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Dieses reine, unbedingte Ereignis

"Am Zittern meiner Augen" - so schreibt Dante - hätte ein jeder die Liebe kennen lernen können, damals, als er 1274 erstmals seiner Beatrice begegnete. Dichter aller Jahrhunderte vermochten dieses Geschehen jedoch nur zu beschreiben, weil der Donnerschlag des coup de foudre Menschen immer wieder traf, so wie etwa Tolstois Anna Karenina. Auch Goethe skizziert in "Die Leiden des jungen Werthers" jene große Sehnsucht des Liebenden, die das Objekt des Verlangens von der Wirklichkeit narzisstisch abspaltet. Und Rilke hat vor allem in seinen Briefen dieses Innewerden im Augenblick festgehalten, das der dichterischen Intuition voraus geht und sie beflügelt: Dieses reine, unbedingte Ereignis. Eine Lange Nacht über den Augen-Blick des Erkennens und einer nicht endenden Sehnsucht.

Ralf Busse und Bernd Wegener | 04.12.2004
    Francesco Petrarca an Laura:

    "So schwebst du leicht und heiter vor mir her,
    Geliebte, stolz, von Liebe nichts zu wissen.
    Ich folge dir, von Sehnsucht hingerissen.
    - Ach, das Verlangen macht die Umkehr schwer!
    Versklavt gebrochen, ohne Gegenwehr,
    Verrät den Schwachen treulos das Gewissen.
    Ich mühe mich in tausend Finsternissen,
    Ich find die rechte Straße nimmermehr.
    Zum Tode führt die Strasse, die ich schreite.
    Ich weiß es, Laura, doch sie führt zu dir!
    So duld ich, dass die Liebe mich geleite.
    Du, Laura, gleichst des Lorbeers herber Zier:
    Wer, sie verkostend, hoffte zu gesunden,
    Gesundet nicht, er stirbt an seinen Wunden."

    "Warum ziehen wir eine Erzählung von einer unmöglichen Liebe jeder anderen vor?", fragt der französische Essayist und Kulturkritiker Denis de Rougemont und antwortet sogleich: "Weil wir das Brennen lieben, und das Bewusstsein von dem, was in uns brennt."

    "Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorgen geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arm, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmut und Lieblichkeit zu sehn und zu erkennen."
    Johann Wolfgang von Goethe 1771

    "Wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im stillen besitzen," schreibt Goethe später: "So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausgreifen da wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliche(s)."
    Am 16. Junius

    Warum ich dir nicht schreibe? - Fragst du das und bist doch auch der Gelehrten einer. Du solltest raten, dass ich mich wohl befinde, und zwar - kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz näher angeht. Ich habe - ich weiß nicht.

    Dir in der Ordnung zu erzählen, wie's zugegangen ist, dass ich eins der liebenswürdigsten Geschöpfe habe kennen lernen, wird schwer halten. Ich bin vergnügt und glücklich, und also kein guter Historienschreiber.

    Einen Engel! - pfui! Das sagt jeder von der Seinigen, nicht wahr? Und doch bin ich nicht imstande, dir zu sagen, wie sie vollkommen ist, warum sie vollkommen ist; genug, sie hat allen meinen Sinn gefangen genommen.

    So viel Einfalt bei so viel Verstand, so viel Güte bei so viel Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei dem wahren Leben und der Tätigkeit.

    Unsere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angestellt, zu dem ich mich denn auch willig finden ließ. Ich bot einem hiesigen guten, schönen, übrigens unbedeutenden Mädchen die Hand, und es wurde ausgemacht, dass ich eine Kutsche nehmen, mit meiner Tänzerin und ihrer Base nach dem Orte der Lustbarkeit hinausfahren und auf dem Wege Charlotten S. mitnehmen sollte. - "Sie werden ein schönes Frauenzimmer kennen lernen", sagte meine Gesellschafterin, da wir durch den weiten, ausgehauenen Wald nach dem Jagdhause fuhren. - "Nehmen Sie sich in acht", versetzte die Base, "dass Sie sich nicht verlieben!" - "Wieso?" sagte ich. - "Sie ist schon vergeben," antwortete jene, "an einen sehr braven Mann, der weggereist ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen, weil sein Vater gestorben ist, und sich um eine ansehnliche Versorgung zu bewerben". - Die Nachricht war mir ziemlich gleichgültig.

    Die Sonne war noch eine Viertelstunde vom Gebirge, als wir vor dem Hoftore anfuhren. Es war sehr schwül, und die Frauenzimmer äußerten ihre Besorgnis wegen eines Gewitters, das sich in weißgrauen, dumpfichten Wölkchen rings am Horizonte zusammenzuziehen schien. Ich täuschte ihre Furcht mit anmaßlicher Wetterkunde, ob mir gleich selbst zu ahnen anfing, unsere Lustbarkeit werde einen Stoß leiden.

    Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen würde gleich kommen. Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Tür trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. in dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von elf zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid, mit blassroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein Stück nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab's jedem mit solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekünstelt sein "danke!", indem es mit den kleinen Händchen lange in die Höhe gereicht hatte, ehe es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnügt entweder weg sprang, oder nach seinem stillern Charakter gelassen davonging nach dem Hoftore zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen, darin ihre Lotte wegfahren sollte. - "Ich bitte um Vergebung", sagte sie, "dass ich Sie hereinbemühe und die Frauenzimmer warten lasse. Über dem Anziehen und allerlei Bestellungen fürs Haus in meiner Abwesenheit habe ich vergessen, meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben, und sie wollen von niemanden Brot geschnitten haben als von mir".

