

Von Dennis Kastrup | 12.10.2013
    "Dieses Album ist meine Schutzhülle, weil ich mich vorher sehr verletzlich gefühlt habe und sehr schüchtern war. Jetzt bereise ich die ganze Welt und rede mit vielen Menschen. Ich bin seit einem halben Jahr an dem Punkt, dass ich entspanne und einen anderen Weg gehe. Ich singe viele Songs live sogar anders. Ich bin weniger wütend. Da ist auch neues Selbstbewusstsein dabei."

    Es waren schwere Zeiten, die Channy Leaneagh auf dem Debütalbum begleiteten. Sie hatte sich gerade von ihrem damaligen Ehemann getrennt und stand nun als alleinerziehende Mutter da. Immer wieder sang sie verzweifelt in ihren Stücken über den Verlustschmerz und ihre Ängste. Und immer wieder schien sie ihre Stimme dabei hinter Autotune verstecken zu wollen. Das hat sich geändert. Zwar sind immer noch Effekte dabei, aber viel unterschwelliger.

    "Beim Hören des ersten Albums denke ich schon: "Oh, da ist viel zu viel Autotune drauf. Das klingt komisch." Ich schäme mich zwar nicht dafür, verstehe das neue Album aber auch nicht als Rebellion gegen das alte, weil ich das peinlich fand. Ich probiere einfach neue Dinge aus."

    Die Stimme von Leaneagh wagt sich dieses Mal mehr heraus. Das gilt für Vieles auf dem neuen Album. Angefangen bei dem Titel. Er ist eine Referenz an die Verfasserin des Buches "The Dialectic Of Sex: The Case For Feminist Revolution", was auf Deutsch "Frauenbefreiung und sexuelle Revolution" heißt.

    "Die Autorin heißt Shulamith Firestone. Ich sage bei dem Album aber "Shulamyth, weil es mit dem Wort "Myth" irgendwie besser klingt."

    Eine kleine Betonung im Wort selber hat also große Auswirkungen. Sie fügt dem Vornamen die Bedeutung "Myth - Mythos" hinzu. Und genau das ist die Feministin Firestone für Leaneagh geworden, als sie ihre Thesen während der Aufnahmen zum Album verinnerlichte.

    "Nachdem ich das Buch "The Dialectic Of Sex" gelesen hatte, dachte ich: "Das ist genau das, was ich versucht habe zu verstehen!" Und diese Frau hat es verstanden, erklärt und perfekt ausgedrückt. Falls es auf dem Album ein Konzept von Poliça geben sollte, dann passt "The Dialectic Of Sex" genau dazu. Es ist wohl ein Album darüber, eine Frau und ich selber zu sein. Deshalb habe ich es "Shulamith" genannt."

    Die radikalen Thesen der Kanadierin sorgten in den 70er Jahren für Aufregung. Sie wandte sich gegen die allgegenwärtigen Vorstellungen von der Frau in der Familie und forderte eine Befreiung von der traditionellen Rolle. Auch das neue Album von Polica löst sich von alten Strukturen und ist emanzipierter. Bei ihrem Debütalbum konnte Leaneagh nur auf die Beats reagieren, da sie bereits Jahre vorher existierten und eigentlich für andere Rap-Bands komponiert wurden. Ausschussware also. Schlagzeuger und Mitbegründer Ryan Olson hat dieses Mal die Songs zusammen mit Leaneagh speziell für Polica geschrieben.

    "Bei manchen Stücken geht es eher darum, wie ich mich durch sie fühle. Wenn ich mir zum Beispiel Rap-Musik anhöre, ist da etwas Besonderes dabei, ähnlich wie bei Hardcorepunk. Man kann diese Musik zum Beispiel hören, wenn man die Straße entlanggeht und Angst davor hat, verprügelt oder bestohlen zu werden. Mit der Musik im Ohr fühlt man sich unaufhaltsam. Niemand kann einen anfassen. Man ist von diesem harten Schutzschild umgeben."

    Die Stücke auf "Shulamith" sind kantiger und wirken dadurch eben auch kräftiger. Es wird deutlich, wie gut die Musiker ihre Instrumente beherrschen. Sie unterstützen Leaneaghs Stimme mit viel mehr Druck. Vielleicht würde es ihr gefallen, die Songs "brutaler" zu nennen. Visuell hat sie dies längst so akzeptiert. In einem Video zum Album wird sie von ihr selber verprügelt und das Coverfoto zeigt eine Frau von hinten mit roter Farbe auf ihren Schultern und Kopf. Es könnte auch Blut sein.

    "Besonders für eine Frau ist das Leben doch brutal. Eine Frau muss die schmerzhaftesten Situationen durchmachen: Die Geburt eines Kindes oder die monatliche Blutung. Vielleicht muss sie leider auch eine Vergewaltigung ertragen. Das sind alles Dinge, die Frauen sehr oft passieren. Dann ist da eben aber auch noch Tatsache, dass Frauen mit einer Geburt dem Leben das schönste Geschenk überhaupt machen können."