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Dieter Hartmann: "Krisen – Kämpfe – Kriege"
Hochrisikospiel zu Lasten der Schwachen

Die Finanzkrise von 2008 wird häufig auf das Versagen einzelner Akteure, auf kriminelle Machenschaften oder auf strukturelle Probleme der Gesamtökonomie zurückgeführt. Dieter Hartmann zufolge ist sie jedoch Ausdruck eines ökonomischen Paradigmenwechsels, der die ungezügelte unternehmerische Kreativität in den Mittelpunkt stellt.

Von Felix Klopotek | 21.12.2015
    Bullenstatue auf der Wallstreet in New York
    Bullenstatue auf der Wallstreet in New York ( imago/Travel-Stock-Image)
    "Wir haben bis heute den Grund für den Zusammenbruch von 2008 und die Finanzkrise nicht begriffen, obwohl er in den Materialien der amerikanischen Zentralbank, der Federal Reserve Board, kurz 'Fed', offen zutage liegt. Aber die hat wohl niemand gelesen."
    So hebt Detlef Hartmann, Rechtsanwalt aus Köln und seit mehr als vierzig Jahren in sozialen Bewegungen aktiv, in seinem neuen Buch "Krisen – Kämpfe – Kriege: Alan Greenspans 'Tsunami'" an. Sein selbstbewusster Anspruch ist also ganz klar: Er hat sie gelesen, die Memoranden und Strategie-Papiere, die Diskussionsprotokolle und gesellschaftlichen Prognosen, die unter der Ägide des Fed-Vorsitzenden Alan Greenspan entstanden sind. Was Hartmann aus ihnen folgern will, ist nichts weniger als ein radikal anderer Blick auf die Finanzkrise von 2008.
    Die wird häufig auf das Versagen einzelner Akteure, auf kriminelle Machenschaften bestimmter Spekulanten zurückgeführt oder andererseits ganz abstrakt auf strukturelle Probleme der Gesamtökonomie bezogen.
    Die Krise als Innovationsmotor
    Detlef Hartmann entdeckt dagegen in der Krise von 2008, die im engen Zusammenhang mit der New-Economy-Krise von 2000 steht, Momente von Innovationsschüben.
    "Das heißt also, die Krise ist kein Durchbruchsmoment, aber im Rahmen dieser Krise werden neue Schübe des Durchbruchs der neuen Technologien entwickelt. Wir haben ja da zuerst, 2000, die großen Unternehmen wie Oracle, Deutschland SAP, dann haben wir danach Salesforce auf dem Cloudsektor, Facebook, Google, die also da ihren Durchbruch zur Weltherrschaft praktisch gemacht haben.
    Wir haben jetzt eine Vielzahl von Start-Ups, sogenannten Unicorns, die also schnell die Milliardengrenze überschreiten und den ganzen App-Sektor abgrasen und so weiter. Das heißt also, wir haben also drei Wellen, in denen die Innovationsoffensive ihren Durchbruch sucht. Immer über Krisen hinweg."
    "Aufgewischt wird später"
    1995 fassten Greenspan und seine Mitarbeiter den Plan, die sich abzeichnenden neuen Informationstechnologien mit nahezu unbegrenzter Liquidität zu versorgen, so haben sie den Spekulationsrausch regelrecht befeuert. Die Devise war, wenn von hundert Unternehmen achtzig untergehen und zwanzig bleiben, haben wir gewonnen. Detlef Hartmann skizziert es so:
    "Greenspan hatte Erfolg, wie wir wissen, gegen zunächst massive Einwände sogar aus dem Kreis seiner Fed-Kollegen. Blase? Natürlich, denn nur so organisiert der Kapitalismus seine epochalen Innovationsoffensiven. Überinvestition von Produktionsmitteln? Selbstverständlich! Denn das aggressive Überschießen, das 'overshooting', ist ihr notwendiger Durchbruchsmodus. Wiederholung der Weltwirtschaftskrise von 1929? Na, wenn schon! Einfach explodieren lassen, aufgewischt werde später! Liquidität aus den unerschöpflichen Reservoirs der Fed könne ja immer nachgeschossen werden, sowas hätte man schließlich auch schon 1929 machen sollen."