    Ich machte ihr ein unbedeutendes Kompliment, meine ganze Seele ruhte auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und ich hatte eben Zeit, mich von der Überraschung zu erholen, als sie in die Stube lief, ihre Handschuhe und den Fächer zu holen. Die Kleinen sahen mich in einiger Entfernung so von der Seite an, und ich ging auf das jüngste los, das ein Kind von der glücklichsten Gesichtsbildung war. Es zog sich zurück, als eben Lotte zur Türe herauskam und sagte:"Louis, gib dem Herrn Vetter eine Hand". - das tat der Knabe sehr freimütig, und ich konnte mich nicht enthalten, ihn, ungeachtet seines kleinen Rotznäschens, herzlich zu küssen.
    Weiterlesen: Spiegel Online: Die Leiden des jungen Werther

    Johann W. von Goethe
    Die Leiden des jungen Werther
    2001
    -PATMOS; ALBATROS VERLAG-

    Ulrich Plenzdorf
    Die neuen Leiden des jungen W.
    Bibliothek Suhrkamp

    Die neuen Leiden des jungen W., in dessen Fernseh- und Kinofassung Klaus Hoffmann den jungen Wibeau spielt, avancierte in den 70ern zum Kultfilm. Die Sprache ist frech und witzig und ganz dem Sprachjargon der Siebziger-Jahre-Jugend angepasst. Besonders für die Ostdeutschen spiegelte das Buch von Plenzdorf und die sehr getreue Buchverfilmung Itzenplitzs die Zweifel und die Kritik einer Generation wieder, die gesellschaftlichen Engen, die Zerrissenheit zwischen dem lockeren Leben, Blue-Jeans und Rock'n'roll und dem erwarteten Leistungsstreben des ehemaligen DDR-Alltags. Doch obwohl der Film im Osten Deutschlands spielte, erlangte er auch im Westen - gerade in Kreisen der Studentenbewegung - regelrechten Kultstatus. Und Klaus Hoffmann (damals noch Klaus-Dieter Hoffmann) avancierte ebenfalls zum Kultstar damit. Viele verbinden ihn heute noch mit diesem jungen Edgar Wibeau, der zum großen Teil auch "wie ein Abbild" seiner selbst erscheint. Zumindest in groben Zügen. Dieser "68er-Ede" erreichte eine ganze Generation - in Ost und in West.
    Aus: Inoffizielle Seite zu Klaus Hoffmann
    Homepage von Klaus Hoffmann

    Joachim Wehner
    Die neuesten Leiden des jungen Werthers
    oder das Buch der Missverständnisse
    Novelle
    2001
    -SCHARDT-

    "Als er sich umschaute, wandte sie sich auch gerade um. Die leuchtenden, grauen Augen, die wegen der dichten Wimpern dunkel wirkten, richteten sich freundlich und aufmerksam auf sein Gesicht, als ob sie ihn erkenne, wandten sich dann aber sofort der vorüberströmenden Menge zu, wie wenn sie dort jemanden suchten. In diesem kurzen Blick hatte Wronskij die verhaltende Lebhaftigkeit bemerkt, die auf ihrem Gesicht spielte und zwischen den blitzenden Augen und den roten, leise lächelnden Lippen hin und her huschte. Es war, als sei ihr ganzes Wesen übervoll von Lebenslust, die sich unwillkürlich bald in dem Leuchten der Augen, bald in ihrem Lächeln ausdrückte. Und wenn sie diesen Glanz in ihren Augen absichtlich dämpfte, dann leuchtete er gegen ihren Willen in dem kaum merklichen Lächeln auf."

    Und dies ist der Beginn einer amour fou, genauer: einer amour fatale, denn Anna Karenina, die später ihrem Geliebten zuliebe Mann und Kind verlassen wird, sucht am Ende Erlösung, indem sie sich im Bahnhof von Obiralowka vor einen Zug wirft.

    Leo N. Tolstoi
    Anna Karenina
    Diogenes Taschenbücher

    Der "coup de foudre", ausgelöst durch einen ersten, flüchtigen Blickkontakt, bewirkt das spontane Aufflammen einer leidenschaftlichen Zuneigung zwischen zwei Menschen, die sich mehr oder minder zufällig begegnet sind. Individuelle Verstandes- oder Willenskräfte haben nicht die geringste Chance, die plötzliche Flutwelle der Gefühle unter Kontrolle zu bringen.

    Leo N. Tolstoi
    Krieg und Frieden
    Winkler Verlag

    ".... wenn sie ihm in die Augen sah, dann empfand sie mit Schrecken, dass es jene von der Schamhaftigkeit gezogene Grenze, deren Vorhandensein sie im Umgang mit Männern immer so deutlich gespürt hatte, zwischen ihr und ihm gar nicht gab."
    Natascha in "Krieg und Frieden" von Leo N. Tolstoi.

    Søren Aaby Kierkegaard wurde am 5. Mai 1813 in Kopenhagen geboren. Er verbrachte fast sein ganzes Leben in Kopenhagen. Die Intensität seiner Gedanken nahm manche Erkenntnis der Psychoanalyse vorweg. Seine Bedeutung wurde erst im 20. Jahrhundert wirklich gewürdigt. Kierkegaard beeinflußte die Dialektische Theologie und die Existenzphilosophie.
    onlinekunst.de: Søren Aaby Kierkegaard
    Finn Jor
    Sören und Regine
    Kierkegaard und seine unerfüllte Liebe
    2000
    Piper Verlag