    Keynes – neu verstanden
    Diese aggressive Euphorie der Banker fand Hartmann zufolge vor dem Hintergrund einer Neuausrichtung ökonomischen Denkens in amerikanischen Think-Tanks statt. Das orientiert sich nun nicht länger an angeblich rationalen Markt-Teilnehmern, sondern geht vom durchaus irrationalen Verhalten der wirtschaftlichen Akteure aus. Es ist diese Unberechenbarkeit, aus dem sich schöpferisches, innovatives Handeln ergibt. Dazu passend haben die Top-Ökonomen George Akerlof und Robert Shiller ihr Manifest dieser neuen Denkschule "Animal Spirits" genannt.
    "Keynes ist völlig neu verstanden worden. Nicht mehr dieser vulgärökonomische oder wie Robinson gesagt hat: bastardökonomische Keynes der 60er-Jahre, sondern der Keynes der 'Animal Spirits', der menschlichen Bewegkräfte. Darüber hat er ja in dem Treatise von 1936 ausgiebig geschrieben, der unternehmerischen Kräfte, der unternehmerischen Energien. Und er hat ja damals tatsächlich die Krise als Nachlassen der unternehmerischen Energien bezeichnet.
    Das heißt also, es gibt einen neuen Blick auf Keynes, eine neue Vorstellung von Krise und den ganzen Vorgängen, die zur Krise hinleiten. Das gilt dann auch für Greenspan, der sich mehr an Schumpeter orientiert hat und den unternehmerischen Energien, die neue Innovationen schaffen."
    Das Ziel: Disziplinierung der Arbeiterschaft
    Die Entfesselung der unternehmerischen Kräfte richte sich in direkter Folge gegen die sozialen Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter. Damit verleiht Hartmann seinem Buch eine dezidiert politische Richtung. Die Macht des Kapitals, die aus den krisenförmigen Innovationsschüben folgt, ist immer auch eine Macht über andere – eben über die, die Nicht-Kapital sind, die abhängig Beschäftigten. Das schmeckt nach alter Klassenkampfrhetorik, aber Hartmann meint es subtiler.
    "Greenspan hat die Befeuerung der neuen Informationstechnologien mit seinen Kollegen auch unter dem Gesichtspunkt diskutiert, dass die Arbeiterklasse auf Jahre hinaus so einen Schock kriegt, dass sie aus lauter Angst nicht mehr wagt also zu opponieren und hohe Lohnforderungen zu stellen. Das ist so ganz offen diskutiert worden, da gibt's auch gar keinen Zweifel.
    Es geht um die Resistenzen, um die Weigerung am Arbeitsplatz, um Langsamarbeiten, um diese Auseinandersetzung mit den neuen Technologien, es gibt vielfältiges Klassenverhalten am Shop-Floor sozusagen, in der Produktion, das also auch Widersprüche artikuliert. Und es müssen nicht die großen Streiks sein, es gibt in aller Breite also Widerstände, und diese Widerstände wollte man aus dem Weg räumen, und in der Tat, es hat in gewisser Weise geklappt, das Kapital, der Kapitalismus dieser Prägung ist seitdem in der Vorhand."
    Ansätze für eine neue Kritik der politischen Ökonomie
    Detlef Hartmanns »Krisen – Kämpfe – Kriege« kommt ohne marxistische Denkschablonen aus und liefert genau dadurch Ansätze für eine neue Kritik der politischen Ökonomie. Das Buch ist faktengesättigt und hält sich durchgehend an die Äußerungen Greenspans selbst. Der Apologie des unternehmerischen Anarchismus, wie sie von Greenspan über Shiller und Akerlof bis zu Obamas früherem ökonomischen Chef-Berater Lawrence Summers vorgetragen wird, will Hartmann den Anarchismus von unten entgegen setzen, also die Renitenz und Subversion der Subalternen. Es bleibt nicht aus, dass er dabei zu einer Art Gegen-Greenspan wird, zum Chef-Ankläger einer geradezu diabolischen Strategie. Das liegt sicher an dem hochfahrenden Ton, den Hartmann anschlägt. Andererseits vermag er es, die trockenen ökonomischen Daten mit polemischem Biss aufzubereiten.
    Die Schlussfolgerungen liegen auf der Hand: Es ist noch nicht vorbei. Die Krise von 2008 markierte keinen Schlusspunkt der Entwicklung, auch keine Zäsur. Die Ökonomie bleibt ein Hochrisikospiel, das allzu häufig zu Lasten derjenigen ausgeht, die mit ihrer tagtäglichen Arbeit überhaupt erst den Reichtum der Gesellschaft erwirtschaften.